Gewählte Traumata und ihre Auswirkungen auf aktuelle politische/gesellschaftliche Konflikte

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird das Konzept des „gewählten Traumas“ untersucht, das ich 1991 zum ersten Mal als ein bedeutendes ethnisches, nationales oder religiöses Identitätsmerkmal für Großgruppen beschrieben habe. Ein gewähltes Trauma bezieht sich auf das gemeinsame mentale Bild eines sehr traumatischen durch einen Feind herbeigeführten Ereignisses in der oft Jahrhunderte zurückliegenden Geschichte einer Großgruppe. Über viele Generationen hinweg werden ein Individuum, seine Eltern, Großeltern, andere Verwandte und Freunde keine tatsächliche Erinnerung an das Trauma der Vorfahren haben. Das mentale Bild des Traumas der Vorfahren durchläuft eine Veränderung der Funktion. Im Jetzt wird es als ein bedeutendes Symbol wahrgenommen, das die Mitglieder großer Gruppen psychologisch miteinander verbindet. Es wird auch in unterschiedlichem Maße zu einer Quelle einer „Anspruchsideologie“, d. h. dem Gefühl der Mitglieder, dass sie das Recht haben, das wiederzuerlangen, was ihre Vorfahren vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten verloren haben. Eine Aktualisierung des Traumas und ein Aufflammen der damit einhergehenden Emotionen kann zu einem ernsthaften Hindernis für eine friedliche Lösung eines Konflikts mit einer derzeit gegnerischen Großgruppe werden und sogar zu neuen massiven Traumata führen.

Aus dem Englischen von Boris Drenkov