Zusammenfassung
Im Anschluss an Debatten zur Vergleichbarkeit ethnographischer Daten (Bollig und Kelle 2012) und der Relevanz meta-ethnographischen Wissens (Kakos und Fritzsche 2017) unternimmt der Beitrag die Rekonstruktion eines komparativ angelegten ethnographischen Forschungsprozesses im Kontext des DFG-Projektes „Die Pädagogik der Gülen-Bewegung“ (vgl. Geier und Frank 2016a, b, u. a.). Auf Grundlage zweier Protokolle unterschiedlicher Forscherinnen zum Abend eines religiösen Gesprächskreises (sohbet) für Studentinnen wird auf den Ebenen von Datenerhebung und Interpretation die Frage gestellt: Wie verändert sich der Gegenstand sohbet angesichts unterschiedlich interaktiv agierender Forscherinnen im Feld, des von ihnen zu- und miteinander produzierten ethnographischen Wissens, seiner jeweiligen und kontrastiven Interpretation sowie der darin aufgerufenen Diversitäts- bzw. Differenzkategorien? Die präsentierten Ergebnisse zeigen, dass es einerseits unterschiedliche Formen ethnographischen Schreibens und andererseits die gesellschaftliche Positioniertheit (Hall 1994) der Forscherinnen sind, mit welchen Spielräume und Grenzen eröffnet und gezogen werden, um das Feld und seine Praktiken aus Perspektive der Ethnographinnen, des Feldes und der Interpretierenden (als muslimisch) zu charakterisieren.
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Notes
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Inwiefern es sich bei der Gülen-Bewegung (Ebaugh 2012; Hendrick 2013; Dohrn 2018) um ein global agierendes (Bildungs-)Netzwerk mit eigenlogischem Diskurs (Agai 2004), um eine religiöse Gemeinde (cemaat, Yavuz 2013) oder auch einen machtdurchdrungenen, hierarchisch organisierten Geheimbund handelt, für den sie dominant nach dem Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016 gehalten wird (Yavuz 2018), lässt sich vor dem Hintergrund unserer Forschungsanlage nicht so leicht beantworten, wie es vielleicht von außen den Anschein haben mag. Zwar verfügt das Projekt über einen inzwischen mehrjährig andauernden sowie sozial stabilen Feldkontakt, doch stehen im Zentrum des projektinternen Erkenntnisinteresses die Praktiken und Biographien von Nutzer*innen derjenigen Angebote, wie sie die Gülen-Bewegung unterbreitet. Auch wenn die von uns untersuchten sohbetler innerhalb der Organisation der Bewegung stattfinden, lässt sich von den lokalen religiösen Praktiken zugleich nicht bruchlos auf den organisationalen Charakter der Bewegung insgesamt schließen. Es wäre daher zum einen fahrlässig, Aussagen über den uns zugänglichen Kontext hinaus zu verallgemeinern, und zum anderen subsumtionslogisch, alle Nutzer*innen der Angebote als Anhänger*innen Fethullah Gülens oder Mitglieder der cemaat aufzufassen. Es zeichnet sich allerdings ab, dass die unterschiedlichen Nutzer*innen immer auch ein je unterschiedliches, subjektives Verständnis darüber haben, worum es sich bei der Gülen-Bewegung überhaupt handelt.
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Sie finden i. d. R. in privaten, getrenntgeschlechtlichen, studentischen Wohngemeinschaften statt. Im öffentlichen Diskurs werden sie meist in Übersetzung eines emphatischen Begriffs von Gülen als „Lichthäuser“ (Gülen sprach von „ışık evleri“) bezeichnet. Während Gülen mit ışık („Licht“) gleichermaßen auf die Semantiken religiöser Erleuchtung und weltlicher Aufklärung rekurriert (so wie etwa auch das Englische enlightenment oder das französische lumière die Lichtmetapher nutzen), perpetuiert die Übersetzung ins Deutsche den Verdacht, dass es sich um Orte einer Sekte handelt, in denen „eine Gehirnwäsche im Auftrag des Imam“ (Siefert 2013) betrieben wird. Aus unserer Sicht leisten die sohbetler in den evler sowohl für die Konstitution der cemaat (vgl. Agai 2004) als auch für die gesellschaftliche Institutionalisierung eines spezifischen Islamverständnisses der Gülen-Bewegung in Deutschland einen entscheidenden Beitrag (Geier et al. 2016), da in ihnen das spezifische religiöse Wissen kommuniziert und der Glaube als intellektuelle Praxis eingeübt wird (Geier und Frank 2019).
- 3.
- 4.
Unter Migrationsgesellschaft verstehen wir in Anlehnung an Paul Mecheril et al. (2010, S. 11) eine Gesellschaft, die nicht nur durch die Dynamik verschiedenartiger, nationalstaatliche Grenzen überschreitender Migrationen und durch die leiblich-soziale Anwesenheit Migrierender und Migrierter geprägt ist, sondern innerhalb derer Diskurse um Migration stattfinden, die mittels symbolischer Zuschreibungen und gesellschaftlicher Klassifizierungen über soziale Zugehörigkeiten und deren Praktiken, sie zuzuweisen, entscheiden.
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- 6.
Eine vergleichende Analyse zu unserer bisherigen Forschung mittels der Kategorie Gender wird dabei durch die Ethnographinnen ebenso zur Sprache kommen. Wir werden sie selbst jedoch nicht in den Vordergrund stellen.
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Die Namen der Teilnehmenden sind anonymisiert.
- 8.
Die männlichen, religiösen Autoritäten der Gülen-Bewegung werden als ağabeyler („ältere Brüder“) bezeichnet und angesprochen.
- 9.
Vgl. für die Konventionen ethnographischen Schreibens in der deutschen Erziehungswissenschaft Breidenstein (2017).
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Es gehört zu den unausgesprochenen Normalitätserwartungen, dass in Ethnographien nur selten erfahrbar ist, welche milieu-, gender-, oder religionsspezifisch codierten Symboliken die Ethnograph*innen in ihrer Kleidung selbst zur Schau stellen. Auch die angehenden Ethnographinnen B. und K. sprechen nicht über ihr eigenes Aussehen oder das der jeweilig anderen.
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Geier, T., Frank, M., Schalück, L., Schmidt, D. (2020). Getting to Know Islam? – Diversitätskategorien in der Produktion ethnographischen Wissens. In: Leontiy, H., Schulz, M. (eds) Ethnographie und Diversität. Erlebniswelten. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21982-6_12
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