Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird die Frage diskutiert, wie durch eine sozialplanerisch fundierte Ressourcensteuerung das „Gießkannenprinzip“ bei der Verteilung finanzieller Mittel für die Integration zugewanderter Menschen durch eine bedarfs- und raumbezogene Ressourcenverteilung ergänzt werden kann. Dabei werden Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsprojekts „Quartierspezifische Potenziale der Integration“ (QuartPoint) thematisiert. Einleitend wird die theoretische Rahmung des Forschungsprojekts vorgestellt. Dabei handelt es sich um das Integrationsmodell von Ager und Strang (Journal of Refugee Studies 21:166–191, 2008). Anschließend werden Forschungsergebnisse Bezug nehmend auf dieses Integrationsmodell diskutiert. Der Beitrag endet mit Überlegungen, wie sich quartierspezifische Integrationspotenziale sozialplanerisch fundiert ermitteln und entwickeln lassen.
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1 Einleitung
„Ich meine, die Herausforderung, die Spaltung der Stadt, wenn man so will. Da jetzt tatsächlich Programme und Ideen zu entwickeln, um zielgenau und auch schnell und wirksam dem entgegenzuwirken, das ist ’ne große Herausforderung.“
Dieses Zitat entstammt einem Interview mit einer Stadtteilarbeiterin, das im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts „Quartierspezifische Potenziale der Integration (QuartPoint)“Footnote 1 geführt wurde. Ausgehend von der u. a. fluchtbedingten Zuwanderung in den letzten Jahren wurden im Rahmen von QuartPoint Integrationspotenziale auf kommunaler Ebene analysiert.
Im Jahr 2015 wurden die bislang höchsten Zuwanderungszahlen nach Deutschland verzeichnet, als es u. a. aufgrund des syrischen Bürgerkrieges zum „langen Sommer der Migration“ (Tsianos & Kasparek, 2015, S. 8) kam. Die gesellschaftliche Debatte um die Integration zugewanderter Menschen war auch vom Leitsatz „Integration findet vor Ort statt“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 2007, S. 19) geprägt.
Diesem Leitsatz liegt die Annahme zugrunde, dass sich im überschaubaren Kontext des Wohnquartiers Beziehungen entwickeln können, durch die zugewanderte Menschen sprachlich, kulturell und sozial an der Aufnahmegesellschaft teilhaben können.
Die Welle der Hilfsbereitschaft und das beeindruckende freiwillige Engagement für zugewanderte Menschen, die im Zuge des „langen Sommers der Migration“ in vielen Kommunen zu beobachten waren, lassen sich „als Teil eines Integrationsprozesses interpretieren, der im unmittelbaren Wohnumfeld beginnt und sich dann Schritt für Schritt in die gesellschaftlichen Teilsysteme, wie den Wohnungsmarkt, das Bildungswesen und die Erwerbsarbeit fortsetzt.“ (Nuissl et al., 2018, S. 1) Das überwältigende freiwillige Engagement für zugewanderte Menschen basierte nicht zuletzt auf quartierbezogenen Netzwerken. Allerdings spielten und spielen sich auch fremdenfeindliche Abschottungstendenzen und Attacken in Wohnquartieren ab, insbesondere in sozial herausgeforderten. Daher widmete sich das Team von QuartPoint folgender Forschungsfrage:
Wie können geflüchtete und zugewanderte Menschen in Quartieren, die unterschiedlich sozial herausgefordert sind, dabei unterstützt werden, sich zu integrieren?
In dem vorliegenden Beitrag wird einleitend eine theoretische Rahmung des Forschungsprojekts vorgestellt. Dabei handelt es sich um das Integrationsmodell von Ager und Strang (2008). Anschließend werden Forschungsergebnisse vorgestellt und Bezug nehmend auf dieses diskutiert. Der Beitrag endet mit Praxishinweisen, wie sich quartierspezifische Integrationspotenziale sozialplanerisch fundiert ermitteln und entwickeln lassen.
2 QuartPoint: Integrationsverständnis
Der Integrationsbegriff wird ebenso inflationär wie semantisch flexibel verwendet. Im deutschsprachigen Raum gibt es keine Definition des Integrationsbegriffs, die in der scientific community als State of the Art anerkannt ist. Stattdessen kursieren unterschiedliche Definitionsangebote (vgl. für einen Überblick Gögercin, 2018). Integration wird in der Politik und in den Medien kontrovers diskutiert, wobei nicht selten die Rede von mangelnden Integrationsleistungen zugewanderter Menschen ist. Im sozialarbeitswissenschaftlichen Diskurs im deutschsprachigen Raum werden unterschiedliche Integrationstheorien und -konzepte verhandelt (vgl. ebd., S. 173).
Im vorliegenden Beitrag werden diese Diskurse nicht aufgearbeitet, sie können im Abschlussbericht von QuartPoint nachgelesen werden (vgl. Nuissl et al., 2019, S. 7 ff.).Footnote 2 Stattdessen soll ein Ergebnis sozialwissenschaftlichen Reflektierens über Integration festgehalten werden: Integration setzt im Allgemeinen, ebenso wie die Integration von zugewanderten Menschen im Besonderen voraus, (möglichst) alle sozialen Gruppen und Institutionen eines Gemeinwesens für diese Aufgabe zu gewinnen (vgl. ebd., S. 7).
Ausgehend von diesem Ergebnis hat das Team von QuartPoint nach Integrationsmodellen gesucht, mit denen sich bei der Analyse von Integrationsprozessen nicht nur der „Integrationsbedarf“ zugewanderter Menschen fokussieren lässt, sondern auch die strukturellen Rahmenbedingungen, durch die Integrationsprozesse ermöglicht werden (vgl. Nuissl et al., 2019, S. 10). Das Integrationsmodell von Alastair Ager und Alison Strang (2004, 2008) erfüllt diesen Anspruch.
