Zusammenfassung
Ein sozialethischer Zugang zeichnet sich dadurch aus, dass er Moral grundsätzlich als ein Phänomen sozialer Beziehungen versteht. Sozialethik, wie sie im Kontext der evangelischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt wurde, versteht sich insbesondere als ethische Reflexion gesellschaftlicher Institutionen und der durch sie realisierten moralischen Güter und der in ihnen Geltung beanspruchenden moralischen Pflichten, die in diesem Beitrag als Ergebnis menschlicher Vergesellschaftungsprozesse gedeutet werden. Entsprechend wird im Folgenden das Pflege- und Gesundheitssystem als diejenigen Institution verstanden, die durch den Schutz der Gesundheit dazu beiträgt, dass Menschen möglichst weitgehend als freie Personen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Dadurch realisiert es zentrale gesellschaftliche solidarische Schutz- und Wohltunspflichten und trägt sowohl zur Realisierung der Sicherheit als auch der individuellen Freiheit der Personen in der Gesellschaft bei. Anhand von drei Fragestellungen (professionelle Pflege und familiäre Unterstützung, Pflegeeinrichtungen als totale Institutionen, Pflege und ökonomische Interessen) werden exemplarisch die daraus resultierenden Spannungen und ethischen Abwägungsprozesse herausgearbeitet, die auf der grundlegenden Spannung zwischen solidarischen Schutz- und Wohltunspflichten einerseits und der Ermöglichung von individueller, freier Lebensführung durch Institutionen andererseits zurückzuführen sind.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Literatur
Barth K (1993) Jesus Christus und die soziale Bewegung. In: Steovesand H (Hrsg) Karl Barth – Vorträge und kleinere Arbeiten 1909–1914. TVZ, Zürich, S 380–409
Beauchamp TL, Childress JF (2019) Principles of biomedical ethics, 8. Aufl. Oxford University Press, Oxford
Betzler M, Bleisch B (Hrsg) (2015) Familiäre Pflichten. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Bode I (2013) Ökonomisierung in der Pflege – was ist das und was steckt dahinter. In: Divergentes Altern (Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften 48). Argument, Hamburg, S 9–27
Brandenburg H, Güther H (2014) Lebensqualität und Demenz – theoretische, methodische und praktische Aspekte. In: Coors M, Kumlehn H (Hrsg) Lebensqualität im Alter: Gerontologische und ethische Perspektiven auf Alter und Demenz. Kohlhammer, Stuttgart, S 127–149
Brundstäd F (1957) Gesammelte Aufsätze und kleinere Schriften. (Hrsg von Gerstenmeier E, Schweizer CG). Lutherisches Verlagshaus, Berlin
Bundesministerium für Gesundheit (2013) Bericht des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/Publikationen/Pflege/Berichte/Bericht_Pflegebegriff_RZ_Ansicht.pdf. Zugegriffen am 21.06.2020
Coors M, Jox RJ, in der Schmitten J (Hrsg) (2015) Advance Care Planning: Von der Patientenverfügung zur Gesundheitlichen Vorausplanung. Kohlhammer, Stuttgart
Coors M (2014) Alter und Lebensqualität: Einleitende Beobachtungen zu Spannungsfeldern der ethischen Bewertung. In: Coors M, Kumlehn M (Hrsg) Lebensqualität im Alter: Gerontologische und ethische Perspektiven auf Alter und Demenz. Kohlhammer, Stuttgart, S 9–23
Coors M (2018) Von „Advance Care Planning“ zur „Gesundheitlichen Versorgungsplanung“ – Anfänge, Entwicklungen und Adaptionen eines neuen Konzepts. Z Med Ethik 64:195–211
Coors M (2019) Moralische Diversität: Grenzen und Notwendigkeit moralischer Vielfalt im Gesundheitswesen. In: Steger F (Hrsg) Diversität im Gesundheitswesen, Karl Alber, Freiburg im Breisgau, S 29–45
Dabrock P (2012) Befähigungsgerechtigkeit: Ein Grundkonzept konkreter Ethik in fundamentaltheologischer Perspektive. Unter Mitarb. von Denkhaus R. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh
Dallmann HU, Schiff A (2016) Ethische Orientierung in der Pflege. Mabuse, Frankfurt am Main
