Zusammenfassung
Im internationalen Vergleich gehören die deutschen Industrie- und Handelskammern zum kontinentalen öffentlich-rechtlichen Modell mit gesetzlicher Pflichtmitgliedschaft. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive analysiert der Beitrag die Kammern auf Grundlage eines Datensatzes, mit dem beispielsweise die raumstrukturellen Unterschiede der Organisationen und die regionale Varianz der Beitragshöhe und Wahlentwicklung dargestellt werden. Auch wenn die Pflichtmitgliedschaft bis dato unangetastet geblieben ist, so ist doch ein deutlicher institutioneller Wandel zu konstatieren. Dieser besteht in einer rechtlichen Einhegung der Interessenvertretungsfunktion der Industrie- und Handelskammern. Dies geht aus einer Oppositionsdynamik in Teilen der Mitgliedschaft in Kombination mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes hervor.
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Notes
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Das deutsche Kammersystem kennt neben den IHKn und Handwerkskammern auch die Landwirtschaftskammern und Berufskammern, etwa für Ärzte, Notare, Wirtschaftsprüfer u. a. m. (Kluth 2011).
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1956 wurde das heute gültige Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern (IHKG) verabschiedet.
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Methodisch beruht der Beitrag auf Quellen- und Dokumentenanalysen, 25 Experteninterviews und auf einem quantitativen Datensatz zu 80 deutschen IHKn (Stand: 2015).
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Hier wird zwischen Aufständischen, Symbionten, Subversiven und Opportunisten unterschieden (Mahoney und Thelen 2010, S. 23).
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Mitte der 1980er Jahre gab es in der damaligen Bundesrepublik 69 IHKn, mit der deutschen Vereinigung 1990 wurden nachfolgend 14 ostdeutsche Kammern gegründet, sodass Ende der 1990er Jahre 83 IHKn existierten. Deren Anzahl reduzierte sich durch Fusionen (beispielsweise 1999 Gießen-Friedberg, 2016 Bremen-Bremerhaven) auf 79 im Jahr 2016. Weitere Fusionen, etwa zwischen Kiel, Flensburg und Lübeck, zwischen Cottbus und Frankfurt a. d. Oder oder zwischen Rostock und Schwerin werden aktuell diskutiert, wurden aber bislang nicht umgesetzt.
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Dies besteht aus den Arbeitgeberverbänden, den Branchenverbänden und den Wirtschaftskammern.
- 7.
„Typische“ Branchen sind etwa „Industrie & Energie“, „Groß-, Einzel- und Außenhandel“ oder „Kredit-, Finanz- und Versicherungswirtschaft“. Die Binnendifferenzierung erfolgt entlang der Stimmanzahl der jeweiligen Wahlgruppen und reflektiert die regionale Wirtschaftsstruktur. So lag etwa bei einem Vergleich der Wahlordnungen, die im Jahr 2012 gültig waren, bei 25 IHKn das Stimmengewicht (Anzahl Sitze der Wahlgruppe an der Gesamtzahl der Sitze der Vollversammlung) der Wahlgruppe „Industrie & Energie“ im Jahr 2012 zwischen 48 % und knapp 16 % und diejenige der Wahlgruppe „Kredit-, Finanz- und Versicherungswirtschaft“ zwischen gut 19 % und knapp 5 %. Die Auswertung wurde von Sebastian Fuchs erstellt.
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Die IHK Bremerhaven ist mittlerweile mit der IHK Bremen fusioniert.
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Daten liegen für den Anteil von Frauen in den IHK-Vollversammlungen vor. Dieser liegt durchschnittlich bei 16,8 % mit einem Minimalwert von 3,8 % und einem Maximalwert von 31,6 %.
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Die IHK-Produktivität wird gemessen als Summe der Ausbildungsverhältnisse, Existenzgründungsberatungen, Rechtsauskünfte, Unternehmensbesuche und Ursprungszeugnisse pro Mitarbeiter in 2014.
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Die Wahlen sind nicht bundesweit synchronisiert. Die letzten hier einbezogenen Wahldaten datieren aus dem Jahr 2014.
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Derzeit (seit März 2014) findet aber eine Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht zur Pflichtmitgliedschaft bei den IHKn statt, deren Ergebnis bei Redaktionsschluss des Bandes nicht vorlag (Kluth i. d. B.).
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In einem solchen Fall kann das klagende Kammermitglied den Austritt seiner IHK aus dem Dachverband DIHK verlangen.
- 14.
Dies ist etwa auch mit Blick auf die steigende Zahl direktdemokratischer Verfahren relevant.
- 15.
Zur Rolle der Kammern beim transnationalen Transfer der Dualen Berufsausbildung siehe auch Deutscher Bundestag 2013.
- 16.
Prominent ist in diesem Zusammenhang die IHK-Hannover. Dort setzten organisatorische Reformen bereits Mitte der 1980er Jahre ein. Es wurden das Serviceangebot grundlegend verändert, das Personal abgebaut und die Finanzierungsstruktur 1991 auf das Kostendeckungsprinzip umgestellt. Zwischen 1990 und 2014 sank der Anteil der Beiträge an den Einnahmen von 82 % auf 40 % (IHK-Hannover 2016, S. 158 ff.). Anlass sei „nicht nur die Kostenreduktion, sondern auch die Notwendigkeit [gewesen], Service- bzw. Kundenorientierung der IHK zu verbessern“ (IHK-Hannover 2015, S. 158). Erkennbar ist hier ein besonderes politisches Entrepreneurship der Kammerspitze.
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Sack, D. (2017). Protest, Recht und Europäisierung – Stabilität und Wandel der deutschen Industrie- und Handelskammern. In: Sack, D. (eds) Wirtschaftskammern im europäischen Vergleich. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16934-3_12
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