Das Modell basiert auf der Beobachtung von Ager und Strang (vgl. 2008, S. 176), wonach die Planung integrationspolitischer Maßnahmen auf nationaler und kommunaler Ebene von unterschiedlichen Bedeutungen erschwert wird, mit denen der Integrationsbegriff verwendet wird. Auf der Grundlage empirischer ErgebnisseFootnote 3 haben die Autor*innen ein Modell entwickelt, mit dem sich reflektieren lässt, was „erfolgreiche“ Integration ausmacht. Im Rahmen der empirischen Untersuchungen sind Ager und Strang u. a. dieser Frage nachgegangen:
„Welche Prozesse vermitteln oder liefern ‚Bindegewebe‘ zwischen den Grundprinzipien der Staatsbürgerschaft und der Rechte einerseits und den öffentlichen Ergebnissen in Sektoren wie Beschäftigung, Wohnen, Bildung und Gesundheit andererseits?“ (Ager & Strang, 2008, S. 177; übersetzt durch M. N.).
Nachfolgend wird dieses Integrationsmodell dargestellt, um anschließend Forschungsergebnisse zu skizzieren, die mit diesem Modell korrespondieren.
2.1 Prämissen des Integrationsmodells von Ager und Strang
Die normative Grundannahme des Integrationsmodells von Ager und Strang (2008) besteht darin, bei der Entwicklung von Integrationsmaßnahmen nicht zwischen sozialen Gruppen, wie etwa geflüchteten und zugewanderten Menschen und Personen, die volle Bürgerrechte genießen, zu unterscheiden. Laut diesem Modell hängt der Erfolg gesellschaftlicher Integration davon ab, ob bzw. inwieweit Menschen am Wohnungsmarkt, am Arbeitsmarkt sowie an Bildungs- und Gesundheitssystemen teilhaben können.
Mit dem Integrationsmodell von Ager und Strang (ebd.) ließ sich eine territoriale bzw. quartierbezogene Engführung der Forschung vermeiden, die dazu führen kann, gesellschaftsstrukturelle Rahmenbedingungen von Integrationsprozessen auszublenden. So wurde im Forschungsprozess nicht nur die kommunale Praxis fokussiert, sondern auch staatsbürgerrechtliche und sozialstrukturelle Aspekte, die die Integration auf lokaler Ebene fördern oder behindern können. Dadurch ließen sich Integrationserwartungen, die sich ausschließlich auf das Verhalten zugewanderter Menschen beziehen, kritisch hinterfragen. Die vier Schlüsselbereiche der Integration in diesem Modell (vgl. Abb. 1) regten dazu an, u. a. die nachfolgend genannten sozialstrukturellen Integrationsbedingungen zu berücksichtigen:
-
1.
Leistungen in und Zugang zu den Bereichen Beschäftigung, Wohnen, Bildung und Gesundheit;
-
2.
Praktiken in Bezug auf Staatsbürgerschaft und Rechte;
-
3.
Prozesse der sozialen Verbindung gruppenintern und zwischen Gruppen innerhalb der Gemeinschaft;
-
4.
strukturelle Hindernisse für eine solche Verbindung in Bezug auf Sprache, Kultur und die lokale Umwelt (vgl. Ager & Strang, 2008, S. 166).
Die vier Schlüsselbereiche bauen aufeinander auf und sensibilisieren für eine Dopplung von Integrationsmaßnahmen. Neben verhältnisbezogenen Maßnahmen (Gewährung bürgerschaftlicher Rechte und Sicherstellung stabiler Lebensverhältnisse) sind nach Ager und Strang (vgl. 2008, S. 166) auch personenbezogene Maßnahmen notwendig. Mit personenbezogenen Maßnahmen können Menschen dabei unterstützt werden, integrationsförderliche Beziehungen (social connections) aufzubauen, um Integrationsschritte (Wohnungsmarkt-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Gesundheitsintegration) zu realisieren.
Diesem Verständnis folgend, ließen sich die strukturellen Rahmenbedingungen von Integrationsprozessen auf kommunaler Ebene analysieren, indem Kommunalpolitiker*innen und Mitarbeiter*innen der Kommunalverwaltung befragt wurden, die für die Wohnungsmarkt-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Gesundheitsintegration zuständig sind. Personenbezogene Maßnahmen wurden beleuchtet, indem quartierbezogen tätige Akteur*innen (Quartiermanager*innen, Mitarbeiter*innen in Begegnungszentren etc.) befragt wurden, die damit befasst sind, Beziehungsbrücken zwischen verschiedenen Gruppen von Bewohner*innen zu bauen und zwischen dem politisch-administrativen System auf kommunaler Ebene und zugewanderten Menschen zu vermitteln.
Nachfolgend werden die Möglichkeiten und Grenzen personen- und verhältnisbezogener Integrationsprozesse Bezug nehmend auf das Integrationsmodell von Ager und Strang (2008) erörtert.
2.2 Integration als wechselseitiger Prozess
Eine erste Annäherung an die Frage, was personen- und verhältnisbezogene Integrationsmaßnahmen auszeichnet, ermöglicht die Definition von Integration, die Ager und Strang entwickelt haben.
„Integration ist ein langfristiger wechselseitiger Veränderungsprozess, der sich sowohl auf die Integrationsbedingungen, als auch auf die tatsächliche Teilnahme von Flüchtlingen an allen Aspekten des Lebens sowie auf das Zugehörigkeitsgefühl und die Zugehörigkeit der Flüchtlinge bezieht.“ (Ager & Strang, 2008, S. 177; übersetzt durch M. N.)
