1 Einleitung

In vielen Städten Europas, Nord- und Südamerikas organisieren sich Bewohner*innen städtischer Quartiere zunehmend selbst, um ihre eigenen Konzepte und Lösungsansätze für lokale Veränderungen zu entwickeln. In Form von Nachbarschaftsinitiativen und -vereinen fordern sie das Recht auf Mit- und Selbstbestimmung ein und positionieren sich auf der Quartiersebene als Akteur*innen städtischer Entwicklung (Horelli et al., 2015). Die netzwerkartige Selbstorganisation im nachbarschaftlichen Kontext kann neue Formen des Kollektivismus auslösen und zur Schaffung informeller und ad-hoc-basierter Netzwerke zwischen Bewohnenden, stadtteilbezogenen Institutionen, der Verwaltung und Politik führen (Sawhney et al., 2015).

Diese Entwicklung ist im Paradigmenwandel von government zu governance, einem verstärkten Einbezug der lokalen Ebene in städtischen Entwicklungs- und Planungsprozessen sowie einer Reformulierung bestehender Machtverhältnisse und einer Verlagerung der Steuerungshoheit vom Staat hin zu lokalen Akteur*innen zu verorten (de Wilde & Duyvendak, 2016). Dieser Wandel manifestiert sich in europäischen Ländern wie Großbritannien (Lawless et al., 2010), Schweden (Bunar, 2011), Spanien (Pares et al., 2012), Deutschland (Haus & Erling-Klausen, 2011) und den Niederlanden (van Marissing et al., 2006) in stadtpolitischen Programmatiken und wird dort zu einem zentralen Eckpfeiler der Planung und Steuerung von Städten. Quartiere und ihre Bewohnenden werden dabei idealtypisch als „lifeblood of urban renewal“ (Murphy & Cunningham, 2003, S. 107) und als treibende Kraft für das Entstehen sozialer Innovation betrachtet (Moulaert, 2010). Sie stellen Orte des partizipativen Aushandelns, Entscheidens und Umsetzens dar (Tuurnas, 2016). Daran geknüpft ist die Erwartung, dass Bewohnende Expert*innen ihres Wohnquartiers sind, denn als solche, so die These, verfügen sie über lokales Wissen und Netzwerke, tragen dadurch zur Entwicklung lokalspezifischer Konzepte und Lösungen bei und ermöglichen eine hohe Adressierbarkeit der Quartiersbevölkerung und unterstützen damit eine am Gemeinwohl orientierte städtische Entwicklung (Lowndes & Sullivan, 2008). Eine Fokussierung auf Quartiere und Nachbarschaften soll folglich „more vibrant, people-centered urban spaces“ (Sawhney et al., 2015, S. 339) schaffen und eine nachhaltige Stadtentwicklung gewährleisten (für eine kritische Auseinandersetzung siehe Klöti, 2016; Rose, 1996; Wagner, 2013).

Für die raumbezogene Soziale Arbeit ist die zunehmende Selbstorganisation von Bewohnenden in städtischen Quartieren und deren Positionierung als eigenständige Akteur*innen der Stadtentwicklung von zentraler Bedeutung. Die Profession der Sozialen Arbeit ist über unterschiedliche Handlungsfelder und Institutionen wie Stadtteilzentren, Quartierbüros oder der aufsuchenden Sozialen Arbeit in die Planung und Entwicklung von Städten eingewoben. Die Professionellen der Sozialen Arbeit übernehmen dabei vielfältige Aufgaben. Sie regen nachbarschaftliche Vernetzung und Aktivitäten an, fördern das soziale Leben im Quartier und entwickeln bedarfsorientierte Angebote für die Bewohnerschaft. Die Befähigung, Mobilisierung und Ermächtigung der Bewohnenden und die Förderung sozialer Integration und Kohäsion im Quartier sind dabei zentrale Prämissen und Ziele. Eine weitere Aufgabe der Sozialen Arbeit liegt in der Vermittlung und Politisierung (Oehler et al., 2016). Professionelle der Sozialen Arbeit können dabei als Scharnier zwischen Zivilbevölkerung und Politik fungieren und werden dadurch Teil des politischen Aushandlungssystems zivilgesellschaftlicher Interessen, in dem sie Informationen, Entscheidungsmöglichkeiten und Interessen zwischen Akteur*innen artikulieren und vermitteln. Diese Rolle birgt Potenziale, denn insbesondere durch einen kooperativen Handlungsansatz mit selbstorganisierten zivilgesellschaftlichen Initiativen und Vereinen im Quartier können ein hohes Maß an transformativem Potenzial entfacht und Veränderungsprozesse auf der Stadtteilebene gefördert und unterstützt werden (Ledwith & Springett, 2010). Wie dieser kooperative Handlungsansatz gestaltet werden kann und welche Herausforderungen und Chancen sich daraus für die nachbarschaftsbezogenen Initiativen und Vereine sowie für die raumbezogene Soziale Arbeit im Quartier ergeben können, zeigt dieser Beitrag anhand einer qualitativen Forschungsstudie im Berliner Stadtteil Kreuzberg auf.

