Zusammenfassung
Die Idee von Steuerung ist noch immer eng verknüpft mit der modernen Vorstellung einer Planbarkeit und Berechenbarkeit der Zukunft – insbesondere, wenn sich mit ihr auch das Ziel der Optimierung verbindet. Nicht zuletzt dem Umgang mit Zeit in Organisationen liegt häufig eine solche Vorstellung von Steuerung zugrunde, insbesondere in der Erwachsenenbildung, wo zeitbezogene Steuerung nicht nur für organisationale Prozesse, sondern in der konkreten Leistungsgestaltung kritisch ist. Der vorliegende Beitrag bedient sich der steuerungsskeptischen Perspektive der Systemtheorie Luhmanns, um das Verhältnis von Zeit und Steuerung als ein dreidimensionales zu diskutieren, in dem Zeit sowohl Gegenstand, als auch Medium und schließlich Ergebnis von Steuerung in Erwachsenenbildungsorganisationen ist. Diese Perspektive auf Steuerung trägt schließlich dazu bei, traditionelle Vorstellungen von Planbarkeit und Steuerbarkeit infrage zu stellen und alternative Formen zukunftsbezogener Selbststeuerung in Erwachsenenbildungsorganisationen zu diskutieren.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
Trotz der in der gesamten Breite der Praxistheorien herrschenden hohen Einigkeit über die grundlegende Frage nach dem Wesen des Sozialen zeichnen sich zwei Pole in der praxistheoretischen Analyse von Steuerung ab, die an unterschiedliche Rezeptionsphasen und eine damit einhergehende Aufmerksamkeitsverschiebung gekoppelt zu sein scheinen: Eine eher klassische Perspektive betont etwa mit Bourdieu die in sozialen Feldern instituierten Machtrelationen und ihre eigentümliche soziale Energie, die nicht nur Interessen, sondern auch (habituelle) Strategien der Akteure auszurichten vermag als Untersuchungsfokus praxistheoretischer Governanceforschung (vgl. z. B. Schmid & Wilkesmann 2018). Dem gegenüber steht eine gerade in jüngerer Zeit stärker verbreitete praxistheoretische Fokussierung auf die Situativitität und Kontingenz von Praxis und den möglichst direkten empirischen Nachvollzug der praktischen Dynamiken des ‚doing governance‘ (vgl. z. B. Hangartner 2019).
- 2.
Dieser Perspektivwechsel ist letztlich analog zu jenem, den die Systemtheorie in Bezug auf das Konzept der Sozialisation vorsieht (vgl. Luhmann, 1987a).
- 3.
Welche spezifischen Unterscheidungen steuerungsrelevant werden, ist also das Ergebnis komplexer und bisweilen auch gegenläufiger kommunikativer Prozesse – um an Luhmanns Beispiel der Unterscheidung von Mann und Frau anzuknüpfen: Während gesellschaftliche Diskurse um Gleichstellung die Aufrechterhaltung der Differenz zwischen Frau und Mann voraussetzen, um die Differenz ihrer Einkommen kritisieren und diesem gender pay gap schließlich entgegensteuern zu können, wird in identitätspolitischen Diskursen die gesellschaftliche Vorstellung einer Differenz zwischen Mann und Frau als solche zum Ziel von Differenzminimierung.
- 4.
Auch in diesem Aspekt lassen sich durchaus Strukturähnlichkeiten zwischen der Systemtheorie Luhmanns und den Praxistheorien erkennen (vgl. Reckwitz 2003) insofern beide Zeitlichkeit als konstitutive Dimension des Sozialen prominent verhandeln.
- 5.
Als einziger individueller Rechtsanspruch in diesem Zusammenhang, den zumindest Arbeitnehmer*innen und einige weitere Gruppen in den meisten deutschen Bundesländern beanspruchen können, ist in diesem Zusammenhang immer wieder auf den Bildungsurlaub hinzuweisen (zu aktuellen empirischen Untersuchungen vgl. z. B. Pabst & Zeuner 2021; Robak et al., 2015; zu den Rechtsgrundlagen vgl. Schmidt-Lauff 2018a).
- 6.
Julia Elvens praxistheoretische Perspektive nimmt Abstand von gängigen Vorstellungen sozialen Wandels, indem sie empirisch zeigt, wie sich gerade im Interferieren differenter, gleichzeitig wirksamer transversaler Logiken (Ästhetisierung, Ökonomisierung etc.) äußerst unterschiedliche praktische Wirkung für konkrete Lebensentwürfe entfalten: Für die Erwachsenenbildung ließe sich ableiten, dass sie u. U. nicht mehr länger ‚am Puls der Zeit‘ operieren kann, weil es diesen einheitlichen Pulsschlag so nicht mehr gibt – zugleich aber könnte sie in Auseinandersetzung mit der Diversität des Wandelgeschehens und daran geknüpfter individueller Erfahrungshorizonte eine vernetzende und vielleicht sogar integrierende gesellschaftliche Funktion wahrnehmen.
Literatur
Abbott, A. (2016). Processual sociology. University of Chicago Press.
