Zusammenfassung
Nach der Geburt meines ersten Sohnes fühlte ich mich lange Zeit vollkommen entkoppelt von meinem vorherigen Leben. Hatte ich mich vorher vor allem als selbstbestimmte, unabhängige, emanzipierte Wissenschaftlerin und Feministin verstanden, konnte ich das Mutterwerden nicht in dieses Selbstbild integrieren – im Gegenteil: Es erschien als totaler Gegensatz. Woher kommt dieses Gefühl eines radikalen Bruchs, eines klaren Vorher und Nachher? Was hat es mit der Sozialisation als Wissenschaftlerin und akademisch geprägte Feministin zu tun? Und was könnte die Wissenschaft von der Erfahrung des Mutterwerdens lernen?
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Notes
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Das ist auch absolut verständlich: Leben heterosexuelle Paare vor der Geburt von Kindern weitgehend gleichberechtigt oder sehen sich zumindest so, so bedeutet die Geburt des ersten Kindes in den allermeisten Fällen immer noch eine Retraditionalisierung der Rollen und einen Rückfall in die 1950er-Jahre: Die Frau übernimmt den Großteil der Elternzeit und arbeitet danach höchstens in Teilzeit, während der Mann zum Hauptverdiener wird. Den allergrößten Teil der Sorge- und Hausarbeit übernehmen dadurch Frauen.
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Die Soziologin Sabine Flick (2019) zeigt, dass sich aktuell in Deutschland ein Diskurs über traumatische Geburten etabliert, der vor allem von Frauen einer bestimmten sozialen Schicht getragen wird. Insbesondere Frauen mit hoher akademischer Bildung, die bei der Geburt des ersten Kindes etwas älter als der Durchschnitt sind, berichten von gewaltvollen und schlimmen Geburtserfahrungen. Flick zufolge liegt das nicht nur an der zweifellos tatsächlich vorhandenen Gewalt in der Geburtshilfe, sondern auch daran, dass diese Frauen bis dahin daran gewöhnt waren, vor allem denkender, selbst bestimmt handelnder Geist zu sein und nicht ohnmächtiger Körper.
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Aleida Assmann (2003) hat dafür das großartige Konzept der „wissenschaftlichen Hausfrau“ geprägt: Sie beschreibt damit ihre wissenschaftliche Praxis, die sie in den zwölf Jahren, in denen sie ihre fünf Kinder aufzog, zuhause betrieb, und die sie letztlich zu der erfolgreichen Karriere führte, auf die sie heute zurückblickt.
Literatur
Assmann A (2003) Karriere – Kinder – Ehe, eine unmögliche Trias? Gegenworte. http://www.gegenworte.org/heft-11/assmann-probe.html. Zugegriffen am 12.09.2019
Baum A (2018) Stillleben. Piper, München
Beck-Gernsheim E (1989) Mutterwerden – der Sprung in ein anderes Leben. Fischer, Frankfurt am Main
Cusk R (2008) A life’s work. On becoming a mother. Faber&Faber, London
Flick S (2019) Traumgeburt oder Geburtstrauma? Vortrag in der MONAliesA Leipzig. https://www.mixcloud.com/MONAliesA_Leipzig/traumgeburt-oder-geburtstrauma/?fbclid=IwAR1PhZfCp0tOAkfvdi6GVYRRXPUYiVrgMJAPgRwtEJpuAeCYBqyAPgIphg8. Zugegriffen am 12.09.2019
Penny L (2014) Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution. Edition Nautilus, Hamburg
Reusch M (2018) Mutterschaft und Feminismus: Emanzipation undenkbar? Westfälisches Dampfboot, Münster
Rich A (1995) Of women born. Motherhood as experience and institution. W. W. Norton & Company, New York
Wolfsberger J (2017) Schafft euch Schreibräume! Weibliches Schreiben auf den Spuren Virginia Woolfs. Ein Memoir. Böhlau, Wien/Köln/Weimar
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Czerney, S. (2020). Wie ich ein Körper wurde: Mutter werden als Wissenschaftlerin und Feministin. In: Czerney, S., Eckert, L., Martin, S. (eds) Mutterschaft und Wissenschaft. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30932-9_4
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