In den Wohnquartieren einer Kommune finden sich unterschiedliche strukturelle und soziale Integrationsbedingungen. Sozialen und strukturellen Integrationsbedingungen wurden von Ager und Strang drei Beziehungsformen zugeordnet, die für die Integration zugewanderter Menschen relevant sind:
„Theoretiker haben zwischen drei verschiedenen Formen sozialer Verbindung unterschieden: soziale Bindungen (mit familiären, conationalen, coreligiösen oder anderen Gruppenformen), soziale Brücken (mit anderen Gemeinschaften) und soziale Verbindungen (mit den Strukturen des Staates). Während diese Konzepte umstritten sind (Portes und Landolt, 1996; Bourdieu, 2000), bieten sie im Kontext der lokalen Integration einen signifikanten Erklärungswert (…).“ (ebd., S. 178; übersetzt durch M. N.)
Damit haben sich Ager und Strang auf die Differenzierung von Sozialkapital nach Woolcock (1998) bezogen: die „brückenschlagende“ (bridging), die „bindende“ (bonding) und die „verbindende“ (linking) Ausprägung des Sozialen Kapitals. Die brückenschlagende Form bezieht ihren Namen aus ihrer Funktion, Brücken zwischen heterogenen sozialen Strukturen bzw. Milieus zu schlagen, während die bindende Form aus den Beziehungen zwischen Individuen innerhalb homogener Gruppen erwächst (vgl. Coleman, 1990, S. 402). Verbindendes Sozialkapital ergibt sich nach Karstedt (2004, S. 60) aus „institutionelle[n] ‚Links‘“ (ebd.) zwischen zugewanderten Menschen und staatlichen Strukturen.
Die ersten beiden Beziehungsformen können als soziale Integrationsvoraussetzungen gelten: Bindendes Sozialkapital ermöglicht es demzufolge zugewanderten und geflüchteten Menschen, kulturelle Praktiken auszutauschen und vertraute Beziehungsmuster aufrechtzuerhalten:
„Eine solche Verbindung spielte eine große Rolle dabei, dass sie sich „niedergelassen“ fühlten. Beispielsweise wiesen einige alleinstehende männliche Flüchtlinge darauf hin, dass es traditionell in der Verantwortung ihrer Familie liege, ihnen eine Frau zu suchen. Ohne Familie waren sie besorgt darüber, wie sie jemals heiraten könnten. Die Herstellung einer Verbindung zu ‚gleich ethnischen Gruppen‘ hat verschiedene Vorteile, die zu einer wirksamen Integration beitragen (…).“ (ebd., S. 178; übersetzt durch M. N.)
Auch gesundheitlich kann sich bindendes Sozialkapital positiv auswirken. Zugewanderte Menschen, denen kein bindendes Sozialkapital zur Verfügung steht, haben ein drei- bis viermal höheres Depressionsrisiko als zugewanderte Menschen, die über ein bindendes Sozialkapital verfügen (vgl. ebd.). Allerdings bergen starke Bindungen die Gefahr, dass sich diese Gruppen ihrer Umwelt gegenüber verschließen. Daher ist es im Sinne der wechselseitigen Integration förderlich, Beziehungsbrücken zwischen zugewanderten und nicht zugewanderten Menschen aufzubauen oder zu stabilisieren:
„Sowohl Flüchtlinge als auch Nichtflüchtlinge diskutierten die Integration im Hinblick auf die Teilnahme von Menschen aus verschiedenen Gruppen an einer Reihe von Aktivitäten. Während der Studie wurde eine Reihe von Beispielen für gemeinsame Aktivitäten ermittelt, darunter Sport, Hochschulunterricht, religiöse Verehrung, Gemeindegruppen und politische Aktivitäten, die alle als Beweis für die Integration begrüßt wurden.“ (ebd., S. 181; übersetzt durch M. N.)
Die dritte Sozialkapitalform stellt eine strukturelle bzw. verhältnisbezogene Voraussetzung für die gesellschaftliche Teilhabe geflüchteter und zugewanderter Menschen dar:
„Soziale Verbindungen beziehen sich auf die Verbindung zwischen Individuen und Strukturen des Staates, wie z. B. Regierungsdienste. Es wurde allgemein anerkannt, dass die besonderen Umstände der Flüchtlinge (mangelnde Vertrautheit mit ihrer Umgebung, kein Sprechen der Sprache usw.) zu Hindernissen führten, die zusätzliche Anstrengungen sowohl der Flüchtlinge als auch der breiteren Gemeinschaft erforderten, wenn ein wirklich gleichberechtigter Zugang zu sozialen Dienstleistungen erreicht werden sollte.“ (ebd.; übersetzt durch M. N.)
Integrationsmaßnahmen erfordern nach Ager und Strang (vgl. ebd.), Menschen dabei zu unterstützen, diese drei Beziehungsformen gleichgewichtig aufzubauen und zu pflegen. Personenbezogene Maßnahmen können dazu dienen, zugewanderte Menschen Gelegenheiten zu verschaffen, bindendes und überbrückendes Sozialkapital aufzubauen. Verhältnisbezogene Maßnahmen sind eine Voraussetzung dafür, dass zugewanderte Menschen soziale Verbindungen mit den Strukturen des Staates aufbauen können.
3 Quartpoint: Forschungsdesign und -ergebnisse
In diesem Abschnitt werden das Forschungsdesign und zentrale Forschungsergebnisse vorgestellt.