Alke, M., & Graß, D. (2019). Spannungsfeld Autonomie: Programmplanungshandeln zwischen interner und externer Steuerung. Hessische Blätter für Volksbildung, 69(2), 133–141. https://doi.org/10.3278/HBV1902W133.
Barz, H., & Tippelt, R. (2007). Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland. Praxishandbuch Milieumarketing, inkl. CD-ROM: Adressaten- und Milieuforschung zu Weiterbildungsverhalten und -interessen. wbv.
Beyme, K. von (1997). Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum. Westdeutscher Verlag.
Diederich, J. (1982). Bemessene Zeit als Bedingung pädagogischen Handelns. In N. Luhmann & K. E. Schorr (Hrsg.), Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik (S. 51–86). Suhrkamp.
Dpa. (2020). = Deutsche Presse-Agentur. (2020). Gesundheit: Letzte Chance für Haarschnitt und Shopping vor Lockdown. Zeit Online vom 15.12.2020. https://www.zeit.de/news/2020-12/15/viele-geschaefte-oeffnen-das-letzte-mal-vor-weihnachten. Zugegriffen: 25. Jan. 2021.
Elven, J. (2020). Sozialer Wandel als Wandel sozialer Praxis: Eine praxistheoretische Forschungsperspektive. transcript.
Feld, T. C., & Seitter, W. (2016). Organisieren als pädagogische Praktik. In A. Schröer, M. Göhlich, S. M. Weber, & H. Pätzold (Hrsg.), Organisation und Theorie. Beiträge der Kommission Organisationspädagogik (S. 63–72). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10086-5_7.
Feld, T. C., & Seitter, W. (2017). Organisieren. Kohlhammer Verlag.
Fischer, J. H. (Hrsg.) (2009). Steuerung in Organisationen. VS Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91353-7_1.
Hangartner, J. (2019). Doing governance – Eine praxistheoretische Perspektive auf Governance im Bildungswesen. In R. Langer & T. Brüsemeister (Hrsg.), Handbuch Educational Governance Theorien (S. 309–326). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22237-6_15.
Hartz, S., & Schrader, J. (2008). Steuerung und Organisation in der Weiterbildung – Ein vernachlässigtes Thema? In S. Hartz & J. Schrader (Hrsg.), Steuerung und Organisation in der Weiterbildung (S. 9–30). Klinkhardt.
Koch, J., Krämer, H., Reckwitz, A., & Wenzel, M. (2016). Zum Umgang mit Zukunft in Organisationen – Eine praxistheoretische Perspektive. Managementforschung, 26(1), 161–184. https://doi.org/10.1365/s41113-016-0005-0.
Kuper, H. (2001). Organisationen im Erziehungssystem. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 4(1), 83–106. https://doi.org/10.1007/s11618-001-0007-1.
Lange, S. (2007). Kybernetik und Systemtheorie. In A. Benz, S. Lütz, U. Schimank, & G. Simonis (Hrsg.), Handbuch Governance (S. 176–187). VS Verlag.
Luhmann, N. (1987a). Sozialisation und Erziehung. In N. Luhmann (Hrsg.), Soziologische Aufklärung 4: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft (S. 173–181). Westdeutscher Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01341-9_13.
Luhmann, N. (1987b). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp.
Luhmann, N. (1994). Die Wirtschaft der Gesellschaft. Suhrkamp.
Luhmann, N. (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp.
Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Westdeutscher Verlag.
Luhmann, N. (2020). Politische Steuerung. In V. Tacke & E. Lukas (Hrsg.), Schriften zur Organisation 4: Reform und Beratung (S. 315–321). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23220-7_15.
Luhmann, N., & Schorr, K. E. (1982). Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik. In N. Luhmann & K. E. Schorr (Hrsg.), Zwischen Technologie und Selbstreferenz (S. 11–40). Suhrkamp.
Mayntz, R. (1996). Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transformation einer Theorie. In K. von Beyme & C. Offe (Hrsg.), Politische Theorien in der Ära der Transformation (Politische Vierteljahresschrift: Sonderheft 26, S. 148–168). Westdeutscher Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-322-86620-2_6.
Mayrhofer, W., Meyer, M., & Majer, C. (2004). Controlling und Systemtheorie. Oder: Alles im Griff? Die Konstruktion organisationaler Wirklichkeit durch Controlling. In E. Scherm & G. Pietsch (Hrsg.), Controlling. Theorien und Konzeptionen (S. 779–799). Vahlen.
Nassehi, A. (2008). Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag „Gegenwarten“ (2. Aufl.). VS Verlag. https://www.springer.com/de/book/9783531158556. Zugegriffen: 28. Nov. 2017.
Pabst, A., & Zeuner, C. (Hrsg.) (2021). „Fünf Tage sind einfach viel zu wenig“ – Bildungszeit und Bildungsfreistellung in der Diskussion. Wochenschau.
Papageorgiou, M., Leibold, M., & Buss, M. (2015). Optimierung. Statische, dynamische, stochastische Verfahren für die Anwendung (4. Aufl.). Springer Vieweg.
Rammstedt, O. (1975). Alltagsbewusstsein von Zeit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 27, 47–63.
