Zusammenfassung
Entgegen einer an regressive nationale Weltbilder anknüpfenden Identitätsbildung sollen mit den vorliegenden Ausführungen die Implikate einer Staatsbürger*innenbildung erläutert werden, die sich der Bildung in und zur Demokratie verpflichtet. Zu Beginn wird dafür ein radikalisiertes Verständnis von Demokratie entfaltet, das demokratische Partizipation nicht nur auf die Konkurrenz der Eliten im Staat reduziert, sondern sich durch die deliberative Beteiligung aller von Entscheidungen Betroffener in der Lebenswelt auszeichnet. Exemplarisch wird anschließend anhand eines frühpädagogischen Konzeptes der methodische Rahmen einer nachhaltigen demokratischen Bildungspraxis anhand von Kindertageseinrichtungen vorgestellt. Im Zentrum steht die Etablierung demokratischer Strukturen in Bildungseinrichtungen, die auf Dauer gewährleisten, dass Kinder Demokratie lernen, indem sie systematisch an Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung partizipieren. Auf diesem Wege soll einer Sozialpädagogik das Wort geredet werden, die durch demokratische Professionalisierung ihren Beitrag zu einer starken solidarischen Zivilgesellschaft leistet, der Forderung Adornos Rechnung tragend, dass ‚Ausschwitz nicht sich wiederhole‘.
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Notes
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„Gesellschaftstheoretisch verbindet sich diese Demokratieauffassung […] mit der These, dass zumindest in kapitalistischen Gesellschaften von einer Differenz zwischen System und Lebenswelt auszugehen ist (vgl. Habermas 1995). Diese Differenz ergibt sich aus den unterschiedlichen Vergesellschaftungsprinzipien von System und Lebenswelt: So zeichnet sich das System, zu dem die staatliche Verwaltung und der Markt gehören, dadurch aus, dass Entscheidungen hier erfolgs- bzw. machtorientiert getroffen werden, demokratisch-diskursive Prozesse also immer unter dem Vorbehalt zweckrationalen Handelns (Geld, Macht) stehen. In der Lebenswelt hingegen, die den Bereich der Familie und die zivilgesellschaftlichen Institutionen (Vereine, Verbände, Initiativen) umfasst, werden Entscheidungen grundsätzlich verständigungsorientiert herbeigeführt, d. h. hier steht das zweckrationale Handeln unter Vorbehalt, und zwar unter dem Vorbehalt, dass alle an den Entscheidungen Beteiligten und von diesen Entscheidungen Betroffenen einem solchen Handeln zustimmen. Kennzeichen der kommunikativen Einstellung in der Lebenswelt ist darüber hinaus, dass die hier getroffenen demokratischen Entscheidungen grundsätzlich reversibel sind“ (Richter et al. 2016, S. 112f.).
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Zur Kritik an Himmelmanns Rezeption des Deweyschen Demokratiebegriffs: Richter et al. 2016, S. 111f.
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Das Konzept existiert seit 2001, es wird inzwischen in ca. 300 Kitas bundesweit umgesetzt und ist sowohl im Bereich Kita als auch für andere Handlungsbereiche, d. h. Hilfen zur Erziehung (Heimerziehung), Jugendarbeit und Schule, weiterentwickelt worden (Knauer und Sturzenhecker 2016). Darüber hinaus wurden mehr als 100 pädagogische Fachkräfte im Rahmen von Langzeitfortbildungen als Multiplikator*innen qualifiziert, die das Konzept in Team-Fortbildungen vermitteln. Es besteht eine umfangreiche Zahl an Publikationen: zum Konzept (Hansen et al. 2011), zur Implementierung in der Praxis (Hansen und Knauer 2019), zu Modell- und Forschungsprojekten (Hansen et al. 2004; Hansen et al. 2010; Richter et al. 2017) sowie zu Bildergeschichten für Kinder über demokratische Partizipation in der Kita (Beispiel: Hansen und Knauer 2016).
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Daneben werden auch Hinweise zur zeitlich begrenzten Form von demokratischer Partizipation in Projekten gegeben, die aufgrund ihrer geringeren deliberativen Reichweite im Folgenden allerdings nicht vertieft werden.
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Neben einer deliberativen Demokratiepraxis haben die Forscher*innen auch eine Empirie vorgefunden, in der entgegen dem Anspruch des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“ keine deliberative Demokratie als Lebensform, sondern eine Demokratie als Regierungsform in der Kita praktiziert wird. Kennzeichen dieser sog. Expertendemokratie ist, dass die pädagogischen Fachkräfte weiterhin beanspruchen, Entscheidungen für die Kinder zu treffen, weil sie sich qua Alter und Bildung als Expert*innen auffassen (Richter et al. 2017, S. 118ff.).
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Durch den Einbezug der Elternselbstverwaltung in die Kita-Verfassung wird in einigen Kitas inzwischen die formelle deliberative Partizipation dieser Gruppe systematisch gestärkt (Redecker 2015).
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Für verschiedene Handlungsfelder der Kinder- und Jugendbildung liegen dazu bereits Forschungsergebnisse vor, z.B. für die Krippe (Rehmann 2016), für die Offene Kinder- und Jugendarbeit (Schwerthelm und Sturzenhecker 2016), für die Heimerziehung (Stork und Aghamiri 2016) und für die Jugendverbandsarbeit (Riekmann 2011; Ahlrichs 2019).
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Richter, E. (2021). Demokratie(bildung) in Kindertageseinrichtungen – Sozialpädagogik für eine starke Zivilgesellschaft. In: Sehmer, J., Simon, S., Ten Elsen, J., Thiele, F. (eds) recht extrem? Dynamiken in zivilgesellschaftlichen Räumen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-32560-2_16
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