3.1 Forschungsdesign
Das Forschungsdesign von QuartPoint ist von zwei methodischen Blickrichtungen gekennzeichnet. Einerseits handelt es sich um einen fallstudienbasierten Forschungszugang. Die Auswahl der Fallstudien folgte dem Prinzip minimaler-maximaler Kontrastierung, um durch einen interkommunalen Vergleich verallgemeinerbare Praxishinweise ableiten zu können. Für die empirischen Analysen wurden drei Fallstudienquartiere in Nordrhein-Westfalen ausgewählt: 1) Altenessen & Karnap in Essen, 2) Hörsterfeld in Essen sowie 3) Altena im Märkischen Kreis. Die Großstadt Essen ist von einer starken sozialräumlichen Segregation gekennzeichnet. Im städtischen Gefüge finden sich sozial herausgeforderte Stadtteile ebenso wie gut situierte Stadtteile. Die Kleinstadt Altena ist im Vergleich dazu eine Industrieregion, die von einer niedrigen Arbeitslosenquote, einem hohen Fachkräftebedarf und einer abnehmenden Bevölkerungsanzahl geprägt ist (vgl. Tab. 1).
Andererseits war das Projekt vom Paradigma der partizipationsorientierten Forschung gekennzeichnet. Akteur*innen, die mit verhältnisbezogenen und personenbezogenen Integrationsmaßnahmen befasst sind, wurden nicht nur befragt. Im Rahmen regelmäßiger Transferveranstaltungen partizipierten sie an der Datenauswertung und -interpretation. Insgesamt wurden fünf Forschungsschritte durchlaufen (vgl. Abb. 2).
Nachfolgend werden ausgewählte Ergebnisse der Strukturdatenanalyse, der Interviews mit Expert*innen und der Transferworkshop (Forschungsschritt vier und fünf) dargestellt.
3.2 Forschungsergebnisse
Um die Ausgangslage in den drei Quartieren hinsichtlich der Bevölkerungszusammensetzung sowie städtebaulicher und demografischer Merkmale zu erfassen und sie mit der gesamtkommunalen Ausgangslage zu vergleichen, wurden sozialstrukturelle Daten ausgewertet.
Die Ausgangssituation in den Fallstudienquartieren im Spiegel relevanter Kennzahlen
Die Daten wurden vom kommunalen Statistikamt der Stadt Essen (2021), dem Landesbetrieb für Information und Technik des Landes Nordrhein-Westfalen (IT-NRW, 2021) und dem Wegweiser Kommune der Bertelsmann Stiftung (2021) bezogen (Tab. 2).Footnote 4
Die Ausgangssituation in der Kleinstadt Altena im Jahr 2015 war stark vom demografischen Wandel geprägt, der zu einem Rückgang der Bevölkerungszahlen führte. Das Schrumpfen der Stadt bewegte den Altenaer Stadtrat 2010 zum Beschluss, mehr geflüchtete Personen aufzunehmen, als die Stadt von der Landesregierung zugewiesen bekommen hat (vgl. Nuissl et al., 2018, S. 81). Die Gestaltung von Integrationsmaßnahmen nimmt in Altena seit 2015 einen immer größeren Raum ein. Dies zeigt sich u. a. in einer personellen Aufstockung in der Kommunalverwaltung oder im Anspruch der interkulturellen Öffnung aller Verwaltungsstellen. Um u. a. mehrsprachige öffentliche Beratungsangebote zu gestalten, ausgrenzende sprachliche Formulierungen in Formularen und Behördenschreiben zu vermeiden und migrantische Akteur*innen in die Gestaltung kommunaler Integrationsstrategien einzubeziehen, wurde eine Stelle im Verwaltungsapparat geschaffen.
Die Stadt Essen gestaltet seit vielen Jahren integrationsfördernde Maßnahmen. Diese konzentrieren sich insbesondere im Essener Norden, in dem der überwiegende Teil der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte lebt. Die Kennzahl „SGB-II-Quote“ deutet drauf hin, dass die nördlichen Bezirke (u. a. Hörsterfeld) der Stadt Essen stärker sozial herausgefordert sind als die südlichen Bezirke (u. a. Altenessen-Karnap) (vgl. Tab. 2 und Noack et al., 2018, S. 36 f.).
Vor diesem Hintergrund wurden in Essen zwei Wohnquartiere als Forschungsstandorte ausgewählt und vergleichend beforscht: In Altenessen-Süd/Karnap wird von der Bevölkerung seit Jahrzehnten eine Verteilungsungerechtigkeit wahrgenommen. Die Einschätzung, dass dem sozial bereits geforderten Essener Norden im Vergleich zu den südlichen Bezirken mehr Integrationsbemühungen abverlangt werden, sorgte für Unmut. Dieser Unmut erreichte Anfang 2016 einen Höhepunkt. Der Ortsverein der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hatte eine Demonstration unter dem Motto „Der Norden ist voll“ organisiert, die letztendlich jedoch wieder abgesagt wurde:
„Bundesweite Aufregung erregte 2016 der ehemalige Essener SPD-Politiker Guido Reil, der aufgrund seiner Kritik an der Flüchtlingspolitik seiner Partei zur AfD [„Alternative für Deutschland“] wechselte. Zuvor war er maßgeblich daran beteiligt gewesen, eine Demonstration unter dem (…) Motto ‚Der Norden ist voll’ zu planen, die dann nach massiver parteiinterner Kritik wieder abgesagt wurde.“ (Nuissl et al., 2019, S. 75)
Die Kritiker*innen der abgesagten Demonstration hoben jedoch hervor, dass Belastungsgrenzen bei der Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte für den Essener Norden bestehen würden und die Gefahr herrschte, dass der soziale Frieden vor Ort bedroht sei.
