Zusammenfassung
Trotz der großzügigen Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge seit Februar 2022, werden Asylsuchende aus dem globalen Süden an den EU-Außengrenzen nach wie vor mit aller Härte abgewehrt. Der Beitrag fokussiert Normbrüche in der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, die im Schatten des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine unvermindert weitergehen. Dafür verantwortlich sind primär die EU-Mitgliedstaaten, die durch illegale push-backs und andere Regelverstöße die Identität der Europäischen Union als Wertegemeinschaft beschädigen. Die zivilgesellschaftliche Flüchtlingshilfe stemmt sich dem nicht erst seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 entgegen, ihre Handlungsspielräume werden seitdem jedoch durch Kriminalisierung, Einschüchterung und diskursive Delegitimierung zunehmend eingeschränkt. Die Zivilgesellschaft der Europäischen Union ist zu schwach, um einen Wandel hin zu einer rechtlich gebundenen und humanitären europäischen Asyl- und Migrationspolitik bewirken zu können.
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Notes
- 1.
Der Diskurs über Flucht und Migration ist nicht frei von impliziten Wertungen. Problematisch ist in diesem Kontext beispielsweise die Bezeichnung ankommender Menschen, bevor sie einen rechtlichen Status zugewiesen bekommen. In diesem Beitrag werden für diese Menschen Begriffe wie „Flüchtling“, „Geflüchtete“ oder „Schutzsuchende“ synonym verwendet und wertfrei unter dem Oberbegriff der Migration subsumiert. Für eine grundlegende Kritik an der etablierten Terminologie in der Asyl- und Migrationspolitik vgl. Parastouri (2017).
- 2.
Im Verlauf des Jahres 2015 wurden allein in Deutschland nach Auskunft des BAMF 441.899 Asylanträge gestellt, vergleichbar mit dem Jahr 1992, als im Zuge der Balkankriege 438.191 Asylanträge gestellt wurden. Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016).
- 3.
„Zahlreiche Videos dokumentieren, wie Flüchtlinge an den europäischen Außengrenzen zurückgeschickt werden. Das bringt die Brüsseler Kommission in ein Dilemma, denn es ist ein Bruch des EU-Rechts.“ Schröer López und Gantenberg (2021).
- 4.
Angela Merkel reagierte mit ihrer Entscheidung auf eine humanitäre Ausnahmesituation in Budapest, die von der ungarischen Regierung als Abschreckungsmaßnahme bewusst provoziert worden war. Für die Hintergründe vgl. Kasparek und Speer (2015).
- 5.
Von mangelnder Solidarität zeugt allein schon das Dubliner Übereinkommen, demzufolge derjenige Staat für eine/n Schutzsuchende/n zuständig ist, in dem die Person die EU erstmals betreten hat. Obwohl dieses Abkommen die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen seit Jahren belastet, wurde es zwar oft, aber nie grundlegend reformiert. Vgl. Jacobsen (2017).
- 6.
Gegen das Prinzip der Solidarität nach außen verstößt u. a. die Tatsache, dass Asylanträge in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Bewilligungswahrscheinlichkeiten haben: „Im Jahr 2016 lag die Aussicht darauf [auf einen positiven Bescheid] für eine/einen afghanische/n Asylsuchende/n in Bulgarien bei nur 1,7 %. In Italien lag sie bei 97 %.“ (Trauner 2020).
- 7.
Die AEMR ist eine von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 erlassene Resolution. Ohne rechtlich bindend zu sein, hat sie völkerrechtliche Normen gesetzt. „Die Allgemeine Erklärung räumt allerdings keinen Rechtsanspruch auf Asyl ein, … sondern nur das Recht, Asyl zu suchen und zu genießen, wenn es von einem Staat gewährt wird.“ (Human Rights Watch 16.09.2020).
- 8.
Die Euro-Mediterranen Beziehungen stehen seit über 30 Jahren im Fokus meiner Forschung, auch in Kooperation mit Gisela Müller-Brandeck-Bocquet. Vgl. u. a. Jünemann (2000).
- 9.
- 10.
Zur Versicherheitlichung von Flucht und Migration gibt es eine Fülle an Literatur. Hier sei stellvertretend für viele auf Funke, Simon und Fritzsche verwiesen.
- 11.
