Zusammenfassung
Der Strafvollzug in Deutschland soll der Resozialisierung dienen und ist deswegen als Behandlungsvollzug angelegt. Der Beitrag stellt Behandlungsmaßnahmen vor, die im Strafvollzug außerhalb von sozialtherapeutischen Einrichtungen (teilweise auch dort als Bestandteile eines umfassenden Programms) durchgeführt werden und die in erster Linie der Kriminalprävention bzw. der Reduktion von Gefährlichkeit dienen. Es wird ein kurzer Überblick über verschiedene Formen der therapeutischen Arbeit, Behandlungsziele und mögliche Erfolgsindikatoren gegeben und es werden ausgewählte Behandlungsmaßnahmen vorgestellt (z. B. R&R, BPS, KIM, Wohngruppenkonzepte, Vollzugslockerungen). Trotz theoretischer Plausibilität und langjährigem Einsatz sind Behandlungsmaßnahmen im Strafvollzug nur selten empirisch fundiert, so dass vermehrte Anstrengungen im Bereich der Wirkungsforschung dringend erforderlich erscheinen.
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Notes
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Wir sprechen hier bezüglich Einzelmerkmalen von Korrelationen mit dem Rückfall in Höhe von ungefähr 0,30. Zusammengefasste Indizes (z. B. die Scores von Risikobeurteilungsinstrumenten) erreichen in seltenen Fällen eine prognostische Validität von ungefähr r = 0,40. Das ist weit entfernt von einer perfekten Vorhersage. Es lassen sich jedoch mit solchen Instrumenten Gruppen mit hohem Rückfallrisiko (z. B. im LSI-R 80 % Wiederverurteilung innerhalb von 2 Jahren) und mit geringem Rückfallrisiko (16 %) unterscheiden (Daten aus Dahle et al. 2012, S. 74).
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Mittlerweile gibt es auch Kurzformen (R&R2) mit nur 14 Sitzungen für verschiedene Zielgruppen (Erwachsene, Jugendliche, Frauen, psychisch Auffällige), die aber noch nicht gut empirisch untersucht sind.
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Dies entspricht bei einer Basisrate von etwa 50 % der von Tong und Farrington (2006) berichteten mittleren Odds Ratio von 1,16.
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Im englischen Strafvollzug allerdings wurde R&R wegen unbefriedigender Ergebnisse vor einigen Jahren eingestellt und durch andere Programme ersetzt (Friedrich Lösel, persönliche Mitteilung).
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Dies sei an einem Beispiel erläutert: Angenommen, man wird an einer Bushaltestelle von einer Gruppe anscheinend Betrunkener belästigt. Nur ein Mister Spock, aber kein normaler Mensch wird sich dann im Sinne der R&R-Empfehlungen daran machen, alle möglichen Verhaltensoptionen hinsichtlich ihrer Konsequenzen sowie deren Eintrittswahrscheinlichkeiten und Valenzen zu analysieren. Die meisten Leute werden das Erstbeste tun, das ihnen einfällt, um die Situation zu beruhigen oder sich aus ihr zu entfernen. Manche aber werden vielleicht die Heuristik befolgen: Was werden meine Kumpels, wenn sie davon hören, für cool halten?
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Vgl. die Angaben auf der Website der Anbieter: http://www.konfrontative-paedagogik.de/grundlagen/anti-aggressivitats-training.
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Im bayerischen Strafvollzug wurde ein einheitliches Konzept für ein Anti-Gewalt-Training entwickelt. Zukünftige AGT-Trainer sollen ein an der Justizvollzugsakademie angebotenes AGT-Curriculum durchlaufen.
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Eine große Schwierigkeit liegt im Strafvollzug darin, geeignete Verstärker/Anreize zu finden, auf die erstens die Inhaftierten nicht einen rechtlichen Anspruch haben und die zweitens nicht auf Sicherheitsbedenken stoßen. Beliebte Anreize im Rahmen des beschriebenen Konzepts sind die Erlaubnis, ein Telefongespräch zu führen (sonst im bayerischen Justizvollzug sehr restriktiv gehandhabt) oder Süßigkeiten und Getränke.
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Das Manual des standardisierten Prognoseverfahrens LSI-R (Dahle et al. 2012) gibt vorläufige Cutoff-Werte hinsichtlich einer Eignung für den Offenen Vollzug an.
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Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Sicherungsverwahrung vom 05. Mai 2011 (2 BvR 2365/09) u. a. gefordert, der Vollzug dieser Maßregel sei „so auszugestalten, dass die Perspektive einer Wiedererlangung der Freiheit sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmt“; hierzu bedürfe es eines „freiheitsorientierten Gesamtkonzepts der Sicherungsverwahrung mit klarer therapeutischer Ausrichtung auf das Ziel, die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr zu minimieren und auf diese Weise die Dauer der Freiheitsentziehung auf das unbedingt erforderliche Maß zu reduzieren“ (Rn 101) (vgl. auch Bartsch, in diesem Band). Das BVerfG verweist in seinen weiteren Ausführungen auf eine vorausgegangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das durch ein „hohe(s) Maß an Betreuung durch ein multidisziplinäres Team sowie intensive und individuelle Arbeit mit den Untergebrachten anhand unverzüglich zu erstellender, individueller Pläne“ einen Weg sehe, „der Fortschritte in Richtung Entlassung ermögliche, wobei die Entlassung eine realistische Möglichkeit sein solle“ (Rn 107). Das klingt so, als biete guter Wille und stetes Bemühen bereits weitestgehend die Garantie dafür, dass das Resozialisierungsziel erreicht wird. Grenzen der Behandelbarkeit und dessen, was sich erreichen lässt, werden nicht angesprochen.
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Das gilt allerdings primär für die Studien, an denen die Urheber der Multisystemischen Therapie selber beteiligt waren. Replikationen dieser Effekte durch unabhängige Forscher stehen noch aus.
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Endres, J., Breuer, M.M. (2018). Behandlungsmaßnahmen und -programme im Strafvollzug. In: Maelicke, B., Suhling, S. (eds) Das Gefängnis auf dem Prüfstand. Edition Forschung und Entwicklung in der Strafrechtspflege. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20147-0_5
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