Im Hörsterfeld wurden Zuwanderung und Migration von den befragten Expert:innen als etwas Alltägliches behandelt. Eine öffentliche Problematisierung des verstärkten Zuzugs von Geflüchteten fand nicht statt. Das Erfahrungswissen, das aus bisherigen Zuzugsbewegungen im Hörsterfeld entstanden ist – etwa im Rahmen der Ankunft sog. „Gastarbeiter*innen“ – wurde von quartierbezogen tätigen Akteur*innen als Ressource für die Gestaltung neuer Integrationsprozesse begriffen und genutzt (vgl. Noack, 2018, S. 700 ff.).
Im zweiten Forschungsschritt wurden durch die Recherche und Analyse von
-
„stadtentwicklungspolitischen und -planerischen Programmen, Konzepten und Studien sowie
-
online zugänglichen Pressemitteilungen und Niederschriften von Beschlüssen der lokalen Parlamente“ (Nuissl et al., 2019, S. 22)
Akteur*innen identifiziert, die mit verhältnis- und mit personenbezogenen Integrationsmaßnahmen befasst waren. Diese Expert*innen wurden gebeten, an den Expert*inneninterviews teilzunehmen.
Verhältnis- und personenbezogene Integrationsmaßnahem in den Fallstudienquartieren
In Tab. 3 sind jene Akteur*innen aufgelistet, die als Interviewpartner*innen gewonnen wurden. Personen, die mit verhältnisbezogenen Integrationsmaßnahmen befasst waren, sind in den grau hinterlegten Zeilen gelistet. Die in den weißen Zeilen genannten Personen sind mit personenbezogenen Integrationsmaßnahmen befasst gewesen. Die Akteur*innen wurden mit einem teilstandardisierten Interviewleitfaden nach der Logik des problemzentrierten Interviews nach Witzel (1985) befragt. Die Transkripte wurden mit der Software „MaxQDa“ einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2002) unterzogen.
Im Folgenden werden die Ergebnisse der zusammenfassenden Inhaltsanalyse beschrieben und mit Ankerbeispielen aus den Interviews illustriert.
Auch an den drei Forschungsstandorten war laut den Befragten im Zuge der Migrationsbewegung 2015 ein beeindruckendes zivilgesellschaftliches Engagement zu beobachten. Es reichte von Sach-, Nahrungsmittel- und Kleiderspenden über die Gewährung von Unterkunft bis hin zu kulturellen Angeboten, privat organisiertem Sprach- oder Religionsunterricht sowie der Einbindung in örtliche Fußballvereine. Diese zivilgesellschaftlich getragenen Integrationsmaßnahmen haben den Aufbau von sozialen Brücken zwischen einheimischen und zugewanderten Personen gefördert.
Dieses Engagement entstand allerdings nicht im ‚luftleeren‘ Raum, sondern baute auf administrativen Integrationspotenzialen auf. Dazu zählt in Essen ein Modell der integrierten Stadt(teil)entwicklung, das von der Stadt als „freiwillige Aufgabe“Footnote 6 kontinuierlich finanziert wird.
In Essen wurde im Kontext der Migrationsbewegungen der letzten Jahre vom Stadtrat zudem ein Integrationskonzept verabschiedet, das die Vorteile von Migration betont, wie etwa wirtschaftliche Potenziale. Dem Konzept liegt die Prämisse zugrunde, dass sowohl zugewanderte Menschen als auch die lokale Wirtschaft von Integrationsmaßnahmen profitieren können (vgl. Nuissl et al., 2018, S. 42 ff.).
Auch Altena verfügt auf zivilgesellschaftlicher Ebene über Integrationspotenziale: Hier ist im Laufe mehrerer Jahre eine personell und infrastrukturell gut ausgestattete Engagementlandschaft entstanden. Dazu gehört etwa die Freiwilligenagentur (vgl. Nuissl et al., 2019, S. 60). Die von der Agentur vermittelten Unterstützungsleistungen freiwillig engagierter Personen reichen von Sprachkursen über Kleiderspenden bis hin zur Organisation von Berufspraktika. Allerdings fehlte der Stadt zum Zeitpunkt der Forschungsarbeiten eine konzeptionell begründete Grundlage für die Migrations- oder Integrationspolitik. Dennoch wurde auch hier Integration als kommunale Aufgabe betrachtet. Seit dem „langen Sommer der Migration“ im Jahr 2015 steht zum einen eine personelle Ressource für Integrationsaufgaben der Stadtverwaltung bereit. Zum anderen wird die interkulturelle Öffnung der Stadtverwaltung forciert, wodurch soziale Verbindungen mit den kommunal abgewickelten Strukturen des Staates begünstigt werden. Weiteres Integrationspotenzial liegt in Altena zudem in der überwiegend dezentralen Unterbringung geflüchteter Menschen (unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus), die u. a. mit privaten Vermieter*innen realisiert werden konnte (vgl. Nuissl et al., 2019, S. 83). Dadurch wurden Beziehungsbrücken zwischen einheimischen Bewohner*innen und zugewanderten Personen begünstigt.