Reckwitz, A. (2003). Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive. Zeitschrift für Soziologie, 32(4), 282–301.
Reckwitz, A. (2016). Zukunftspraktiken. Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft. In A. Reckwitz (Hrsg.), Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie. transcript.
Robak, S., Rippien, H., Heidemann, L., & Pohlmann, C. (Hrsg.) (2015). Bildungsurlaub – Planung, Programm und Partizipation. Eine Studie in Perspektivverschränkung. Peter Lang. https://www.peterlang.com/document/1048803. Zugegriffen: 22. Aug. 2018.
Schäffter, O. (1993). Die Temporalität von Erwachsenenbildung. Überlegungen zu einer zeittheoretischen Rekonstruktion des Weiterbildungssystems. Zeitschrift für Pädagogik, 39(3), 443–462.
Schäffter, O. (2012). Lernen in Übergangszeiten. Zur Zukunftsorientierung von Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. In S. Schmidt-Lauff (Hrsg.), Zeit und Bildung. Annäherungen an eine zeittheoretische Grundlegung (S. 113–156). Waxmann.
Schmid, C. J., & Wilkesmann, U. (2018). Eine praxistheoretische Fundierung der Governance wissenschaftlicher Weiterbildung. In W. Jütte & M. Rohs (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftliche Weiterbildung (S. 1–19). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17674-7_10-1.
Schmidt-Lauff, S. (2008). Zeit für Bildung im Erwachsenenalter: Interdisziplinäre und empirische Zugänge. Waxmann.
Schmidt-Lauff, S. (2012). Grundüberlegungen zu Zeit und Bildung. In S. Schmidt-Lauff (Hrsg.), Zeit und Bildung. Annäherungen an eine zeittheoretische Grundlegung (S. 11–70). Waxmann.
Schmidt-Lauff, S. (2014). Zeitprogrammatiken und temporale Semantiken – Für eine neue Zeitsensibilität pädagogischen Organisierens. In S. M. Weber, M. Göhlich, A. Schröer, & J. Schwarz (Hrsg.), Organisation und das Neue. Beiträge der Kommission Organisationspädagogik (S. 115–125). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03734-5_8.
Schmidt-Lauff, S. (2018a). Betriebliche Weiterbildung: Bildungsurlaub. In P. Krug & E. Nuissl (Hrsg.), Praxishandbuch WeiterbildungsRecht (62. Aktualisierung, S. 1–38). Luchterhand.
Schmidt-Lauff, S. (2018b). Zeittheoretische Implikationen in der Erwachsenenbildung. In R. Tippelt & A. von Hippel (Hrsg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (S. 319–338). Springer VS.
Schrader, J. (2011). Steuerung der Weiterbildung – Stand und Perspektiven der Forschung. In C. Hof, J. Ludwig, & B. Schäffer (Hrsg.), Steuerung – Regulation – Gestaltung. Governance-Prozesse in der Erwachsenenbildung zwischen Struktur und Handlung (S. 17–34). Schneider Hohengehren. (Gehalten auf der Jahrestagung der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft).
Schütze, F. (1992). Sozialarbeit als „bescheidene“ Profession. In B. Dewe, W. Ferchhoff, & F.-O. Radtke (Hrsg.), Erziehen als Profession (S. 132–170). Leske + Budrich.
Schwarz, J. (2019). Zeit als Ressource der Erwachsenenbildung. Hessische Blätter für Volksbildung, 69(4), 335–343. https://doi.org/10.3278/HBV1904W335.
Schwarz, J., Hassinger, H., & Schmidt-Lauff, S. (2020). Subjektives Lernzeiterleben und kollektive Zeitpraktiken in der Erwachsenbildung: Zur empirischen Rekonstruktion von Zeitmodalitäten in Lern- und Bildungsprozessen. Forum Qualitative Sozialforschung, 21(2), Art. 3. https://doi.org/10.17169/fqs-21.2.3489.
Wagner, P. (1995). Soziologie der Moderne. Campus.
Weber, M. (2006). Wissenschaft als Beruf (Nachdr.). Reclam.
Weick, K. E. (1979). The social psychology of organizing. Random House.
Willke, H. (1992). Beobachtung, Beratung und Steuerung von Organisationen in systemtheoretischer Sicht. In R. Wimmer (Hrsg.), Organisationsberatung. Neue Wege und Konzepte (S. 17–42). Gabler. https://doi.org/10.1007/978-3-322-87124-4_1.
Willke, H. (1996). Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft. Suhrkamp.
Willke, H. (2001). Systemtheorie III: Steuerungstheorie (3. Aufl.). Lucius & Lucius.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2022 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Schwarz, J. (2022). Zum Verhältnis von Zeit und Steuerung in Organisationen der Erwachsenenbildung aus systemtheoretischer Perspektive. In: Alke, M., C. Feld, T. (eds) Steuerung von Bildungseinrichtungen. Theorie und Empirie Lebenslangen Lernens. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35825-9_5
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-35825-9_5
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-35824-2
Online ISBN: 978-3-658-35825-9
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)