Zusammenfassung
Traumata als seelische Verletzungen sind sowohl erinnerungs- als auch gedächtniskonstitutiv, sofern sie zum Gegenstand individuellen Erinnerns werden. Der Artikel beginnt mit dieser individualpsychologischen Perspektive, um dazu überzugehen, wie solche Erinnerungen als Traumata von sozialen Gruppen tradiert werden. Kollektive Traumata beziehen sich aber nicht nur auf die soziale Tradierung individueller Erinnerungen. Mit dem Holocaust ist der Zusammenhang von extremen Leiderfahrungen und kulturellen Repräsentationsformen zunehmend in den Blick gerückt, vor allem in den Literatur- und Kulturwissenschaften – ein Hinweis auf Narrativität, Medialität und Intentionalität kollektiven Traumas. Das Konzept ist nicht zu trennen von den Debatten um eine globale Erinnerungskultur und um die Gegenüberstellung von Empathie und Identifizierung oder Verantwortlichkeit und Solidarität in Bezug auf kollektive Leiderfahrung. Das konzeptionelle Problem dieses Begriffs – die Gefahr, individualpsychologische und soziologische Kategorien zu verwechseln oder zu verschmelzen – wurde erst mit der sozialtheoretischen Ausarbeitung des cultural trauma-Konzepts durch Jeffrey Alexander und Nachfolgende behoben, womit sich der letzte Abschnitt beschäftigt. Mit ihrem Fokus auf die diskursiven Prozesse zur kollektiven Etablierung einer Trauma-Erzählung statt auf dem traumatischen Ereignis als solchem gelingt es diesen Ansätzen nicht nur, Verdinglichungen hinter sich zu lassen. Sie verweisen außerdem auf die große Nähe der Forschungen zu kulturellen Traumata und zu sozialen Gedächtnissen, die sich nicht zuletzt in gemeinsamen Kategorien wie Selektivität, Konstruktivität, Medialität, Sinn, Ritual sowie Identität und Performativität niederschlägt.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Literatur
Adorno, Theodor W. 1977 [1949]. Kulturkritik und Gesellschaft: Prismen. Ohne Leitbild. In Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, 11–30. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Alexander, Jeffrey C. 2002. On the social construction of moral universals: The ‚Holocaust‘ from war crime to trauma drama. European Journal of Social Theory 5(1): 5–85.
Alexander, Jeffrey C. 2004. Toward a theory of cultural trauma. In Cultural trauma and collective identity, Hrsg. Jeffrey C. Alexander, Ron Eyerman, Bernhard Giesen, Neil J. Smelser, und Piotr Sztompka, 1–30. Berkeley/Los Angeles/London: Cambridge University Press.
Alexander, Jeffrey C., Ron Eyerman, Bernard Giesen, J. Neil, und Smelser und Piotr Sztompka. 2004. Cultural trauma and collective identity. Los Angeles: University of California Press.
Assmann, Aleida. 1998. Stabilisatoren der Erinnerung – Affekt, Symbol, Trauma. In Die dunkle Spur der Vergangenheit, Hrsg. Jörn Rüsen und Jürgen Straub, 131–152. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Assmann, Aleida. 1999a. Ein deutsches Trauma. Die Kollektivschuldthese zwischen Erinnern und Vergessen. Merkur 53(608): 1142–1154.
Assmann, Aleida. 1999b. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck.
Bar-On, Dan. 1993. Die Last des Schweigens. Begegnungen mit Kindern von Nazi-Tätern. Frankfurt a. M.: Campus.
Bar-On, Dan. 1997. Hoffnung bis zu den Enkeln des Holocaust. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.
Bode, Sabine. 2009. Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart: Klett-Cotta.
Bohleber, Werner. 1998. Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewußtsein. In Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Erinnerung und Geschichte. Identität 2, Hrsg. Jörn Rüsen und Jürgen Straub, 256–274. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bronfen, Elisabeth, Birgit R. Erdle, und Sigrid Weigel. 1999. Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Wien: Böhlau.
Bühl, Walter L. 2000. Das kollektive Unbewusste in der postmodernen Gesellschaft. Konstanz: UVK.