Bei der Umsetzung dieser Integrationsziele wird in beiden Städten ein indikatorengestütztes Sozial(raum)monitoring betrieben. Aus den Forschungsergebnissen geht allerdings auch hervor, dass es nicht ausreichend ist, lediglich sozialstrukturelle Daten raumbezogen auszuwerten. Es ist erkenntnisreicher, raumbezogene Datenanalysen in Bezug zu dem beruflichen Erfahrungswissen von quartierbezogen tätigen Akteur*innen zu setzen. Dazu als Illustration eine Sequenz eines Interviews, das mit einem Mitarbeiter eines Bürgerzentrums in Essen Hörsterfeld geführt wurde:
„Ich sehe mich von meinem Selbstverständnis her so ein bisschen als Mensch vor Ort, am Puls des Stadtteils für meine eigene Verwaltung. Sodass ich mitbekomme, wenn etwas schräg läuft. Wenn etwas schräg läuft, bin ich der Erste hier oben, der etwas davon mitbekommt. Man kann dann auch von dieser Seite gegensteuern.“
Der Mitarbeiter führt weiter aus:
„Also die Geschichte ist doch, dass in unseren Stadtbezirk ja auch schon in der Vergangenheit viele Menschen kamen, und die Menschen, die nun kommen, sind ja nicht die ersten. Es gab ja vor etlichen Jahren schon mal andere Menschen, die auch zu uns kamen. Da waren es ja mehr die Russen und die Russlanddeutschen und so, die hierhin kamen und die sind mittlerweile auch integriert.“
Eine Quartiermanagerin aus Altenessen hob in ähnlicher Weise berufliches Erfahrungswissen, welches sich aus vorangegangenen Integrationsmaßnahmen speist, als quartierspezifisches Integrationspotenzial (qpi) für Altenessen hervor. Sie ergänzte zudem, was benötigt wird, um dieses qpi zu pflegen und zu entfalten:
„Und ja, um zu verhindern, dass es da immer schwieriger wird tatsächlich und immer mehr Problemlagen obendrauf kommen, die diese Ankommensstadtteile zu stemmen haben. Da braucht es einfach andere Konzepte und da kann ich nicht mit der Gießkanne die gleichen Programme fahren, da muss ich halt Schwerpunkte setzen und das ist ’ne große Herausforderung.“
Die Quartiermanagerin hat sich dafür ausgesprochen, das „Gießkannenprinzip“ bei der Ressourcenverteilung für Integrationsmaßnahmen durch die ungleiche Behandlung ungleicher Quartiere zu ersetzen.
Nachfolgend wird diese Idee Bezug nehmend auf einschlägige Fachdebatten erörtert.
4 Ungleiche Quartiere ungleich behandeln?
Die Stadtsoziologie ist sich einig: Die Ursachen quartierspezifische Problemlagen liegen nicht in den Quartieren. Sie resultieren aus Problemen, die gesamtgesellschaftlich verursacht sind (vgl. Aehnelt et al., 2004, S. 36ff). In diesem Zusammenhang wird der Begriff Segregation diskutiert:
„Analytisch wird in der Stadtforschung zumeist zwischen sozialer Segregation aufgrund ökonomischer Kriterien und ethnischer Segregation aufgrund kultureller oder ethnischer Differenzierungen unterschieden, wobei sich beide Phänomene häufig in der städtischen Realität gegenseitig überlagern, da Menschen mit Migrationshintergrund nicht selten statusniederen sozialen Schichten angehören oder diesen zugeordnet werden (…).“ (Klus, 2018, S. 727)
Zu beachten ist, dass zugewanderte Menschen „häufig Wohnstandorte in Quartieren präferieren, in denen bereits Angehörige ihrer eigenen Community leben.“ (ebd.) Dies erscheint mit dem Bedürfnis zugewanderter Menschen und Menschen mit Migrationsgeschichte erklärbar, kulturelle Praktiken auszutauschen und vertraute Beziehungsmuster aufrechtzuerhalten.
Durch quartierbezogene Integrationsmaßnahmen können die Ursachen gesamtgesellschaftlich verursachter Segregationsprozesse nicht behoben werden. Es lassen sich nur zusätzliche Beeinträchtigungen fokussieren, die aus dem Wohnen in einem benachteiligten Quartier entstehen (vgl. Aehnelt et al., 2004, S. 40). In diesem Zusammenhang werden „Exit-Optionen“ – also Möglichkeiten wegzuziehen – als relevant hervorgehoben, damit die Menschen eine Chance haben, in anderen Wohnquartieren Beziehungsbrücken aufzubauen.
Derlei „Exit-Optionen“ lassen sich durch sozialplanerisch entwickelte Modelle kontinuierlicher integrierter Stadt(teil)entwicklung gestalten. Das Wort „kontinuierlich“ muss besonders betont werden. Damit „Exit-Optionen“ geschaffen werden können, ist es günstig, aufsuchende Stadtteilarbeit nicht nur aus zeitlich begrenzt verfügbaren Fördermitteln zu finanzieren, sondern Quartiermanagement dauerhaft zu betreiben. Darauf hat Kurtenbach bereits 2014 hingewiesen. Auf der Grundlage von Forschungsergebnissen zum segregierten Ankunftsstadtteil Köln-Chorweiler spricht er von diesem als „Durchlauferhitzer“, sofern es gelingt, besagte „Exit-Optionen“ kontinuierlich zu gestalten:
„Wenn allerdings die Projektlaufzeit zu kurz ist, kann kaum eine notwendige tragfähige Beziehungsarbeit geleistet werden. (…) Demgegenüber ist zunehmend eine aufsuchende sowie begleitende und damit ressourcenintensive Sozialarbeit, beispielsweise bei Behördengängen und Arztbesuchen gefordert, die derzeitigen Finanzierungsmodellen oft gegenübersteht.“ (Kurtenbach, 2014, S. 179 f.)
Werden Zugewanderte bspw. dabei begleitet,Footnote 7 die Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikationen zu beschleunigen, steigt die Chance, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich dadurch die Mieten in Wohnquartieren leisten zu können, die weniger sozial herausgefordert sind.
Für diese Exit-Option wurde in Altena eine Informationsstelle eingerichtet, bei der sich anerkannte Asylbewerber*innen über die Anerkennung ihrer beruflichen und/oder akademischen Qualifikationen in Deutschland informieren können. Dies versetzt sie in die Lage, sich frühzeitig um gegebenenfalls erforderliche Nachqualifizierungen zu kümmern.