Die Willkommenskultur für ukrainische Geflüchtete in der EU ist vor allem dem politischen und rechtlichen Kontext geschuldet. Russlands Angriffskrieg wird als Krieg gegen ganz Europa wahrgenommen und die Ukraine genießt als demokratisches Transformationsland einen besonderen Rechtsstatus (u. a. Visumsfreiheit). Zum anderen erleichtert die kulturelle Nähe zu einem europäischen und christlich geprägten Land die Akzeptanz, sowie die Tatsache, dass vor allem Frauen und Kinder fliehen. Wie nachhaltig die Willkommenskultur für ukrainische Flüchtlinge ist, wird sich jedoch noch zeigen müssen. Erste Brüche sind zumindest im deutschen Diskurs bereits erkennbar, wenn beispielsweise der CDU-Parteichef Friedrich Merz von „Sozialtourismus“ spricht (Zeit Online 2022). Der (noch) offene Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine ist nicht die Regel, sondern Ausnahme einer extrem restriktiven und in Teilen regelwidrigen europäischen Asyl- und Migrationspolitik, gegen die sich die zivilgesellschaftliche Flüchtlingshilfe stemmt.
- 12.
Da die Flucht aus Syrien oder Afghanistan über das Mittelmeer oder die sogenannte Balkanroute mit großen Gefahren für Leib und Leben verbunden ist, sind es vorwiegend junge Männer, die sich diesen Risiken aussetzen. Die meisten von ihnen in der Hoffnung, zurückgebliebene Familienmitglieder später nachholen zu können. Im Unterschied dazu ist die Flucht aus der Ukraine in das benachbarte Polen, nicht zuletzt angesichts offener Grenzen, ein vergleichsweise sicherer Weg, um sich den Gefahren des Krieges zu entziehen, den vor allem Frauen und Kinder nutzen.
- 13.
Flüchtende Frauen entsprechen weitgehend der stereotypen Vorstellung eines passiven und unschuldigen Opfers, weshalb ihnen in den europäischen Aufnahmegesellschaften eher mit Empathie begegnet wird als Männern. Männern – insbesondere in Kombination mit dem bereits seit Jahren versicherheitlichten Islam – wird oft mit großem Misstrauen begegnet, da sie dem zum Feindbild geronnenen Täter-Stereotyp entsprechen. Zur Bedeutung von Feindbildern im europäischen Migrationsdiskurs vgl. Jünemann (2017).
- 14.
Vgl. hierzu Safouane, Fromm und Khan (2021) und ihre Vision eines grundlegend neuen Asyl-Regimes jenseits nationaler Souveränitätsansprüche.
- 15.
„Mit Ausnahme der Neufassung der Anerkennungsrichtlinie ‚die im Januar 2012 in Kraft trat, traten die anderen neu gefassten Rechtsakte erst im Juli 2013 in Kraft (die Eurodac-Verordnung, die Dublin-III-Verordnung, die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen und die Asylverfahrensrichtlinie).“ (Europäisches Parlament 2021).
- 16.
Kooptiert werden Nichtregierungsorganisationen beispielsweise durch Infiltration staatlicher Akteure, und/oder durch die Instrumentalisierung ihres Engagements für gegenläufige staatliche Interessen.
- 17.
Als 2015 Hunderttausende Schutzsuchende nach Deutschland kamen, bildeten sich zahlreiche „Freundeskreise“, um ihnen die Ankunft in Deutschland zu erleichtern. Sie organisierten sich in enger Kooperation mit etablierten Wohlfahrtsorganisationen wie dem Roten Kreuz und der Diakonie, vor allem aber mit den Kommunen, die für die Unterbringung und Integration aller Neuankömmlinge verantwortlich sind. Vgl. Jünemann et al. (2021).
- 18.
Für die methodischen Details dieser Befragung vgl. Jünemann et al. (2021, S. 234 f.).
- 19.
Dieses Zitat stammt aus dem auf Deutsch geführten Interview, das für die Publikation ins Französische übersetzt wurde.
- 20.
Zu Versuchen der Kooptation vgl. kritisch: Fleischmann (2019).
- 21.
Das Misstrauen und Kontrollbedürfnis mag von Fall zu Fall unterschiedlich sein und bedarf noch genauerer empirischer Untersuchungen aus vergleichender Perspektive.
- 22.
- 23.
