Zusammenfassung
Der Beitrag betrachtet antijüdische Diskriminierungen als Formen der Benachteiligung, des Bestreitens einer eigenständigen Identitätsentwicklung sowie als existenzielle Angriffe, die mit der Konstruktion einer imaginären Gruppe „die Juden“ einhergehen. Sie fußen auf einer Konstellation kultureller Aneignung und Ausnutzung, Unterdrückung, Verdrängung und Verfolgung sowie kulturell verankerten binären und paranoiden Weltanschauungen. Der Beitrag rekonstruiert das Ausmaß, die Formen, die Typik und die Kontexte antisemitischer Diskriminierung auf der Basis von Arbeiten der historisch orientierten Antisemitismusforschung, von jüngeren Studien zu Diskriminierungserfahrungen sowie unter Bezugnahme auf Ergebnisse der Diskurs-, Einstellungs- und Handlungsforschung. Er spricht sich für eine stärkere Berücksichtigung jüdischer Selbstbehauptungspraxen, für einen stärkeren Fokus auf institutionelle Diskriminierung sowie eine Verknüpfung von historischen Fallstudien und aktueller Diskriminierungsforschung aus.
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Notes
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Ich verwende die Form Jüd*innen, wenn es sich um die empirische Gruppe handelt; „die Juden“ verwende ich, um die Konstruktion als Andere zu markieren.
- 2.
Czollek setzt der „Erzeugung der Juden durch den Außenblick der Dominanzkultur“ die Aufforderung „Desintegriert Euch!“ entgegen. Er fordert antisemitische Gewalt und den damit verbundenen Bruch anzuerkennen und rekonstruiert Gegenwehr und Rache als im Mehrheitsnarrativ ausgeblendete Reaktionen auf Bedrohung. (Czollek 2021).
- 3.
Seit 1879 spricht man von „Antisemitismus“ und bezeichnet damit eine rassistisch begründete Judenfeindlichkeit. Sie wurde durch Intellektuelle wie den Historiker Heinrich von Treitschke, den Hofpredigers Adolf Stoecker und den Journalisten Wilhelm Marr begründet.
- 4.
Raul Hilberg (2003) geht von einer Steigerung früherer antisemitischer Formen bis in den Vernichtungsantisemitismus aus: „Sie [die Nazis] haben sehr wenig erfunden, nicht einmal ihr Bild vom Juden, sie haben es aus Texten geborgt, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. So haben sie sich sogar in ihrer Propaganda, dem Reich der Vorstellungskraft und Erfindung, auffallend auf den Spuren ihrer Vorgänger bewegt, (…) hier würde ich eine logische Entwicklung sehen, die ihre Steigerung erfuhr (…) von den frühesten Zeiten, vom vierten, fünften oder sechsten Jahrhundert an, hatten die christlichen Missionare gesagt: „Ihr könnt unter uns nicht als Juden leben.“ Die weltlichen Herrscher, die ihnen vom Spätmittelalter an folgten, entschieden: „Ihr dürft nicht unter uns leben.“ Und die Nazis beschlossen: ‚Ihr dürft nicht leben.‘“ (Lanzmann 1986, S. 101).
- 5.
Zu nennen sind hier u. a. das Ludwig Ehrlich Studienwerk sowie die Zeitschrift Jalta und die kulturpolitischen Arbeiten von Sasha Salzmann und Max Czollek am Berliner Gorki Theater.