Ein weiteres Beispiel: Um ungleiche Bildungschancen in ungleichen Quartieren auszugleichen, ist es nicht förderlich, wenn alle Schulen in einer Kommune die gleichen Stellenkontingente für Schulsozialarbeiter*innen erhalten. Auf Grundlage datenbasierter Berichte, aus denen hervorgeht, dass in einem „Ankunftsstadtteil“ vermehrt Kinder zugewanderter Menschen eingeschult wurden und weitere Einschulungen aufgrund eines günstigen Mietspiegels zu erwarten sind, kann versucht werden, entsprechende Modifikationen der Personalstellenbemessung beim Landesschulministerium einzufordern.
An diesem Beispiel zeigt sich aber auch, inwiefern Vorsicht bei solchen Forderungen geboten ist. Eine erhöhte Anzahl von Schulkindern anerkannter Asylbewerber*innen stellt per se keine soziale Herausforderung dar. Daher ist es wichtig, Datenanalysen mit dem Erfahrungswissen vor Ort tätiger Akteur*innen zu kontextualisieren.
In Essen hat sich dieser erfahrungsbasierte Kontext selbstständig bemerkbar gemacht: Im Herbst 2017 haben mehrere Essener Schulleiter*innen in einem offenen Brief an Stadt, Land und Politik auf die Missstände an den Schulen im Essener Norden aufmerksam gemacht und zusätzliche Stellen für Lehrkräfte und Sozialarbeiter*innen gefordert (vgl. Niussl et al., 2019, S. 82).
Nachfolgend wird erörtert, wie sich im Rahmen integrierter Sozialplanungen raumbezogene Analysen durchführen lassen, um frühzeitig Hinweise zu erhalten, wie auf ungleiche Teilhabechancen durch ungleiche Ressourcenverteilungen reagiert werden kann.
5 Integrierte und raumbezogene Sozialplanung
Was ist Sozialplanung? In der Definition des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge wird auf integrierte und raumbezogene Sozialplanungen verwiesen:
„Sozialplanung in den Kommunen ist die politisch legitimierte, zielgerichtete Planung zur Beeinflussung der Lebenslagen von Menschen, der Verbesserung ihrer Teilhabechancen sowie zur Entwicklung adressaten- und sozialraumbezogener Dienste, Einrichtungen und Sozialleistungen in definierten geografischen Räumen.“ (DV, 2011, S. 4)
In integrierter und raumbezogener Form lässt sich Sozialplanung als eine Querschnittsaufgabe verstehen, durch die unterschiedliche kommunale Fachplanungen (Jugendhilfeplanung, Altenhilfeplanung etc.) miteinander verknüpft werden. Im Rahmen von Sozialplanungskonferenzen können sich die Fachplaner*innen, die mit sozialen Themen befasst sind, vernetzen und ihre Planungen raumbezogen aufeinander abstimmen.
Dafür ist einerseits die Festlegung gemeinsamer Raumanalyseebenen erforderlich. Nicht selten analysieren die verschiedenen Fachplanungen unterschiedliche planungsräumliche Ebenen: Mal wird auf Stadtteilebene analysiert und geplant, mal auf Bezirksebene.
Zudem ist ein einheitliches Indikatoren-Set erforderlich. Für die Indikatorenauswahl bietet der Capability-Ansatz eine interessante Orientierungshilfe. Als Kriterien für die Einschätzung der Teilhabemöglichkeiten und -fähigkeiten von Menschen benennt Nussbaum (1999) zehn Lebensbereiche, von denen angenommen wird, dass sie eine Schlüsselrolle für die Realisierung von Teilhabechancen einnehmen. Bereits das Fehlen nur einer dieser „Central Capabilities“Footnote 8 geht nach Nussbaum mit einer grundlegenden Einschränkung menschlicher Teilhabe- und Verwirklichungschancen einher. Im Rahmen ämterübergreifender Sozialplanungskonferenzen kann im ersten Schritt eruiert werden, mit welchen Indikatoren das Vorhandensein welcher „Central Capabilities“ ermittelt werden kann und zu welchen dieser Indikatoren Daten verfügbar sind.
Um die Ausprägung der Central Capability „Gesundheit“ zu messen, bieten sich beispielsweise die Indikatoren „Gesundheit von Säuglingen“, „Adipositas“ und „Zahngesundheit“ an, zu denen regelmäßig Daten der kommunalen Gesundheitsämter erhoben werden.
In einem zweiten Schritt können ämterübergreifende Sozialplanungskonferenzen für ein Sozial(raum)monitoring verstetigt werden. Das Monitoring ermöglicht es die Ausprägungen der „Central Capabilities“ quartierbezogen zu analysieren und quartierübergreifend miteinander zu vergleichen. Dadurch können ämterübergreifende Sozialplanungskonferenzen zu Seismografen werden, indem ungleiche medizinische Versorgungsstrukturen, ungleiche Verteilung von Bildungsangeboten, ungleich vorhandene Wohn- und Freizeitmöglichkeiten etc. quartierbezogen analysiert werden.
Damit Quartierbewohner*innen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte nicht zu Planungsobjekten werden, sollten ämterübergreifende Sozialplanungskonferenzen durch partizipative Ansätze flankiert werden. Dafür sind Planungsworkshops in den Wohnquartieren hilfreich, an denen Fachkräfte und Bewohner*innen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte teilnehmen. Mit Symbolkarten können die Teilnehmenden räumliche Ressourcen (kostengünstiger Wohnraum, Begegnungsangebote etc.) und Defizite (kein kostengünstiger Wohnraum verfügbar, fehlende Begegnungsangebote etc.) auf einer hochauflösenden Karte des Wohnquartiers markieren und die gesammelten Informationen an ämterübergreifende Sozialplanungskonferenzen weiterleiten.