2 Nachbarschaften machen Stadt – Aktivitäten, Entstehungsfaktoren und Herausforderungen

Bewohner*innen städtischer Quartiere engagieren sich auf vielfältige Weise für ihre Wohnumgebung und Nachbarschaft. Sie begrünen Brachflächen und Abstandsgrün, wandeln ungenutzte Flächen in Gemeinschaftsgärten und Begegnungsräume mit Aufenthaltsqualität, führen Müllaufräumaktionen im öffentlichen Raum durch, installieren selbstgebaute Sitzbänke, veranstalten Straßenfeste, initiieren und beteiligen sich an formalen Planungsverfahren, oder mobilisieren gegen Veränderungen im Quartier und organisieren Widerstand in und mithilfe nachbarschaftsbezogener Netzwerke. Analytisch betrachtet lässt sich dabei unterscheiden zwischen individuellem und kollektivem Engagement, spontanen Aktivitäten und Ad-hoc-Installationen sowie langfristigen und kontinuierlichen Projekten, formellem und informellem Handeln, aber auch den unterschiedlichen Motiven, Zielen, Kooperationsformen und der Reichweite und Wirkmächtigkeit des Engagements von der lokalen bis hin zur städtischen Ebene und darüber hinaus (Foster-Fishman et al., 2007; Lund & Juujärvi, 2018). In der wissenschaftlichen Literatur werden die unterschiedlichen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements auf Quartiersebene gefasst unter den Begriffen „everyday maker“ (Bang & Sorensen, 1999), „everyday fixer“ (Hendriks & Tops, 2005), „everyday urbanism“ (Chatterton & Pickerill, 2010), „participatory urbanism“ (Wortham-Galwin, 2013), „do-it-yourself urbanism“ (Iveson, 2013), „tactical urbanism“ (Lydon & Garcia, 2015), „urban hacking“ and „guerilla urbanism“ (Hou, 2010). Die Begriffe verweisen auf die Alltagsbezogenheit, die Umsetzungsorientierung, die Informalität des Handelns, aber auch das Widerständige, das zivilgesellschaftliches Engagement charakterisieren kann. Sorensen (2009, S. 223) spricht von einer politischen Strategie der Selbstermächtigung durch die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen: „Claiming ownership of the meaning and management of local public spaces is a political strategy of self empowerment by community groups.“

Ob es in einem Stadtteil zu selbstorganisierten Formen zivilgesellschaftlichen Engagements kommt, zum Beispiel in Form von Nachbarschaftsinitiativen und -vereinen, hängt von mehreren Faktoren ab. Als besonders relevant gelten dabei die Wohndauer, das Bestehen sozialer Netzwerke, das Bildungsniveau und die vorhandenen Kompetenzen (Lund & Juujärvi, 2018), die Zufriedenheit mit der Wohnumgebung beziehungsweise der durch lokale Missstände ausgelöste Druck (Conway & Hachen, 2005), das Vorhandensein adäquater Infrastruktur und Services, implizites und explizites Wissen über den Stadtteil, die Identifikation mit dem Stadtteil, das Vorhandensein eines Gemeinschaftsgefühls (Bottini, 2018; Medved, 2016) und die Wahrnehmung der Bewohner*innen, dass Veränderung im eigenen Stadtteil notwendig, möglich und erfolgreich adressierbar ist (Foster-Fishman et al., 2007). Studien verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass auch Stadtteile mit einem ausgeprägten Maß an sozialen Problemlagen und Missständen ein signifikantes Potenzial für die Selbstorganisation lokaler Nachbarschaften haben können (Cook et al., 1997; Leventhal & Brooks-Gunn, 2000).

Den Nachbarschaftsinitiativen und -vereinen stellen sich in ihren Aktivitäten mehrfache Herausforderungen. Moulaert (2010, S. 7) zeigt in seiner Publikation zu zivilgesellschaftlichem Engagement von Quartiersbewohnenden in nord- und südamerikanischen Städten auf, dass „all of them had, from the beginning, to face up to challenges of good organisation and governance, finding resources, networking with peers and other supportive partners. And all of them discovered early on that it would not work if their network did not include partners from ‘elsewhere’, connected to agents and institutions active at higher spatial scales than the local”. Für eine erfolgreiche Entwicklung zivilgesellschaftlichen Engagements ist die Mobilisierung individueller und kollektiver Ressourcen, die Organisationsfähigkeit, die Aktivierung lokaler Netzwerke sowie vertikale und horizontale Kooperationen zentral. Die sozialen Fähigkeiten der Akteur*innen, „the ability to talk and act reflectively, to coordinate and engage in problem solving with all kinds of actors” (de Wilde et al., 2014, S. 3367), deren Maß an Selbstwirksamkeit, „people’s beliefs in their capacity to produce desired results and forestall detrimental ones by their own actions” (Lund & Juujärvi, 2018, S. 757), und ihre relationale Handlungsfähigkeit (Edwards, 2005) spielen dabei eine wichtige Rolle. Nach Horak und Blokland (2012) können Nachbarschaften jedoch nur dann das Versprechen eines Fundaments demokratischen Handelns einlösen, wenn Möglichkeiten geschaffen werden, um solche Fähigkeiten auf der stadtteilbezogenen Ebene zu entwickeln und erfolgreich einzusetzen. Kritik wird in diesem Zusammenhang insbesondere an bestehenden politischen Strukturen, den Kooperationsmöglichkeiten und den Praktiken institutioneller Akteur*innen geäußert. Diese seien oftmals zu unflexibel, bürokratisch und regelhaft und geben nur wenig Handlungsspielraum, um die relationale Handlungsfähigkeit von engagierten Quartiersbewohnenden und die erforderliche Kooperation zwischen Akteur*innen auf unterschiedlichen Ebenen herzustellen (Bartels, 2019; Hendriks & Tops, 2005; Moulaert, 2010). Zivilgesellschaftliches Engagement benötigt jedoch idealerweise ein „multi-faceted setting in which institutional opportunity structures and civic culture recognise each other“ (de Wilde et al., 2014, S. 3368).