Dietz A (2011) Ökonomisierung von Krankenhaustätigkeit – Chancen, Grenzen und Risiken einer marktorientierten Medizin. Ethik Med 23:263–270
Gebert AJ (2000) Das Heim als eine totale Institution: ein Hinweis zur authentischen Qualitätssicherung. Das Heim 71(6):347–351
Gilligan C (1993) In a different voice. Psychological theory and women’s development. Harvard University Press, Cambridge
Goffman E (1961) Asylums: essays on the social situation of mental patients and other inmates. Anchor Books, New York
Graf FW (1995) Sozialethik. Hist Wörterb Philos IX:1134–1138
Gröning K (2014) Entweihung und Scham: Grenzsituationen in der Pflege zwischen Menschen, 6. Aufl. Mabuse, Frankfurt am Main
Güther H, Brandenburg H (2015) Das gute Leben. In: Brandenburg H, Güther H (Hrsg) Lehrbuch Gerontologische Pflege. Hogrefe, Bern, S 77–86
Habermas J (1991) Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Hartmann L, Renom-Guiteras A, Meyer G, Stephan A (2017) Rollenwechsel: Angehörige von Menschen mit Demenz nach Einzug ins Pflegeheim. Pflegezeitschrift 70(9):49–52
Hausmann AO, Schacke C, Zank S (2012) Welche Faktoren beeinflussen den Transfer von der häuslichen in die stationäre Pflege? Psychother Psych 62:36–374
Hebblethwaite B (2000) Sozialethik. Theol Realenzykl 31:497–527
Held V (2006) The ethics of care. Personal, political and global. Oxford University Press, Oxford
Huber A (2019) Wert(er)schöpfung: Die Krise des Pflegeberufs. Nomos, Münster
Huber W (1980) Freiheit und Institution: Überlegungen zu einem Grundproblem der Sozialethik. Evang Theol 40:302–315
Huber W (1999) Evangelische Sozialethik. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd 2. Mohr Siebeck, Tübingen, S 1723–1727
Hobbes T (2012) Leviathan or the matter, forme, & power of a commonwealth ecclesiastical and civil (The Clarendon Edition of the Works of Thomas Hobbes), Bd 4. Oxford University Press, Oxford
Honecker M (1995) Grundriß der Sozialethik. de Gruyter, Berlin/New York
Koch-Straube U (2003) Fremde Welt Pflegeheim: Eine ethnologische Studie. Huber, Bern
Körtner U (2019) Evangelische Sozialethik: Grundlagen und Themenfelder. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Kohlen H (2015) „Care“ und Sorgekultur. In: Brandenburg H, Güther H (Hrsg) Lehrbuch Gerontologische Pflege. Hogrefe, Bern, S 123–129
Korff W (1998) Sozialethik. In: Lexikon der Bioethik, Bd 3. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, S 377–388
Kutter H (1904) Sie müssen. Ein offenes Wort an die Christliche Gesellschaft. Albert Müller, Zürich
Lehmeyer S (2018) Vulnerabilität. In: Riedel A, Linde A-C (Hrsg) Ethische Reflexion in der Pflege: Konzepte – Werte – Phänomene. Springer, Berlin, S 75–S 87
Linde A-C (2018a) Ethik in alltäglichen pflegerischen Situationen erkennen. In: Riedel A, Linde A-C (Hrsg) Ethische Reflexion in der Pflege: Konzepte – Werte – Phänomene. Springer, Berlin, S 55–62
Linde A-C (2018b) Lebensqualität. In: Riedel A, A-Chr L (Hrsg) Ethische Reflexion in der Pflege: Konzepte – Werte – Phänomene. Springer, Berlin, S 65–74
Locke J (2012) The second treatise of Government – Über die Regierung. Reclam, Stuttgart
Maurer A (2015) Dominanz von Markt, Wettbewerb und Kostenoptimierung: Ökonomisierung. In: Brandenburg H, Güther H (Hrsg) Lehrbuch Gerontologische Pflege. Hogrefe, Bern
Mill JS (2018) Über die Freiheit. Übers. v. Lemke B. Reclam, Stuttgart
Miller D (2008) Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Campus, Frankfurt am Main
Moxter M (2020) Stabilisierung von Ordnung durch Repräsentation? Dimensionen einer Institutionenlehre. Z Evang Ethik 64:185–199
Noddings N (2013) Caring. A relational approach to ethics and moral education, 2nd edn. Updated. University of California Press, Berkley
Nussbaum MC (1999) Gerechtigkeit oder das gute Leben. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Nussbaum MC (2000) Women and human development: the capabilities approach. Cambridge University Press, Cambridge
