Zusammenfassung
Kulturgeographie nach dem cultural turn ist immer auch politische Geographie. Ob wir über Natur-Gesellschafts-Verhältnisse, Identitätskonflikte, Sprache, Religion oder Globalisierung sprechen – in all diesen Fällen ist Kultur als ein Produkt von Diskursen zu verstehen. Durch diese Diskurse werden Identitäten und Erfahrungen immer neu ausgehandelt und (re-)interpretiert. Die Neue Kulturgeographie (nach dem cultural turn) betont deshalb Fragen der Macht als eine zentrale Analysekategorie. Macht und Raum bedingen sich gegenseitig: In der räumlichen Anordnung von Dingen zeigen sich auch gesellschaftliche Machtstrukturen. Dies sind genuine Fragen der Politischen Geographie, die sich mit ganz unterschiedlichen Phänomenen der Regelung kollektiven Zusammenseins beschäftigt. Dieses kann friedlich oder gewalttätig, erregt oder kalkuliert, öffentlich oder verdeckt ablaufen. Als politische Phänomene können wir so unterschiedliche Dinge betrachten wie Protestbewegungen, Massendemonstrationen, politische Parteien, das Parlament, Regierungen, politische Kompromisse, Versammlungen von Politikern und Politikerinnen sowie Regierungsverantwortlichen, aber auch Bürgerkriege, geopolitische Machtkämpfe, Fragen globaler Umweltpolitik oder Menschenrechte.
Die zeitgenössische Kulturgeographie setzt sich mit dem „Blick auf die Welt“ sowie den alltäglichen Praktiken der Menschen auseinander, mit den dahinterliegenden Normen und Werten, den jeweiligen Artefakten, der materiellen Dimension der gebauten Umwelt und damit Orten und räumlichen Strukturen. Diese werden kulturell mit Bedeutungen aufgeladen und zeigen eine Symbolik, die dann jeweils interpretiert wird. Das deutsche Wort „Weltanschauung“ umreißt im weitesten Sinne das Thema der Kulturgeographie: Wie sehen wir die Welt, wie und unter wessen Einfluss lernen wir die Welt zu sehen, wie sehen wir uns und andere in dieser Welt? Und wie nutzen wir die Welt entsprechend unserer Sichtweise? Solche Weltanschauungen haben immer auch einen politischen und normativen Kern – das Sehen auf die Welt ist von kognitiven Schemata, sozialen Normen und politischen Diskursen geprägt. Einem solchen Konzept von Kulturgeographie liegt eine konstruktivistische Perspektive zugrunde, also die Annahme, dass wir unsere materielle und immaterielle Umwelt so sehen, wie wir sie zu sehen gelernt haben. Die Gesamtheit aller bedeutungsgebenden Prozesse in einer Gesellschaft zu erforschen, ist das Konzept der Neuen Kulturgeographie, die sich von traditionellen kulturgeographischen Fragestellungen wesentlich unterscheidet. Darüber hinaus wird aber auch wieder über eine „Rematerialisierung“ der Kulturgeographie nachgedacht. Dabei soll die symbolische Dimension wieder stärker mit der materiellen verschränkt werden.
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