3 Die raumbezogene Soziale Arbeit als Kooperationspartnerin von Nachbarschaftsinitiativen und –vereinen

Professionelle der raumbezogenen Sozialen Arbeit sind in die Planung und Entwicklung von Städten eingewoben und stets Teil und Instrument stadtpolitischer Programmatiken (Durose, 2009). In dieser Position können sie Informationen, Entscheidungsmöglichkeiten und Interessen zwischen ungleichen Akteur*innen artikulieren und vermitteln. Gesprochen wird in diesem Zusammenhang auch vom vernetzenden Sozialkapital (linking social capital), „[which] refers to networks and institutionalized relationships among such unequal agents. It takes on a democratic and empowering character where those involved are endeavoring to achieve a mutually agreed beneficial goal (or set of goals) on a basis of mutual respect, trust, and equality of status, despite the manifest inequalities in their respective positions” (Szreter, 2002, S. 579). De Wilde et al. (2014) zeigen in ihrer nationalen Studie zu Nachbarschaftsinitiativen und -vereinen in den Niederlanden auf, dass die aktive Förderung durch soziale Quartierseinrichtungen zentral für die Etablierung und den Erfolg zivilgesellschaftlichen Engagements ist. Ein zentrales Problem sei dabei jedoch die Eingebundenheit der Institutionen, wie beispielsweise Stadtteilzentren oder Quartierbüros, in kompetitive Strukturen und eine leistungsorientierte Kultur, in der es für Misserfolg und Ergebnisoffenheit wenig Platz gibt. Die Unterstützung fokussiert daher oftmals auf kompetente und erfolgreiche Nachbarschaftsinitiativen und -vereine. Das kann eine ungleiche Verteilung von Ressourcen auf der Quartiersebene verschärfen: „community groups are deeply affected by the choices and preferences of local institutions and there is a continuous danger of the less well-educated losing out. […] The degree to which local institutions are subject to performance targets and accountability structures, influences their ability and willingness to support community groups and develop flexible relations with them“ (ebd., S. 3379). Die strukturellen Rahmenbedingungen sind somit ein zentraler Faktor bei der Frage, ob und wie Nachbarschaftsinitiativen und -vereine in einem Stadtteil mit ihren jeweils unterschiedlichen Interessen, Kompetenzen und Ressourcen unterstützt werden können. Auch Drilling et al. (2017) zeigen in ihrer Nachbarschaftsstudie in Berlin auf, dass es fördernde Rahmenbedingungen, Flexibilität, geklärte Zuständigkeiten und professionelle Begleitung und Mediation braucht, damit Professionelle der raumbezogenen Sozialen Arbeit Arbeitsmaxime wie Offenheit und Prozesse der Koproduktion von Stadt(teilen) umsetzen können. Um das transformative Potenzial in der Arbeit mit Nachbarschaftsinitiativen und -vereinen zu nutzen, müssen sie situativ und kontextspezifisch unterschiedliche Rationalitäten verhandeln und zwischen diesen vermitteln können (Newman, 2013). Gesprochen wird von der Notwendigkeit einer „pragmatic improvisation“ (Maynard-Moody & Mosheno, 2003) und einer „situational logic“ (Hendriks & Tops, 2005). Die Ansätze einer raumbezogenen Sozialen Arbeit in Quartieren sollten sich demnach durch eine hohe Offenheit, Flexibilität und Selbstreflexion auszeichnen, vorgefertigte Handlungsansätze eher vermeiden und kontinuierlich reziproke Beziehungen mit den unterschiedlichen Bewohnenden eines Stadtteils aufbauen (Durose et al., 2016). Wesentlich ist zudem die Reaktionsfähigkeit der Institutionen: „Success rests more on institutional efforts to be responsive and to be able to cope with different demands from different types of groups than on the mere presence of institutions“ (de Wilde et al., 2014). Bartels (2019) betont in diesem Zusammenhang den kommunikativen Prozess zwischen den Professionellen auf Stadtteilebene und den Quartiersbewohnenden. Um innovative Praktiken und Veränderungen zu fördern, brauche es „encounters with an open mind“. In der Begegnung und dem kontinuierlichen Dialog können neue Perspektiven, geteilte Visionen und kooperative Handlungen zwischen den vielfältigen Akteur*innen in Quartieren entstehen: „Doing so fosters deeper institutional transformations toward a relational grounding for urban governance“ (ebd., S. 181). Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Schaffung von qualitativ hochwertigen und in den Stadtteil gut eingebundenen Orten, an denen Begegnung, Austausch und Vernetzung informell stattfinden können, sowohl zwischen den Bewohnenden eines Stadtteils als auch zwischen den Bewohnenden und den Professionellen der raumbezogenen Sozialen Arbeit. In diesem Setting können gemeinsame Themen und Anliegen sowie Ressourcen identifiziert und kollektives Handeln und Kooperation entstehen (Medved, 2016).

4 Die Studie „Nachbarschaften als lokales Potenzial städtischer Entwicklung“

Im Folgenden werden Teilergebnisse der qualitativen Studie „Nachbarschaft als lokales Potenzial städtischer Entwicklung“ vorgestellt, die im Zeitraum 10/2017–10/2019 im Berliner Stadtteil Kreuzberg (Planungsraum Urbanstraße) durchgeführt wurde. Der Stadtteil wurde ausgewählt, da er sich durch eine hohe soziokulturelle Diversität der Bewohnenden auszeichnet, über eine hohe Dichte an Einrichtungen der raumbezogenen Sozialen Arbeit verfügt, von sozialen und räumlichen Veränderungen geprägt ist und mehrere Nachbarschaftsinitiativen und -vereine dort aktiv sind. Eine von insgesamt drei Forschungsphasen im Projekt nahm zivilgesellschaftliche Akteur*innen im Quartier (Nachbarschaftsvereine und -initiativen) und Professionelle der raumbezogenen Sozialen Arbeit (Stadtteilzentren, Familienzentren, Mehrgenerationenhäuser, Quartiermanagementbüros, Nachbarschaftstreffpunkt) in den Fokus. Für diese Phase wurden der Untersuchungsraum erweitert und die Planungsräume Chamissokiez und Wrangelkiez im Stadtteil Kreuzberg miteinbezogen.