Butler, Lisa, Filomena Critelli, und Janice Carello, Hrsg. 2019. Trauma and human rights: Integrating approaches to address human suffering. London: Pallgrave Macmillan.
Dimbath, Oliver, und Michael Heinlein. 2015. Gedächtnissoziologie. Paderborn: utb/Wilhelm Fink.
Dimbath, Oliver, und Anja Kinzler. 2013. Wie sozial sind Gespenster? Wissenssoziologische Untersuchungen zu einem unheimlichen Phänomen. Nebulosa. Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 3(1): 52–62.
Dimbath, Oliver, und Nina Leonhard. 2021. Gedächtnisse der Gewalt und die Gewalten des Gedächtnisses. Zur Einleitung. In Gewaltgedächtnisse. Analysen zur Präsenz vergangener Gewalt, Hrsg. Nina Leonhard und Oliver Dimbath, 1–16. Wiesbaden: Springer VS.
Duden. 1989. Herkunftswörterbuch. Mannheim: Dudenverlag.
Eckstaedt, Anita. 1992. Nationalsozialismus in der „zweiten Generation“. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Eggers, Michael. 2001. Trauma. In Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Hrsg. Nicolas Pethes und Jens Ruchatz, 602–604. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Erll, Astrid. 2017. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler.
Evans, Gareth J., und Mohamed Sahnoun, Hrsg. 2001. The responsibility to protect. Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty. International Development Research Centre (Canada); ebrary, Inc. Ottawa: International Development Research Centre.
Eyerman, Ron. 2004. Cultural trauma: Slavery and the formation of African American identity. In Cultural trauma und collective identity, Hrsg. Jeffrey Alexander, Ron Eyerman, Bernhard Giesen, Neil Smelser, und Piotr Sztompka, 60–111. Berkeley: University of California Press.
Eyerman, Ron. 2019. Memory, trauma, and identity. New York: Palgrave Macmillan.
Eyerman, Ron. 2020. Cultural Trauma and the Transmission of Traumatic Experience. Social Research: An International Quarterly 87:679–705.
Freese, Anne. 2018. Gewalt – Deutung – Selbstoptimierung. Eine Geschichte der posttraumatischen Belastungsstörung seit dem Vietnam-Syndrom. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
Freud, Sigmund. 1982 [1914]. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. In Studienausgabe Ergänzungsband. Schriften zur Behandlungstechnik, Hrsg. Sigmund Freud, 205–215. Frankfurt a. M.: Fischer.
Giesen, Bernhard. 2004. Triumph and Trauma. London: Routledge.
Hacking, Ian. 1996. Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne. München: Carl Hanser Verlag.
Heinlein, Michael. 2011. Das Trauma der deutschen Kriegskinder zwischen nationaler und europäischer Erinnerung: Kritische Anmerkungen zum gegenwärtigen Wandel der Erinnerungskultur. In Narratives of Trauma: Discourses of German Wartime Suffering in National and International Perspective, Hrsg. Helmut Schmitz und Annette Seidel-Arpaci, 111–128. Amsterdam/New York: Rodopi.
Hirsch, Marianne. 2012. The generation of postmemory. Writing and visual culture after the Holocaust. New York: Columbia University Press.
Hirsch, Marianne. 2014. Connective histories in vulnerable times. PMLA-Publications of The Modern Language Association of America 129(3): 330–348.
Kansteiner, Wulf. 2002. Finding meaning in memory: A methodological critique of collective memory studies. History and Theory 41(2): 79–197.
Kansteiner, Wulf. 2004. Genealogy of a category mistake: A critical intellectual history of the cultural trauma metaphor. Rethinking History 8:193–221.
Kettner, Matthias. 1998. Nachträglichkeit. Freuds brisante Erinnerungstheorie. In Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Erinnerung und Geschichte. Identität 2, Hrsg. Jörn Rüsen und Jürgen Straub, 33–69. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kühner, Angela. 2007. Kollektive Traumata. Konzepte, Argumente, Perspektiven. Gießen: Psychosozial Verlag.
Kühner, Angela. 2008. Trauma und kollektives Gedächtnis. Gießen: Psychosozial Verlag.