6 Fazit
In diesem Beitrag wurden die Möglichkeiten und Grenzen erörtert, auf sozialplanerischer Grundlage verhältnis- und personenbezogene Integrationsmaßnahem zu verknüpfen, um zugewanderte Menschen in Quartieren, die unterschiedlich sozial herausgefordert sind, dabei zu unterstützen, sich zu integrierten.
Die Ursachen sozialer Ungleichheit, die sich im Wohnquartier niederschlagen, lassen sich nicht durch datenbasiert verknüpfte verhältnis- und personenbezogene Integrationsmaßnahmen beheben. Sie können aber dazu beitragen, Integrationshemmnisse zu vermeiden bzw. zu kompensieren, die sich durch das Leben in einem sozial herausgeforderten Wohnquartier ergeben. Dies wird beispielsweise möglich, indem Kommunen bei übergeordneten staatlichen Ebenen Ressourcenzufuhren auf Grundlage datenbasierter Erkenntnisse einfordern. Dadurch lassen sich Lebensverhältnisse so gestalten, dass es zugewanderten Menschen möglich wird, einen gleichberechtigten Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie zu sozialen Dienstleistungen zu erhalten.
Allerdings erfordert der Umgang mit derlei raumbezogenen Analysen Fingerspitzengefühl. Ergebnisse der Quartierforschung zeigen regelmäßig: „Sozial herausgeforderte Wohngebiete“ werden vor allem von außen als solche wahrgenommen. Die dort lebenden Menschen berichten nicht selten von einem funktionierenden Zusammenleben vor Ort. Daher sollten raumbezogene Analysen nicht zur (weiteren) Stigmatisierung des im Fokus stehenden Wohngebietes beitragen. Um die vielfältigen und sich stetig wandelnden Alltagsrealitäten der Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte zu erfassen, ist es unabdingbar ihre Perspektiven auf das Wohnquartier sowie das berufliche Erfahrungswissen quartierbezogen tätiger Fachkräfte in die integrierte Sozialplanung einfließen zu lassen.
Notes
- 1.
Im Jahr 2016 erhielten das geografische Institut der Humboldt-Universität Berlin, die Project Consulting GmbH, Essen (PCG), Prof. Michael Noack von der Hochschule Niederrhein sowie das Institut für Stadtteilentwicklung, Sozialraumorientierte Arbeit und Beratung (ISSAB) der Universität Duisburg-Essen vom Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) den Auftrag, an drei unterschiedlichen Untersuchungsstandorten quartierspezifische Potenziale zu untersuchen, mit denen Integration kommunal befördert werden kann. Aufgrund der „auslaufenden Projektförderung durch das Land ist die Geschäftsstelle des FGW seit dem 31.12.2019 geschlossen“ (FGW, 2020).
- 2.
- 3.
Es wurde eine induktive Methodik angewendet, die folgende Elemente beinhaltet: dokumentarische und konzeptionelle Analyse, Feldforschung in Umgebungen der Flüchtlingssiedlung und Sekundäranalyse von Querschnittserhebungsdaten (vgl. Ager und Strang, 2008, S. 167).
- 4.
Der Begriff „Migrationshintergrund“ wird in der Fachdebatte kritisch diskutiert: „Menschen unterschiedlicher Lebenslagen (die z. B. schulischen oder in einem bestimmten Sozialraum leben) und verschiedener Lebensalter (z. B. Kinder, erwachsene Frauen) werden vor allem auf eine Facette reduziert, nämlich auf ihren ‚Migrationshintergrund‘ und die hiermit verbundenen bewertenden Pauschalzuschreibungen“ (Schramkowski, 2018, S. 46). Zu den Menschen mit Migrationshintergrund (im weiteren Sinn) zählen nach der Definition des Mikrozensus „alle auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ (Statistisches Bundesamt, 2014). Auf der Basis der verfügbaren kommunalstatistischen Datensätze ließ sich für die Fallstudienquartiere nur ermitteln, wie groß der Anteil der Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit an der Gesamtbevölkerung in den untersuchten Quartieren gewesen ist.
- 5.
Das Fallstudienquartier Hörsterfeld liegt im Stadtteil Horst, weswegen in der Tabelle die Daten für diesen Stadtteil herangezogen werden.
- 6.
„Freiwillige Aufgaben sind in Deutschland Aufgaben, die sich die Kommune selbst stellt. Sie bilden das Herzstück der Kommunalpolitik. Hier geht es um Lebensqualität: Beratungsstellen, Museen, Bibliotheken, Jugendeinrichtungen Sportplätze, Freibäder, Freizeitangebote, Tierparks usw. Je knapper das Geld wird, desto mehr geraten gerade diese Leistungen in Bedrängnis.“ (Kommunalpolitisches Forum, 2019).
- 7.
Begleitend im wörtlichen Sinne: z. B. durch das Zurücklegen des Weges vom Wohn- zum Beratungsort.
- 8.
Nach Nussbaum (1999) sind Schutz, Gesundheit, Wohnen und Leben, Bildung, Emotion, Vernunft und Reflexion, Zugehörigkeit, Zusammenleben, Kreativität/Spiel und Erholung, Kontrolle über die eigene Umgebung „Central Capabilities“.
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Noack, M. (2023). Ungleiche Quartiere ungleich behandeln?. In: Oehler, P., Janett, S., Guhl, J., Fabian, C., Michon, B. (eds) Marginalisierung, Stadt und Soziale Arbeit . Quartiersforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37386-3_8
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