In qualitativen Interviews (N = 9) wurden Mitglieder von insgesamt vier Nachbarschaftsvereinen und -initiativen zur Entstehungsgeschichte, den Handlungsstrategien, Kooperationsformen und Herausforderungen befragt. Die Studienteilnehmenden hatten ein hohes Bildungsniveau und ein hohes Maß an Kompetenzen und quartiersbezogenem Wissen. Sie lebten seit 15 Jahren oder länger im Stadtteil und hatten teilweise Erfahrung in zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation. Die Professionellen der raumbezogenen Sozialen Arbeit im Stadtteil (N = 9) wurden in qualitativen Interviews zu ihrem Verständnis von Nachbarschaften, ihrem Professionsverständnis, ihren Handlungsstrategien und den Herausforderungen und Rahmenbedingungen ihres professionellen Handelns befragt, wobei eine Komponente auf die selbstorganisierten Nachbarschaftsvereine und -initiativen im Stadtteil fokussierte. Zusätzlich wurde an verschiedenen Aktivitäten und Veranstaltungen teilgenommen, Beobachtungen durchgeführt und informelle Gespräche geführt (wöchentliche Kochabende des Nachbarschaftsvereins, informelle Treffen der Initiativen in Gaststätten, Straßenfeste, gemeinschaftliches Gärtnern im öffentlichen Raum, öffentliche Treffen mit Akteur*innen aus Politik und Verwaltung, Teilnahme an Kursen und Aktivitäten in den sozialen Einrichtungen). Die verschriftlichen Daten wurden in Anlehnung an die Kodierungsverfahren der Grounded Theory nach Charmaz (2008) analysiert.

4.1 Der Untersuchungsraum Berlin Kreuzberg

Die Stadt Berlin ist seit der Wiedervereinigung ab 1989 zunehmend durch soziale und räumliche Restrukturierungsprozesse geprägt. Die stadtpolitischen Maßnahmen sind auf ökonomisches Wachstum ausgerichtet und reorganisieren die Stadt entlang von Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung (Novy & Colomb, 2013). Im internationalen Städtewettbewerb hat sich Berlin nicht als ökonomisches Zentrum etabliert, sondern zu einem Zentrum für die Kreativszene entwickelt, das insbesondere junge Bevölkerungsgruppen anzieht (Arandelovich & Bogunovich, 2013). Berlin gilt derzeit als eine hochdynamische Stadt, gezeichnet durch ein ausgeprägtes Maß an Mobilität, Migration und Diversität. Damit gehen auch Veränderungen am Wohnmarkt einher, die zu Gentrifizierungsprozessen und Polarisierung führen und die Stadt zu einem umkämpften Raum machen.

Die für die Studie selektierten Planungsräume im Berliner Stadtteil Kreuzberg sind zentral gelegen und an die öffentlichen Verkehrsmittel gut angebunden. Die Flächen dienen vor allem dem Wohnen, dem Gemeindebedarf (Schule, Stadtteilzentrum etc.), dem Grün- und Freiraum (Parkanlagen, Friedhöfe etc.) und zu einem geringen Maß dem Gewerbe und der Industrie. Die Erdgeschosszonen der Wohnhäuser werden häufig für lokales Gewerbe genutzt (Spätkaufladen, Friseursalon, Kaffeehaus, Fahrradladen etc.). Zudem besteht ein dichtes Angebot an sozialer Infrastruktur und Einrichtungen. Laut Monitoring Soziale Stadtentwicklung (MSS) 2015 weisen die Planungsräume einen mittleren Status-Index mit einer stabilen Dynamik und eine durchschnittliche soziale Problemdichte auf. Die Bewohnenden schätzen die gute Wohnlage und das Lebensgefühl im Stadtteil. Die Gebiete sind durch gewachsene soziale Beziehungsnetze charakterisiert und es besteht ein ausgeprägter Wunsch, im Stadtteil wohnhaft zu bleiben (Harth et al., 2017). Die Gebiete sind jedoch in starkem Maße von steigenden Mietpreisen, Gentrifizierung, zunehmendem Tourismus und einer Veränderung der Angebotsstrukturen im Freizeitbereich und Einzelhandel betroffen. In diesem Kontext haben sich die in der Studie befragten Bewohner*innen in Form von Nachbarschaftsvereinen und -initiativen in den letzten zehn Jahren selbstorganisiert, um kollektiv zu handeln und geleitet durch ihre jeweiligen Interessen ihre Wohnumgebung mitzugestalten oder sich gegen Veränderungsprozesse im Quartier zu wehren.

4.2 „Wir wollten unabhängig bleiben. Nun sind wir Kooperationspartner.“

Die befragten Nachbarschaftsinitiativen und -vereine unterscheiden sich in ihren Themen, Zielen, Projekten und Aktivitäten (Tab. 1). Gemeinsam sind ihnen jedoch drei Aspekte: 1) die Motivationen der einzelnen Mitglieder zur Gründung oder dem Beitritt der Vereine und Initiativen sind meist vielschichtig. Private und emotionale Motive (z. B. biografische Ereignisse, Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Sicherheit eines sozialen Netzwerks) können sich mit persönlicher Betroffenheit aufgrund von Veränderungsprozessen im Stadtteil (z. B. Verdrängung von Nachbar*innen und lokalem Gewerbe, Intensivierung von Verkehr und Lautstärke, Zunahme des Tourismus), einer Kritik an gesamtstädtischen Verhältnissen und Dynamiken (z. B. Wohnpolitik, Integrationsfragen, Kommerzialisierung des öffentlichen Raums) und der Forderung nach selbstbestimmter Veränderung auf der lokalen Ebene mischen; 2) die Nachbarschaftsvereine und -initiativen verstehen sich als in der Nachbarschaft und dem eigenen Wohngebiet verankert, ihre Projekte und Aktivitäten entstehen stadtteilbezogen und sie nutzen die im Stadtteil bestehenden Netzwerke, Ressourcen, Kompetenzen und das lokale Wissen für die Umsetzung ihrer Ziele; 3) ein wesentlicher Faktor für die gelingende Umsetzung der Aktivitäten und Projekte war die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Akteur*innen auf der lokalen Ebene und darüber hinaus zu kooperieren und die Netzwerke für die jeweiligen Interessen und Ziele zu nutzen.

