Zusammenfassung
Das Wissen um nachhaltig veränderte Handlungspraxen und deren Einfluss auf sozialstrukturelle Mechanismen ist ein genuin soziologisches. Sozialwissenschaften besitzen qua ihren Methoden und Theorien die Möglichkeit, strukturell wirksame Gesellschaftstransformationen systematisch aufzuarbeiten, abzubilden und Erkenntnisse daraus abzuleiten. Ohne soziologische Theoriebildung wäre es undenkbar, den Einfluss veränderter Handlungsrepertoires auf die Lebensgestaltung der Individuen (Mikroebene) und auf die Gesamtgesellschaft (Makroebene) zu erkennen und abzubilden (ganz in der Tradition Max Webers). Die Betrachtung sozialer Innovationen entfaltet sowohl für die Mikro- als auch für die Makroebene Relevanz. Dieser Beitrag möchte sich dem Erklärungsgehalt soziologischer Theorien für die Betrachtung gesellschaftlich relevanter Mechanismen in Form von sozialen Innovationen widmen. Dabei soll konzeptionell sowohl für die Mikro- als auch für die Makroebene durchdekliniert werden, welchen Einfluss soziale Innovationen, die nicht selten zu einem sozialen Wandel führen, auf die Lebenschancen der Individuen und der Gesamtgesellschaft haben. Die grundlegende These dieser Betrachtung lautet: Soziale Innovationen führen zu einem Mehr an Lebenschancen. Als theoretischer Unterbau soll das Lebenschancen-Konzept von Ralf Dahrendorf dienen, anhand dessen neben der grundlegenden Darstellung des Terminus der Lebenschancen eine Diskussion um soziale Innovationen entwickelt werden soll. Expliziert werden soll der Versuch, die Wirkung sozialer Innovationen anhand des Lebenschancen-Konzepts nach Dahrendorf zu erfassen, und zwar anhand der empirischen Befunde aus meiner Doktorarbeit zum Thema Internetnutzung von Seniorinnen und Senioren. Die gewonnenen Ergebnisse ermöglichen zum einen, die Motivationen, die hinter innovativem Handeln stehen, anhand dieses Beispiels aufzuzeigen, und vergegenwärtigen zum anderen, wie sich die Wirkungen einer sozialen Innovation für die Protagonistinnen und Protagonisten im Lichte des Lebenschancen-Konzeptes vergegenwärtigen. Der Beitrag möchte eine Perspektive auf die Erklärungskraft sozialwissenschaftlicher Theoriekonzepte im Hinblick auf die Wirkung sozialer Innovationen werfen und bedient sich dabei der Unterstützung empirischer Daten aus einer eigenen Erhebung.
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Notes
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Der Terminus des gesellschaftlichen oder sozialen Wandels soll an dieser Stelle lediglich als Eckpfeiler für sich aufspannende Argumentation dienen. Die verkürzte Betrachtung und das selbstverständliche Operieren mit diesem vielgestaltigen Begriff geschieht nicht ohne das Bewusstsein für die Notwendigkeit der differenzierten Verwendung. Bezogen auf Zapf (1994), der wiederum grundlegende Gedanken von Comte, Marx, Pareto, Durkheim und anderen Größen der Sozialwissenschaften berücksichtigt (Zapf 1994, S. 11 f.), soll sozialer Wandel als ein solcher Terminus verstanden werden, der ausdifferenziert wird in ein Strukturverständnis mitsamt der Frage nach einer sozialen Ordnung und einer weiterführenden Differenzierung in die Dimensionen, die den sozialen Wandel versuchen zu charakterisieren (Zapf 1994, S. 14).
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Die Betrachtungsgruppe erhält ihre Konturierung durch die theoretischen Vorüberlegungen, die für das Promotionsprojekt (finalisiert in 2018) angestrengt wurden. Die Bezeichnung Senior*innen bezieht sich nicht auf ein nummerisches Äquivalent in Form einer Altersangabe, sondern resultiert aus den gesetzlich geregelten Begrifflichkeiten, die dann Anwendung finden, wenn eine Person das Renteneintrittsalter erreicht hat und aus der Erwerbstätigkeit ausscheidet oder aber aus gesundheitlichen Erwägungen (früh)pensioniert wird. Aufgrund der benannten Aspekte wird in diesem Beitrag ausschließlich von Senior*innen und nicht etwa von Älteren die Rede sein, um die Trennschärfe im Hinblick auf das Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit zu markieren (Obermeier 2020, S. 63 ff.).
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Unter eigenen Kindern werden nicht ausschließlich leibliche Kinder verstanden. Es geht im Wesentlichen um durch gegenseitige Fürsorge in einer übergenerationalen Beziehung geschaffene Verbindungen und Beziehungen, die einem (leiblichen) Eltern-Kind-Verhältnis entsprechen oder gleichen.
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Obermeier, C. (2020). In Webers Schuhen und mit Dahrendorfs Geleit: Die Wirkung sozialer Innovationen durch soziologische Klassiker verstehen. In: Franz, HW., Beck, G., Compagna, D., Dürr, P., Gehra, W., Wegner, M. (eds) Nachhaltig Leben und Wirtschaften. Sozialwissenschaften und Berufspraxis . Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_2
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