Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht die Implikationen der massenmedial, politisch und pädagogisch formulierten These, dass Demokratieerziehung angesichts „großer Herausforderungen“ und Gefahren für die Demokratie durch und in digitale/n Öffentlichkeiten (fake news, hate speech) ihren Beitrag „für unsere Demokratie“ zu erbringen habe. Nimmt die Demokratieerziehung diese Aufgabe an, so die Analyse, setzt sie sich in ein ideologisches Verhältnis zu ihren Grundbegriffen und wird Teil eines Governance-Regimes, das sozusagen „von außen“ als Establishment beobachtet wird. Am Beispiel des Lügenpressebegriffs wird abschließend argumentiert, dass diese Frontstellung weniger aus den Eigenlogiken digitaler Öffentlichkeiten hervorgeht, bzw. durch diese gefördert wird, sondern vielmehr auf einen information war verweist, der nicht in erster Linie, aber eben auch im Internet stattfindet. Statt sich an diesem, wie exemplarisch gezeigt, durchaus gefährlichen information war zu beteiligen, könnte Demokratieerziehung normativ abrüsten, sich autonomisieren und ihren immer lautstärker kritisierten Widerspruch zu free speech als bloß scheinbaren erweisen.
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Notes
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Der Vorwurf der Panikmache z. B. am Beispiel der Umweltpolitik der Grünen in den 1980er Jahren oder der Populismusvorwurf explizieren die Sichtweise, dass es sich um rein konstruierte, zumindest wesentlich übertriebene Problemstellungen handelt.
- 2.
„Grand“ taucht in den EU-Papieren nicht konsequent vor societal challenges auf, ohne dass das Weglassen eine Bedeutungsunterscheidung nachvollziehbar macht.
- 3.
Unter Innovation wird in diesen Zusammenhängen Originalität aus der Perspektive ihrer Kommodifizierbarkeit verstanden. Entweder diese ist also unmittelbar ökonomisch verwertbar oder in der Form der sogenannten sozialen Innovation als soziales Engagement mittelbar zu verwerten.
- 4.
Interessanterweise stellt die in der Pädagogik prominente psychologische Selbstbestimmungstheorie (SDT) gerade auf das subjektive (möglicherweise ja ungemessene oder gar manipulierte) Erleben von Kompetenz und Autonomie ab (vgl. Krönig 2018).
- 5.
- 6.
Die Anzahl von no platformings (UK) und disinvitations (USA) steigt und zielt im Unterschied zu Protestaktionen darauf ab, Personen, die moralisch und politisch „inakzeptabel“ sind, aus der (akademischen) Öffentlichkeit zu halten (vgl. Simpson und Srinivasan 2018). Die Diskussionen darum, ob man beispielsweise mit AFD-Vertreter*innen ein Podium teilen dürfe, sind bekannt. Selbst der evangelische Kirchentag, der sich parteipolitisch nicht positionieren will, hat die AFD 2019 ausgeschlossen. Für Rorty (1988) sind die Gegner der liberalen Demokratie schlichtweg verrückt.
- 7.
In der abgedruckten Grafik lassen sich genaue Jahreszahlen nicht ausmachen. Online kann man aber an jedem beliebigen Punkt des Graphen eine Jahreszahl ablesen: https://books.google.com/ngrams/graph?content=Lügenpresse&year_start=1800&year_end=2016&corpus=20&smoothing=3&share=&direct_url=t1%3B%2CLügenpresse%3B%2Cc0#t1%3B%2CLügenpresse%3B%2Cc0.
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Krönig, F.K. (2020). Vom „ideologischen Staatsapparat“ zum „Establishment“. Demokratieerziehung diesseits und jenseits des information war. In: Binder, U., Drerup, J. (eds) Demokratieerziehung und die Bildung digitaler Öffentlichkeit. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28169-4_8
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