Tab. 1 Übersicht der befragten Nachbarschaftsvereine und -initiativen

Die Professionellen der Sozialen Arbeit im Stadtteil nahmen in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen vom Entstehungsprozess hin zur Umsetzung der Aktivitäten und Projekte und der Etablierung der Vereine und Initiativen unterschiedliche Funktionen ein. Eine bestand darin, als Ansprechpersonen zugänglich zu sein und die Vereine und Initiativen mit ihrem professionellen Wissen und ihren Kompetenzen in der Organisation und Planung von Projekten und Aktivitäten zu unterstützen. Naomi, die Initiantin eines Vereins, erzählt von der Herausforderung, das erste Straßenfest zu organisieren:

„Das war ein Schock, als wir das organisiert haben. Wir haben nicht gedacht, dass das so viel Arbeit bedeutet. […] Ich bin dann zum Stadtteilzentrum gegangen und dann habe ich gefragt. Er [Leiter der Institution] hat mir ein bisschen was erzählt, Tipps gegeben, denn sie machen auch ein Straßenfest.“ (Naomi, V2).

Das Arbeitsausmaß, der Organisationsaufwand, die Finanzierung, die bürokratischen Prozesse und der zeitliche Planungshorizont waren für den frisch gegründeten Verein und seine Mitglieder unbekannte Komponenten. Einer der Handlungsansätze für die erfolgreiche Umsetzung des Projektes war das aktive Zugehen auf das Stadtteilzentrum und die Nutzung des professionellen Wissens, das Einholen von „Tipps“ des Leiters, der mit seiner Expertise und Erfahrung eine beratende Funktion in der Anfangsphase einnahm. Die Möglichkeit, auf die Einrichtungen der Sozialen Arbeit im Stadtteil zuzugehen und Information oder Unterstützung zu erhalten, war für die Studienteilnehmenden wichtig. Die Unterstützung beschränkte sich dabei nicht auf die beratende Funktion. Weitere Aspekte waren die materielle Unterstützung der Vorhaben (z. B. Bereitstellung von Technik für Veranstaltungen, Produktion von Aushängen, Flyern und Informationsmaterial) und die Nutzung der Räumlichkeiten des Stadtteilzentrums als informeller Ort der Begegnung, der Vernetzung und Kontaktherstellung, als Veranstaltungsort und Arbeitsort.

Als zentrale Herausforderung in der Anfangsphase benannten die Vereine und Initiativen den Zugang und die Kooperationsmöglichkeiten mit Personen aus Verwaltung und Politik. Sei es, die zuständige Ansprechperson zu identifizieren und einen Kontakt herzustellen, die angestrebten Projekte, Aktivitäten und Ziele zu vermitteln und in Folge eine Kooperation herzustellen. Als etablierte Akteur*innen im Stadtteil nahmen die Einrichtungen der Sozialen Arbeit eine brückenbildende Rolle als Vermittlerin ein:

„Das Stadtteilzentrum hatte uns in dem Fall den Kontakt erleichtert. Wir sind mit einer gewissen Hartnäckigkeit erstmal an die Verwaltung herangetreten, weil wir gesagt haben: wenn wir uns um öffentliches Grün da kümmern, dann müssen wir da auch signalisieren, dass wir das machen. […] Und dann merken die schon, dass wir nicht eine Eintagsfliege sind. Aber es war sehr zäh, bis dann mal so eine Kooperation entstanden ist. Und dann hat sie aber auch zwischendrin ganz überraschend schnell funktioniert.“ (Volker, V1).

Volker erzählt von der Herausforderung, von Verwaltungsmitarbeitenden als „Eintagsfliege“ wahrgenommen zu werden. Der Verein hatte im Stadtteil informell mit der Begrünung und Pflege einer öffentlichen Fläche begonnen. Im Laufe des Prozesses erweiterten sie ihre Aktivitäten und Ziele für die öffentliche Fläche und suchten die Unterstützung von und Kooperation mit der Bezirksverwaltung. Um diese Unterstützung zu erhalten (Planung, Finanzierung, Genehmigung, Umsetzung), brauchte es jedoch eine Phase der Profilierung und der Kontinuität. Der Verein musste sich auf die Verwaltung mit einer „gewissen Hartnäckigkeit“ hinzubewegen und zeigen, dass es sich bei dem Engagement nicht um eine „Eintagsfliege“ handelt. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte sich das Projekt zu einer Umgestaltung des Platzes entwickelt (Asphaltierung von Wegen, Montage von Fahrradständern, Installation eines Tiny House als informeller Ort der Begegnung). Der Aufbau solcher Kooperationen stellt einen Lernprozess dar, in dem Wissen über die Rationalitäten und Handlungsstrategien der Verwaltung angeeignet und die Kontakte mit den relevanten Ansprechpersonen aufgebaut werden. Für die Vereine und Initiativen war das meist mit einem hohen Ressourcenaufwand verbunden, sei dies die zeitliche Komponente oder das Erlernen von Kompetenzen. Die Professionellen der Sozialen Arbeit unterstützten solche Prozesse, in dem sie „den Kontakt erleichterten“. Konkret bedeutet das, dass sie den zivilgesellschaftlichen Akteur*innen bei der Identifikation relevanter Akteur*innen halfen, ihnen Zugang zu ihren professionellen Netzwerken verschafften, Wissen teilten und im Bedarfsfall in Verhandlungsprozessen zwischen den Akteur*innen als Mediator*innen tätig waren.

