Zusammenfassung
Der Artikel lotet das bislang brachliegende kritische Potential des Gegenstands Gesundheit im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit aus. Dabei werden Public Health, sozialwissenschaftliche Gesellschaftstheorie und Politische Theorie aufeinander bezogen. Als gerechtigkeitstheoretische Rahmung von Gesundheitsförderung wird zunächst der Capabilities-Ansatz diskutiert. Davon ausgehend wird dann die Idee der Gesundheit als Brücke zwischen Gesellschaftstheorie, Zeitdiagnose, Ungleichheits- und Herrschaftsforschung und Gerechtigkeitstheorie konkretisiert.
Wir danken Ullrich Bauer, Dirk Dierßen und Paulo Pinheiro für hilfreiche Kommentare und Anmerkungen.
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Notes
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Häufig lassen sich mindestens zwei der drei unterschiedlichen Dimensionen Sozialkritik, Entfremdungskritik und Radikalkritik in komplexeren gesellschaftstheoretischen Ansätzen finden. Bei Marx oder bei den Vertretern der Frankfurter Schule etwa finden sich alle drei Dimensionen untrennbar verschränkt.
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Natürlich sind solche Großperspektiven nicht einfach wie Legosteine zusammenzusetzen. Die Spannungsfelder bei einer gleichzeitigen Berücksichtigung von Entfremdung und Salutogenese sind gewaltig. Wir würden aber argumentieren, dass sich das Unterfangen, so umfassend es dann auch wird, mit dem Ziel einer integralen gesellschaftskritischen Perspektive lohnen dürfte.
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Bittlingmayer, U.H., Schumacher, F., Yüksel, G. (2021). Gesundheit als Brücke zwischen Gesellschaftskritik und Gerechtigkeitstheorie. Plädoyer für eine Neuauflage des interdisziplinären Materialismus aus dem Geist von Public Health. In: Schmidt-Semisch, H., Schorb, F. (eds) Public Health. Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30377-8_27
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