Nussbaum MC (2018) Die Grenzen der Gerechtigkeit: Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit, 2. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Oettingen A v (1873) Die Christliche Sittenlehre: Deductive Entwicklung der Gesetze christlichen Heilslebens im Organismus der Menschheit. Andreas Deichert, Erlangen
Oettingen A v (1874) Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine christliche Socialethik, 2. Aufl. Andreas Deichert, Erlangen
Pöder TA (2016) Solidarische Toleranz: Kreuzestheologie und Sozialethik bei Alexander von Oettingen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Prainsack B, Buyx A (2012) Solidarity in Contemporary Bioethics – towards a new approach. Bioethics 26:343–350
Ragaz L (1907) Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart, 2. Aufl. Verlag von C. F, Lendorf/Basel
Ragaz L (1931) Von der der schweizerischen religiös-sozialen Bewegung zur dialektischen Theologie. In: Wünsch G (Hrsg) Reich Gottes, Marxismus, Nationalsozialismus. Ein Bekenntnis religiöser Sozialisten. Mohr Siebeck, Tübingen, S 1–65
Rawls J (1995) Political liberalism: extended edition. Columbia University Press, New York
Rendtorff T (2011) Ethik: Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, 3. Aufl. Mohr Siebeck, Tübingen
Rich A (1987) Wirtschaftsethik. Bd 1: Grundlagen in theologischer Perspektive. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh
Riedel A, Treff N, Spank J (2018) Exemplarische ethische Dimensionen und Konfliktfelder in der Umsetzung gesundheitlicher Vorausplanungen. In: Riedel A, Linde A-C (Hrsg) Ethische Reflexoin in der Pflege: Konzepte – Werte – Phänomene. Springer, Berlin, S 169–179
Riedel A, Lehmeyer S, A-Chr L, Treff N (2019) Advance Care Planning – Ethische Implikationen und der damit verbundene professionelle Auftrag im Rahmen der gesundheitlichen Versorgungsplanung in der stationären Altenhilfe. In: Riedel A, Lehmeyer S (Hrsg) Ethik im Gesundheitswesen. Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58685-3_85-1
Rousseau JJ (2010) Du contrat social – Vom Gesellschaftsvertrag. Reclam, Stuttgart
Schmitten J in der, Nauck F, Marckmann G (2016) Behandlung im Voraus planen (Advance Care Planning): ein neues Konzept zur Realisierung wirksamer Patientenverfügungen. Z Palliativmed 17(4):177–195
Sen A (2020) Die Idee der Gerechtigkeit, 3. Aufl. dtv, München
Staudacher D (2018) Ökonomie ohne Seele: Aspekte der Ökonomisierung des Sozialen. NovaCura 49(3):9–12
Theobald H (2015) Pluralität gesellschaftlicher Pflegearrengements. In: Brandenburg H, Güther H (Hrsg) Lehrbuch Gerontologische Pflege. Hogrefe, Bern, S 215–229
Tremp U (2016) Die Familie ist ein wichtiger Teil bei der Pflege und Betreuung von Sterbenskranken: Angehörige von Palliative-Care-Patienten sind ebenso Betroffene. CuraViva 88(1):23–24
Tronto J (1993) Moral boundaries. A political argument for an ethics of care. Routledge, London
Wendland HD (1930) Zur Grundlegung der christlichen Sozialethik. Z Syst Theol 7:22–56
Wendland HD (1963) Einführung in die Sozialethik. de Gruyter, Berlin
Wolf E (1988) Sozialethik: Theologische Grundlagen, 3. Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2022 Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Coors, M. (2022). Sozialethische Perspektiven auf das Pflege- und Gesundheitswesen. In: Riedel, A., Lehmeyer, S. (eds) Ethik im Gesundheitswesen. Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit . Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58680-8_15
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-58680-8_15
Published:
Publisher Name: Springer, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-662-58679-2
Online ISBN: 978-3-662-58680-8
eBook Packages: Medicine (German Language)