Die Vereine und Initiativen begegneten den Einrichtungen der Sozialen Arbeit jedoch in der Anfangsphase vereinzelt mit Skepsis und Misstrauen. Sie nahmen diese als Dienstleister*innen und „verlängerten Arm“ (Kristin, I4) der Verwaltung und Politik wahr. Diesen standen sie recht kritisch gegenüber, denn schließlich ging es den befragten Personen auch um eine Veränderung bestehender Machtverhältnisse, einer Kritik an gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen und darum, ihr Recht auf Stadt und Selbstbestimmung einzufordern. Hinzu kommt, dass die eigene Unabhängigkeit für die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und ihr Selbstverständnis besonders wichtig war und sie in der Kooperation mit den Einrichtungen der Sozialen Arbeit im Stadtteil eine Gefahr der Vereinnahmung sahen:

„Wir wollten am Anfang unabhängig bleiben. Das war unsere große Angst, dass jemand uns einkassiert. Deswegen gab es auch Disput [im Verein], als ich die Einladung vom Stadtteilzentrum angenommen habe. Sie hatten Angst, dass […] wir unsere Freiheit verlieren […]. Aber mittlerweile ist das Stadtteilzentrum ein Kooperationspartner von uns.“ (Naomi, V2).

„Unabhängig [zu] bleiben“ und nicht die „Freiheit [zu] verlieren“ war für die befragten Vereine und Initiativen wesentlich. Der kontinuierliche Austausch mit den sozialen Einrichtungen im Stadtteil und der Hands-off-Ansatz der Professionellen der Sozialen Arbeit (Unterstützung bei Bedarf und kein Anspruch der Steuerung) trug zur Vertrauensbildung und einer gelingenden Kooperation zwischen den sozialen Einrichtungen und den zivilgesellschaftlichen Akteur*innen bei. Es handelt sich dabei allerdings um einen spannungsgeladenen Prozess, in dem bestehende Machtverhältnisse kontinuierlich verhandelt werden. In den Interviews sprachen die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen wiederholt von der notwendigen „Begegnung auf Augenhöhe“ (Volker, V1), einem „wohlwollenden Umgang“ (Thomas I3) und einer „Vertrauensbasis“ (Astrid I4) in der Kooperation mit anderen Akteur*innen. Darin steckt der Anspruch, als kompetente und legitime Kooperationspartner*innen und als Expert*innen der eigenen Wohnumgebung anerkannt zu werden. Unterschiedliche Formen der Unterstützung, beispielsweise durch kommunale Akteur*innen oder soziale Einrichtungen im Stadtteil, sollten zudem ohne Einflussnahme auf die Selbstständigkeit und Eigenlogik der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen erfolgen und im Idealfall mit möglichst wenig bürokratischem Aufwand verbunden sein.

Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren die befragten zivilgesellschaftlichen Akteur*innen bereits seit mehreren Jahren tätig und wiesen ein hohes Maß an Vernetzung und Kooperation auf. Die raumbezogene Soziale Arbeit stellte dabei mit ihren Einrichtungen im Stadtteil eine wichtige Kooperationspartnerin dar, die bei Bedarf mit Wissen und Erfahrung unterstützte, Kontakte und Netzwerke herstellte, Räumlichkeiten, technische Mittel und Materialen organisierte und zur Verfügung stellte. Zudem wurden gemeinsame Aktionen im Quartier durchgeführt (z. B. Veranstaltungen, formale Beteiligungsverfahren, Kiezspaziergänge zur Bedarfsermittlung) und bedarfsorientierte Angebote entwickelt (z. B. kostenlose Mieterberatung im Stadtteilzentrum). Anders gewendet, die Vereine und Initiativen wurden zu wichtigen Kooperationspartner*innen der sozialen Einrichtungen im Quartier.

4.3 „Nachbarschaft von unten fördern und Kooperationspotenziale erkennen“

Die befragten Professionellen der raumbezogenen Sozialen Arbeit (N = 9) waren in folgenden Institutionen tätig: Stadtteilzentrum, Mehrgenerationenhaus, Familienzentrum, Nachbarschaftstreff, Beratungsstellen und Quartiermanagementbüros. Ihr oftmals vielfältiges Aufgabenprofil umfasst eine aktive Akteursrolle in der Quartiersplanung und -entwicklung (Tab. 2).

Tab. 2 Übersicht der befragten Einrichtungen der Sozialen Arbeit im Quartier

Das Fördern, Unterstützen und Begleiten von selbstorganisierten und nachbarschaftsbezogenen Initiativen und Vereinen ist eines der Handlungsfelder der befragten Quartierseinrichtungen. Die Studienteilnehmenden sprachen vom „Nachbarschaft von unten fördern“ (IP7) und nutzten Begriffe wie Fördern, Begleiten, Beobachten und Ermöglichen für die Umschreibung ihrer Handlungsansätze. Gemeint ist damit ein Hands-off-Ansatz, der die Vereine und Initiativen bei Bedarf unterstützt, jedoch nicht kollektive Selbstorganisation aktiv mobilisiert oder bei bestehenden Vereinen und Initiativen interveniert. Die Professionellen der Sozialen Arbeit stellen somit Ressourcen zur Verfügung – von Beratung, dem Teilen von Wissen, Expertise und Erfahrung, Kompetenzentwicklung, Räumlichkeiten, technischer und organisatorischer Unterstützung, Moderation bis hin zur Vernetzung und Kontaktherstellung an unterschiedlichen Schnittstellen:

„Im Grunde genommen gibt es drei Stränge: Bonding, Bridging […] und Linking [Sozialkapital]. Und das Linking, das erlebe ich als etwas, was wir leisten können. Also, wenn Menschen sich an uns andocken, sind wir die, die ihnen sozusagen Kapitalzugänge ermöglichen können. Sei es ein Raum, in dem sie sich treffen können, sei es eine Beratung. Also ich habe ganz oft Treffen mit Initiativen, die sich von uns beraten lassen. Und es gelingt uns, Akteure zusammenzubringen, die ohne Weiteres eben nicht zusammenfinden würden.“ (IP4).

„Für die Menschen, die allermeisten, die ja berufstätig sind und so weiter, ist das sehr anstrengend, das jahrelang zu verfolgen. Und wir übernehmen zumindest das Technisch-Organisatorische und haben die Mittel und auch die Erfahrungen, wie sowas funktioniert und stellen ihnen das vor und zur Verfügung.“ (IP1).