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Die späte Erforschung mag zudem auch darin begründet sein, dass in der Antisemitismusforschung zunächst der historische und hier insbesondere der nationalsozialistische (Vernichtungs-) Antisemitismus analysiert wurden. Darüber hinaus spielen vermutlich Vorsichtsmaßnahmen auf jüdischer Seite sowie Ausblendungen und Vermeidungsstrategien auf nicht-jüdischer Seite eine Rolle. Dass Antisemitismus in der Diskriminierungsforschung zunächst aus dem Blick gerät, kann auch darin begründet sein, dass Antisemitismus seit den späten 1950ern rückläufig erscheint, während rassistische Einstellungen zunehmen. Solche Quantifizierungen verstellen jedoch den Blick auf die Qualität und Mobilisierbarkeit antisemitischer Diskriminierungen (Cousin und Fine 2012, S. 173). Aussagen Betroffener zu Diskriminierungserfahrungen beruhen auf langen und intensiven kollektiven Lernprozessen in der Analyse bedrohlicher Situationen und Diskurse. An erfahrungsbasierten Studien wird wiederholt kritisiert, sie entsprängen einem partikularen Erkenntnisrahmen, was jedoch auch für andere Studien gilt. Überlegungen, dass Ergebnisse damit „übertrieben“ würden, laufen Gefahr an antisemitische Codes (Egoismus, Fälschung Hysterie) anzuschießen und sie ignorieren, dass Betroffene Diskriminierungen – u. a. aus Gründen des Selbsterhalts und ihrer starken Identifikation mit der Gesellschaft, in der sie leben – oft relativieren (Tobin und Sassler 1988, S. 85 ff.).
- 7.
Sie wollten nach der Übersendung fiktiver Bewerbungsunterlagen wissen, wie häufig christliche, jüdische und muslimische Bewerber zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen werden würden. Eingeladen wurden 10,4 % der muslimischen Bewerber, 15,8 % der jüdischen und 20 % der christlichen Bewerber. Männer wurden sowohl unter den jüdischen als auch unter den muslimischen Bewerber stärker diskriminiert (vgl. Valfort 2015).
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Auch in anti-antisemitischen Argumentationszusammenhängen wird über die kritische Reproduktion antisemitischer Semantiken eine Plausibilisierung der Verfolgung unter Referenz auf die Betroffenen verfügbar gemacht, was jedoch auch unter Referenz auf die gesellschaftlichen Kontexte möglich wäre (Schäuble 2012).
- 9.
Gemeint sind Interaktionserfahrungen wie diese: „Man lernt sich kennen, kommt irgendwie aufs Judentum und die Identität. Und dann entsteht fast eine körperliche Reaktion. Es ist dieses: ‚Oh, jetzt muss ich vorsichtig sein …‘, was vielleicht nett gemeint ist. Aber man ist dann nicht mehr ‚einer von uns‘ und nicht mehr ‚ein Teil aus dem Volk‘.“ (Schäuble 2012, S. 9) Eine ähnliche Darstellung findet sich in einer Freitextantwort zur Studie der EU-Grundrechteagentur (FRA 2013, S. 39): „Solange man die Kippa nicht öffentlich trägt und Feste usw. privat feiert, scheint es keine Probleme zu geben. Sobald wir aber, wie Christen oder Muslime auch, unserer Religion Bedeutung beimessen und unseren Glauben offen praktizieren möchten, ändert sich die Situation dramatisch.“
- 10.
Keine Anerkennung für die eigene Identität zu bekommen kann bedeuten, in seiner Persönlichkeitsentwicklung und Selbstachtung beschädigt zu werden, was auf lange Sicht Folgen für Lebensbedingungen und Lebenschancen hat. Hinzu kommt die vom sozialen Status abhängige Regulation der Zugänge zu materiellen Ressourcen, Karrieren, Macht und sozialer Wertschätzung, zu Bildungsmöglichkeiten, Heiratschancen, gesunden Lebensbedingungen und geringen Kriminalisierungswahrscheinlichkeiten (vgl. Scherr 2010, S. 37).
- 11.
Aktiv sind in diesem Bereich die jüdischen Gemeinden, die Amadeu Antonio Stiftung, die Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), sowie das Kantor Center.
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Vgl. z. B. Bundesverband der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus e. V. 2021.
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Schäuble, B. (2022). Antijüdische Diskriminierungen. In: Scherr, A., El-Mafaalani, A., Reinhardt, A.C. (eds) Handbuch Diskriminierung. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11119-9_30-2
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Antijüdische Diskriminierungen- Published:
- 18 November 2022
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-11119-9_30-2
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Original
Antisemitische Diskriminierung- Published:
- 17 May 2016
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-11119-9_30-1