Lau, Christoph, Peter Wehling, und Oliver Dimbath. 2011. Therapeutisches Vergessen: Auf dem Weg zur Technisierung des Vergessens? In Soziologie des Vergessens. Theoretische Zugänge und empirische Forschungsfelder, Hrsg. Oliver Dimbath und Peter Wehling, 317–338. Konstanz: UVK.
Leonhard, Nina. 2010. Generationenforschung. In Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Hrsg. Christian Gudehus, Ariane Eichenberg, und Harald Welzer, 327–336. Stuttgart/Weimar: Metzler.
Levy, Daniel, und Natan Sznaider. 2005. The politics of commemoration: The Holocaust, memory and trauma. In Handbook of contemporary european social theory, Hrsg. Gerard Delanty, 289–297. London: Routledge.
Levy, Daniel. 2020. Traumatism and the Changing of Temporal Figurations. Social Research: An International Quarterly 87:565–590.
Leys, Ruth. 1994. Traumatic cures: Shell shock, janet, and the question of memory. Critical Inquiry 20(4): 623–662.
Lohre, Matthias. 2021. Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Luehrs-Kaiser, Kai. 2001. Nietzsche, Friedrich. In Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Hrsg. Nicolas Pethes und Jens Ruchatz, 419–421. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Lux, Vanessa. 2017. Kulturen der Epigenetik. In Epigenetik. Implikationen für die Lebens- und Geisteswissenschaften, Hrsg. Jörn Walter und Anja Hümpel, 135–157. Baden-Baden: Nomos.
Nietzsche, Friedrich. 2013 [1887]. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In Philosophische Werke in sechs Bänden, Hrsg. Claus-Artur Scheier, Bd. 6, 1–168. Hamburg: Meiner.
Olick, Jeffrey K. 1999. Collective memory: The two cultures. Sociological Theory 17(3): 333–348.
Rauer, Valentin. 2006. Symbols in action: Willy Brandt’s Kneefall at the Warsaw Memorial. In Social performance: Symbolic action, cultural pragmatics, and ritual, Hrsg. Jeffrey C. Alexander et al., 257–282. Cambridge: Cambridge University Press.
Rosenthal, Gabriele, Hrsg. 1997. Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Rothberg, Michael. 2000. Traumatic realism. The demands of Holocaust representation. Minnesota: University of Minnesota Press.
Rothberg, Michael. 2022 [engl. Orig. 2009]. Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Schott, Heinz. 2009. Psychological trauma form the perspective of medical history: From Paracelsus to Freud. Poiesis & Praxis 6:191–202.
Sebald, Gerd. 2014. Generalisierung und Sinn. Überlegungen zur Formierung sozialer Gedächtnisse und des Sozialen. Konstanz: UVK.
Seegers, Lu. 2013. „Vati blieb im Krieg“. Vaterlosigkeit als generationelle Erfahrung im 20. Jahrhundert – Deutschland und Polen. Göttingen: Wallstein Verlag.
Seidler, Günter H., und Wolfgang U. Eckart, Hrsg. 2005. Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Simko, Christina, und Jeffrey K. Olick. 2020. Between trauma and tragedy. Social Research: An International Quarterly 87(3): 651–676.
Straub, Jürgen. 2001. Transgenerationelle Tradierung. In Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Hrsg. Nicolas Pethes und Jens Ruchatz, 419–421. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Timmermann-Levanas, Andreas, und Andrea Richter. 2010. Die reden – Wir sterben. Wie unsere Soldaten zu Opfern der deutschen Politik werden. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Visser, Irene. 2011. Trauma theory and postcolonial literary studies. Journal of Postcolonial Writing 47(3): 270–282.
Welzer, Harald. 2002. Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck.
Wirth, Hans-Jürgen. 2007. Sozial-Charakter, kulturelles Gedächtnis und kollektives Trauma. In Spuren des Subjekts. Positionen psychoanalytischer Sozialpsychologie, Hrsg. Hans-Joachim Busch, 134–168. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2023 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Berek, M., Dimbath, O., Leonhard, N., Rauer, V. (2023). Trauma. In: Sebald, G., et al. Handbuch Sozialwissenschaftliche Gedächtnisforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-26556-4_107
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-26556-4_107
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-26555-7
Online ISBN: 978-3-658-26556-4
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)