Die Studienteilnehmenden positionierten sich den zivilgesellschaftlichen Akteur*innen gegenüber als Ermöglicher*innen und Vermittler*innen. Ihre Unterstützungsmöglichkeiten sind ein Angebot, das genutzt werden und für die Vereine und Initiativen optionenerweiternd sein kann. Auf diese Weise können die Einrichtungen der Sozialen Arbeit im Quartier eine wichtige Bedeutung für den Erfolg und das dauerhafte Engagement zivilgesellschaftlicher Akteur*innen haben. Die Professionellen der Sozialen Arbeit verwiesen hierbei auch auf die hohe Belastung, die für zivilgesellschaftliche Akteur*innen durch ein dauerhaftes Engagement entstehen kann. Bei Bedarf zu entlasten und zu unterstützen, kann eine wichtige Funktion der Sozialen Arbeit sein.

Eine Unterstützung sollte dabei jedoch keinen Interventionscharakter haben. Eine Steuerung von oben oder gar eine Aktivierung wurden generell abgelehnt, da ein solcher Ansatz nicht dem eigenen Professionsverständnis entspricht und zudem erfahrungsgemäß in der Vergangenheit nicht funktionierte. Proklamiert wurde hingegen ein kooperativer Handlungsansatz, „um etwas von unten alleine entstehen zu lassen“ (IP3). Die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen wurden als Treiber sozialer Innovation gesehen, die den institutionalisierten Akteur*innen „Dinge voraus haben“ (IP5). Zudem entstanden durch das zivilgesellschaftliche Engagement Projekte und Aktivitäten, die dem Gemeinwohl des Stadtteils dienten (z. B. Aufbau nachbarschaftlicher Netzwerke und Unterstützungsstrukturen, Aufwertung des öffentlichen Raums, Entwicklung niedrigschwelliger Angebote), ohne jedoch die Ressourcen der Mitarbeitenden der stadtteilbezogenen Einrichtungen stark zu beanspruchen.

Die Professionellen der Sozialen Arbeit nahmen zivilgesellschaftliche Akteur*innen in ihrem Handeln entlang von zwei Polen wahr – als „Mitgestalter“ und „Verhinderer“ (IP4), als „lösungsorientiert“ oder „skandalisierend“ (IP3). In beiden Fällen sei es Aufgabe der Sozialen Arbeit, die Kooperation zu suchen und die unterschiedlichen Gruppen und ihre jeweiligen Anliegen kontextspezifisch bei Bedarf zu unterstützen. Drei der Studienteilnehmenden betonten in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit, „Kooperationspotenzial“ (IP3) zu erkennen und eine gelingende Kooperation zwischen stadtteilbezogenen Einrichtungen und lokalen Nachbarschaftsvereinen und -initiativen herzustellen. Das erfordere Kontinuität, gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung, aber auch den Willen und die Offenheit aller beteiligten Akteur*innen. Die Einrichtungen der Sozialen Arbeit müssen in ihrer Arbeit transparent sein und den Willen haben, bestehendes Wissen zu teilen oder gegebenenfalls die eigenen institutionellen Interessen hintenanzustellen. Denn beispielsweise bei der Frage nach Finanzierungsmöglichkeiten kann ein Anstieg der Akteur*innen im Feld zur Verstärkung von Konkurrenzsituationen führen und Konflikte auf der Quartiersebene erzeugen.

Eine gelingende Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Initiativen und Vereinen im Stadtteil kann für die Einrichtungen der Sozialen Arbeit auch notwendig sein, um Zugang zur Quartiersbevölkerung herzustellen, um als vertrauenswürdige Akteurin anerkannt zu werden und um den eigenen Arbeitsauftrag zu realisieren:

„Am Anfang mussten wir darum kämpfen, von denen [Nachbarschaftsinitiativen] akzeptiert zu sein. […] ich weiß noch, wir hatten Plakate für das Stadtteilfest gedruckt, und mussten natürlich unten die Fördergeber drauf packen. Und dann wurden die abgeholt von denen, und wurde einfach unten abgeschnitten. Und die Frage war, wie gehst du damit um? Und wir haben einfach gesagt: Ist doch wurscht. […] Wenn das die Form ist, wo wir besser zusammenarbeiten können. Und ich bin froh, dass wir damals quasi nicht in Konfrontation gegangen sind, sondern ihnen diesen Raum gegeben haben, denn irgendwann haben sie uns akzeptiert. Und wenn du mit denen nicht zusammengearbeitet hast, dann konntest du total ausgebremst werden. Dann kamst du an viele Leute nicht ran.“ (IP4).

Der befragte Leiter des Stadtteilzentrums beschreibt hier den Prozess der Erschließung eines neuen Stadtteils und der Erweiterung der territorialen Zuständigkeit des Stadtteilzentrums. Potenzielle Konflikte oder Konkurrenzsituationen mit etablierten, gut vernetzten und wirkmächtigen Nachbarschaftsvereinen und -initiativen bargen für das Stadtteilzentrum das Risiko, „ausgebremst“ zu werden. Raum zu geben, anstatt zu konfrontieren, eine Form der Zusammenarbeit zu finden und Akzeptanz zu erlangen, waren für die erfolgreiche räumliche Erweiterung des Stadtteilzentrums und dessen Etablierung in einem neuen Stadtteil wesentlich.

Einige der Studienteilnehmenden verorteten ihre Rolle allerdings nicht nur auf der quartiersbezogenen Umsetzungsebene, sondern nahmen eine systemkritische Position ein. Für eine dauerhafte und effektive Stärkung zivilgesellschaftlichen Engagements sei die Etablierung von Strukturen der Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik notwendig. Eine solche Zusammenarbeit erfordere standardisierte Regelstrukturen, Transparenz sowie die Bereitstellung von Ressourcen (personell, finanziell, technisch, Expertise etc.). Die Professionellen der Sozialen Arbeit benannten dabei auch Herausforderungen, allen voran das Fehlen einer gemeinsamen Handlungskultur und einer gemeinsamen Sprache zwischen Zivilgesellschaft und Verwaltung und Politik, die unterschiedlichen Organisationsformen und Strategien der Akteur*innen, aber auch deren ungleicher Zugang zu Wissen und Informationen. Gerade durch das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, einer mangelnden Transparenz und einen ungleichen Zugang zu Informationen, Ressourcen und Wissen können Differenzen zwischen den Akteur*innen entstehen und bestehende Machthierarchien reproduziert werden. Aufgabe der Sozialen Arbeit ist demnach, bestehende Strukturen zu problematisieren, Handlungsfelder zu benennen und durch aktive Intervention zu verändern.