Vertiefend hierzu Jennifer C. Coston (1998), die neun mögliche Beziehungsformen zwischen Staat und Zivilgesellschaft unterscheidet. Als wichtigstes Kriterium gilt dabei die (graduelle) Akzeptanz von Pluralität.
- 24.
Zum Verhältnis autoritärer Staaten zur Zivilgesellschaft vgl. Jünemann (2003).
- 25.
Zur Bedeutung der restriktiven EU-Asylpolitik für das Geschäftsmodell von Schleppern, vgl. Völkel (2017).
- 26.
Milena Holzgang argumentiert, dass die Unterscheidung zwischen krimineller Schlepperei und humanitärer Fluchthilfe nicht allein am Kriterium der Bereicherung vorgenommen werden kann. Vielmehr betont sie „die Notwendigkeit einer systematischen Neubestimmung der Problematik, für welche das Konzept der Menschenwürde als vielversprechender Ausgangspunkt dienen könnte.“ (Holzgang 2018, S. 193) Vgl. in diesem Kontext auch die Leitlinien des EP für die Mitgliedstaaten, mit denen verhindert werden soll, dass humanitäre Hilfe kriminalisiert wird (Europäisches Parlament 2018).
- 27.
Am 3. Oktober 2013 ertranken nach einer Havarie 366 Flüchtlinge vor der Küste Lampedusas (Zeit Online 2013).
- 28.
Frontex spielt mittlerweile eine wichtige Rolle bei Rückführungen im zentralen Mittelmeer. Dies geht aus gemeinsamen Recherchen des ARD-Magazins Monitor mit „Lighthouse-Report“, dem „Spiegel“ und der Zeitung „Libération“ hervor. Vgl. Shafagh Lagha und Lara Straatman (2021).
- 29.
„By late 2016 at least nine NGOs were operating with the aim of saving lives at the sea in the Mediterranean.“ (Spencer und Delvino 2018, S. 12).
- 30.
Auswirkungen der Regierungsübernahme der Postfaschistin Giorgia Meloni im Oktober 2022 und des damit einhergehenden Comebacks Matteo Salvinis als Minister für nachhaltige Infrastruktur und Mobilität auf die Asyl- und Migrationspolitik bleiben abzuwarten. Zur Resilienz der italienischen Demokratie vgl. (Argenta 2021).
- 31.
Fidesz ist die Abkürzung für Ungarns rechtspopulistischer Regierungspartei „Ungarischer Bürgerbund“. Parteivorsitzender ist Ministerpräsident Viktor Orbán.
- 32.
Empirische Grundlage ist eine Umfrage, die TNS Hoffman im November 2017 im Auftrag des Republikon Instituts durchgeführt hat. Die Stichprobe von 1100 Befragten ist repräsentativ für die ungarische Bevölkerung in Bezug auf Geschlecht, Alter, Siedlungstyp und höchsten Bildungsabschluss. Vgl. Mikecz (2020, S. 642–643).
- 33.
PIS ist die Abkürzung für die rechts-populistische Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“. Parteivorsitzender ist Jarosław Kaczyński, der bis Oktober 2020 auch Ministerpräsident war.
- 34.
Zu den politischen Hintergründen dieser Krise vgl. Angenendt et al. (2021).
- 35.
Dieses Narrativ findet sich auch in der Kommunikation der EU und anderer Mitgliedstaaten. Vgl. Engelhardt (2021).
- 36.
„The notion of ‚hospitality‘ is not only relevant to the Greek context, but also underlies public, political, and media discourses of immigration and asylum throughout Europe today, in which the refugee, asylum seeker, and migrant are continuously cast in the roles of the (worthy or unwelcome) ‚guest‘ to be accommodated by the (hospitable or inhospitable) ‚host‘ state.“ (Schack und Witcher 2021, S. 480).
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Jünemann, A. (2023). Die Zivilgesellschaft der Europäischen Union im Politikfeld Asyl und Migration: Hoffnungsträger mit begrenztem Handlungsspielraum. In: Gieg, P., Lowinger, T., Pietzko, M., Rüger, C., Scheuermann, M., Zürn, A. (eds) Jenseits der Krisen: Potenziale der europäischen Integration im 21. Jahrhundert. Forschungen zur Europäischen Integration. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-41608-9_10
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Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-41607-2
Online ISBN: 978-3-658-41608-9
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)