Zusammenfassung
Dieser Beitrag widmet sich den besonderen Schwangerschaften, die medizinisch auffällig sind und als solche – medizinisch eng überwacht – fortgesetzt werden. Er perspektiviert diese besonderen Schwangerschaften mithilfe dreier theoretischer Zugänge. Sozialwissenschaftlich interessiert, welche Themen in dieser sozial neuartigen Situation des Zur-Welt-Kommens für die betroffenen Familien relevant werden. Die risikosoziologische Analyse von besonderen Schwangerschaften zeigt auf, wie sich das Schwangerschaftsrisiko individualisiert, wie Gewissheitsäquivalente gebildet werden und Wertaspekte eine zunehmende Bedeutung erlangen. Die wissenssoziologische Perspektivierung nimmt die alltagsweltlichen Sinnzusammenhänge in den Blick und fokussiert hierbei den elterlichen Umgang mit Ungewissheit, das Problem stellvertretender Deutungen und die Relevanz von Grenzsituationen für die elterliche Erfahrungsbildung. Kultursoziologisch wird die Bedeutung des inwändigen Sterbens bei Fehl- bzw. Totgeburten und dessen Unsichtbarkeit, die Liminalität dieser Verlusterfahrung und die zeitgleiche Kollision von Geburt und Tod herausgestellt.
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Während sich in diesem Zusammenhang die grundsätzliche Frage nach konfessionsspezifischen Umgangsweisen mit dem frühen Kindstod stellt, verweist der Umstand, dass in der neonatologischen Palliativversorgung auch konfessionslose Eltern ihr Kind häufig kurz vor dem Tod nottaufen lassen (Garten und von der Hude 2014, S. 146) auf die fundamentale Bedeutung von Übergangsritualen. In der historischen Entwicklung gab es, entgegen der weit verbreiteten Annahme elterlicher Indifferenz aufgrund hoher Säuglingssterblichkeit, durchaus Übergangsrituale für den Tod am Lebensbeginn, die als kultureller Hintergrund in die Betrachtung gegenwärtig (wieder) entstehender Ritualisierungen mit einbezogen werden müssen. Dies betrifft z. B. die Wunder- und Erweckungstaufen in der Frühen Neuzeit, die sogenannten Traufkinder und den Glauben an das ungetaufte Kind als unheilbringender Wiedergänger (Peter 2013, 2014, S. 462–465; dort auch Verweise auf historische bzw. archäologische Studien). Die Frage „Wo ist mein Kind?“ wird für Eltern Stillgeborener zum Problem, wenn kein bewusster Abschiedsprozess erfolgt ist (Kahmann 2001, S. 21).
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Peter, C., Feith, D. (2022). Familie und komplexe Schwangerschaften. In: Schierbaum, A., Ecarius, J. (eds) Handbuch Familie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-19843-5_43
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