5 Fazit

Die befragten Nachbarschaftsvereine und -initiativen und die Professionellen der raumbezogenen Sozialen Arbeit positionierten sich als Kooperationspartner*innen auf Quartiersebene, die bei Bedarf aufeinander zugehen, sich unterstützen und gemeinsam Aktionen, Projekte und Veranstaltungen planen, entwickeln und durchführen (z. B. Straßenfeste, formale Beteiligungsverfahren, Entwicklung von bedarfsorientierten Angeboten). Dass der Austausch und die Kooperation „auf Augenhöhe“ (Volker V1; Thomas I3) stattfanden, war für die Vereine und Initiativen unabdingbar. Darin steckt der Anspruch, als legitime Kooperationspartner*innen und als Expert*innen des eigenen Wohnumfeldes anerkannt zu werden, mit ihren jeweils eigenen Vorstellungen, Handlungsansätzen und Aktivitäten. Die befragten Professionellen der Sozialen Arbeit anerkannten die Eigenständigkeit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der Nachbarschaftsvereine und -initiativen und sahen es als ihren Arbeitsauftrag, Kooperationspotenziale zu fördern und die Vereine und Initiativen bei Bedarf in ihren Vorhaben zu unterstützen. Ihre Rolle verorteten sie dabei auf zwei Ebenen: der systemischen (Veränderung bestehender Governance-Strukturen) und der konkreten Umsetzungsebene (Vernetzung, technische Mittel, Räumlichkeiten, Expertise, Beratung etc.). Dabei zeigt sich in Übereinstimmung mit de Wilde et al. (2014), dass das Vorhandensein von Einrichtungen (z. B. Nachbarschaftszentrum, Quartierbüro) im Stadtteil nicht ausreichend ist. Vielmehr braucht es eine hohe Reaktionsfähigkeit vonseiten der quartiersbezogenen Einrichtungen, Flexibilität und Pragmatismus (Maynard-Moody & Mosheno, 2003) sowie die Kompetenz, mit den jeweils unterschiedlichen Rationalitäten und Logiken der zivilgesellschaftlichen Gruppen umzugehen. Das bedeutet auch, einen Steuerungsanspruch aufzugeben und (Ergebnis-)Offenheit und Koproduktion zur Arbeitsmaxime zu deklarieren. Das ermöglicht neue Perspektiven, innovative Praktiken und Veränderungen entstehen zu lassen und zu fördern (Bartels, 2019).

Dass die Professionellen der Sozialen Arbeit durch ihre vielfältigen Handlungsfelder (Angebote, Beratung, Begegnungsräume, aufsuchende Soziale Arbeit) gut in den Stadtteil integriert waren und die Bewohner*innen die Einrichtungen als informelle Begegnungsorte nutzten, erleichterte für die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen in der Entstehungsphase das Zugehen auf die Mitarbeitenden der Einrichtungen und somit auch den Zugang zu Ressourcen, die für die Umsetzung der eigenen Aktionen und Projekte wichtig waren. Außerdem ermöglichte die offene Nutzung der Einrichtungen die informelle Informationsverbreitung, den Austausch und die Vernetzung zwischen den Bewohnenden (Aushänge in der Einrichtung, informelle Treffen und Begegnungen im Garten oder im Gemeinschaftsraum etc.). Wie Medved (2016) in seiner Studie zeigt, sollten Einrichtungen der raumbezogenen Sozialen Arbeit möglichst inklusiv, offen und multifunktional gestaltet sein, gut erreichbar und zugänglich sein und ein lebendiger Ort der Begegnung sein. Die Einrichtungen als Ort können eine wichtige Funktion in der Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements und dem Entstehen von Kooperationen zwischen lokalen Akteur*innen sein.

Ein wichtiges Potenzial in der Kooperation zwischen Akteur*innen in einem Stadtteil liegt in der erhöhten Wirkmächtigkeit durch kollektives Handeln, da sie gemeinsam Druck ausüben (z. B. auf Politik und Verwaltung) und ihr lokalspezifisches Wissen, ihre Ressourcen und Netzwerke nutzen können, um sich für eine gemeinsame Interessenslage oder ein gemeinsames Ziel zu engagieren. Zu beachten gilt jedoch, dass die Vereine und Initiativen nicht per se als Vertreter*innen der gesamten Bewohnerschaft eines Stadtteils betrachtet werden können. In ihrem Engagement verfolgen sie ihre eigenen Anliegen und Interessen und nutzen dabei selektive Netzwerke in der Nachbarschaft. Dabei kann es zu Konflikten und Verhandlungen zwischen Bewohnenden in einem Stadtteil kommen, so genannten „everyday politics“ (Blokland, 2009, S. 1608). Die Nichtsichtbarkeit bestimmter lokaler Bevölkerungsgruppen, soziale Ungleichheiten und bestehende Machtasymmetrien können sich dadurch in einem Stadtteil verstärken (Deener, 2010). Der raumbezogenen Sozialen Arbeit im Quartier kommt dabei die Aufgabe zu, Nachbarschaften in ihrer Pluralität anzuerkennen und die vielfältigen Bedarfe und Interessen der Bewohnenden in einem Stadtteil zu ermitteln und miteinander zu verhandeln, um sozialräumlicher Ungleichheit und Exklusion entgegenzuwirken.