Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird Normativität in der Erziehungswissenschaft aus einer epistemologischen Perspektive behandelt. Sie stellt sich als Repräsentationsproblem sozialer Wirklichkeit dar. Die These lautet, dass die Schwäche vieler kritischer Analysen über Normativität in den Sozialwissenschaften auf epistemologische Konzepte zurückgeht, die Objektivität und Universalität in Begriffen der Repräsentation formulieren und blind für die Geschichte der europäischen Moderne sind. Selbst elaborierte kritische Reflexion lässt sich durch eine Verkennung charakterisieren, die darin besteht, dass sich Sozialwissenschaften als Subjekte der Kritik inthronisieren und ihre Verortung im Erkenntnisprozess ausblenden. Mit postkolonialer Kritik, wie sie Homi Bhaba formuliert, und mit feministischen Konzepten im Anschluss an Donna Haraway und Karen Barad soll die Schwäche des Repräsentationsdenkens überwunden und eine andere Diskussion epistemischer Normativität in der Erziehungswissenschaft eröffnet werden.
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Notes
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Möllers (2015) definiert Normen nicht nur hinsichtlich der Frage, ob es sich um richtige oder gerechtfertigte Normen handelt, sondern er versteht darunter „positiv markierte Möglichkeiten“ (S. 14). Das heißt, Normen verweisen auf einen möglichen Zustand oder auf ein mögliches Ereignis. „Normativität hängt an der Möglichkeit abweichender Weltbeschaffenheit – oder einer Weltbeurteilung, deren Maßstab sich nicht auf die Welt, wie sie ist, beschränkt“ (ebd.).
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In der Auseinandersetzung mit Ideologiekritik befasst sich Laclau (1997) mit dem Problem, von welchem ‚Ort‘ aus Kritik geübt werden kann, wenn es einen Standpunkt des Außen nicht gibt und jede Repräsentation notwendig verzerrt ist. Laclau schlägt vor, dieses Problem und die in ihm angelegten Antinomien zu lösen, indem die ursprüngliche Bedeutung selbst eine Illusion darstellt und die Verzerrungsoperation in der Herstellung dieser Illusion besteht, nämlich „auf etwas fundamental Gespaltenes die Illusion einer Fülle und Selbsttransparenz zu projizieren, an der es ihm gerade mangelt“ (S. 50). Das lässt sich auf sozialwissenschaftliche Forschungen übertragen: Die Verzerrungsoperation ist die Forschungspraxis selbst, und zwar dann, wenn sie die Idee der ‚vollen Realität‘ adressiert, die sie dann verfehlt. Die epistemischen Normen kommen aus dieser Forschungsperspektive als gewaltsame Exklusion anderer Perspektiven in den Blick und nicht etwa als „positiv markierte Möglichkeiten“ (Möllers 2015, S. 14). Aber wie wäre das „fundamental Gespaltene“ zu denken? Eine mögliche Antwort bietet Canguilhems (1979) Unterscheidung zwischen dem gegebenen („natürlichen“) und dem wissenschaftlichen Objekt. Zwar bestehen zwischen beiden Gegenständen Beziehungen, aber der wissenschaftliche Gegenstand lässt sich nicht aus dem gegebenen Gegenstand ableiten und jener repräsentiert diesen nicht, sondern es handelt sich um eine Konstruktion für eine Erkenntnis, die dem gegebenen Objekt nicht eingeschrieben und aus ihm ableitbar ist.
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„This means that in a diffractive process of data analysis, a reading of data with theoretical concepts (and/or multiple theoretical concepts) produces an emergent and unpredictable series of readings as data and theory make themselves intelligible to one another.“ (Mazzei 2014, S. 743).
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Forster, E. (2019). Die Frage nach epistemischer Normativität in der Erziehungswissenschaft. In: Meseth, W., Casale, R., Tervooren, A., Zirfas, J. (eds) Normativität in der Erziehungswissenschaft. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21244-5_7
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