Zusammenfassung
Der Beitrag betrachtet antijüdische Diskriminierungen als Formen der Benachteiligung, des Bestreitens einer eigensinnigen Identitätsentwicklung sowie existentieller Angriffe, die mit der Konstruktion einer Gruppe „die Juden“ einhergehen. Ausgehend von Arbeiten der historisch orientierten Antisemitismusforschung diskutiert der Beitrag, dass und warum gegenwärtige Formen der Diskriminierung im Forschungsfeld erst nach einer langen Phase der Analyse der Geschichte und Vorgeschichte des Holocausts thematisch wurden. Der Text rekonstruiert das Ausmaß, sowie die Formen, die Typik und Kontexte antisemitischer Diskriminierungen auf der Basis jüngerer Studien zu Diskriminierungserlebnissen und -wahrnehmungen sowie auf der Basis von Ergebnissen der Diskurs-, Deutungsmuster-, Einstellungs- und Handlungsforschung. Angesichts des starken Einflusses individualisierender Forschungszuschnitte plädiert der Text für eine Erforschung komplexer Diskriminierungsprozessen unter Rückgriff auf die Einsichten historischer Fallstudien und die Breite sozialwissenschaftlicher Theoriebildung über Diskriminierung. Dabei plädiert die Autorin für eine stärkere Berücksichtigung jüdischer Antidiskriminierungsforschung und -praxen aller Epochen, um deren Erkenntnisse stärker zu würdigen und um eine methodologische Passivierung zu vermeiden.
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Notes
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Seit 1879 spricht man von „Antisemitismus“ und bezeichnet damit eine rassistisch begründete Judenfeindlichkeit. Sie wurde durch Intellektuelle wie den Historiker Heinrich von Treitschke, den Hofprediger Adolf Stoecker und den Journalisten Wilhelm Marr begründet.
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Raul Hilberg geht von einer Steigerung früherer antisemitischer Formen bis in einen Vernichtungsantisemitismus aus: „Sie [die Nazis] haben sehr wenig erfunden, nicht einmal ihr Bild vom Juden, sie haben es aus Texten geborgt, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. So haben sie sich sogar in ihrer Propaganda, dem Reich der Vorstellungskraft und Erfindung, auffallend auf den Spuren ihrer Vorgänger bewegt, (…) hier würde ich eine logische Entwicklung sehen, die ihre Steigerung erfuhr (…) von den frühesten Zeiten, vom vierten, fünften oder sechsten Jahrhundert an, hatten die christlichen Missionare gesagt: „Ihr könnt unter uns nicht als Juden leben.“ Die weltlichen Herrscher, die ihnen vom Spätmittelalter an folgten, entschieden: „Ihr dürft nicht unter uns leben.“ Und die Nazis beschlossen, „Ihr dürft nicht leben.“ (Lanzmann 1986, S. 101).
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Die späte Erforschung mag zudem auch darin begründet sein, dass in der Antisemitismusforschung zunächst der historische und hier insbesondere der nationalsozialistische (Vernichtungs-) Antisemitismus analysiert wurden. Darüber hinaus spielen vermutlich Vorsichtsmaßnahmen auf jüdischer Seite und Ausblendungen und Vermeidungsstrategien auf nicht-jüdischer Seite eine Rolle. Dass Antisemitismus in der Diskriminierungsforschung zunächst aus dem Blick gerät, kann auch darin begründet sein, dass Antisemitismus seit den späten 1950ern rückläufig erscheint, während rassistische Einstellungen zunehmen. Solche Quantifizierungen verstellen jedoch den Blick auf die Qualität und Mobilisierbarkeit antisemitischer Diskriminierungen (Cousin und Fine 2012, S. 173).
Aussagen Betroffener zu Diskriminierungserfahrungen beruhen auf langen und intensiven kollektiven Lernprozessen in der Analyse bedrohlicher Situationen und entsprechenden Diskursen. Ihnen wird wiederholt vorgehalten, einem partikularen Erkenntnisrahmen zu entspringen, was jedoch auch für andere Studien gilt. Überlegungen, dass Ergebnisse damit „übertrieben“ würden, laufen Gefahr an antisemitische Codes (Egoismus, Fälschung Hysterie) anzuschießen und sie ignorieren, dass Betroffene Diskriminierungen – u. a. aus Gründen des Selbsterhalts und ihrer starken Identifikation mit der Gesellschaft, in der sie leben – oft relativieren (Tobin und Sassler 1988, S. 85 ff.).
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Auch in der Presseberichterstattung ist wiederholt von Eltern die Rede ist, die die Entwicklung ihrer Kinder aufgrund von generalisierten Verwendungen antisemitischen Vokabulars (u. a. Anreden als „Du Jude“) und von antisemitischen Anfeindungen sowie mangelnder Sensibilität des Lehrpersonals als gefährdet sehen (vgl. Friedmann und Hengst 2006).
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Valfort wollte nach der Übersendung fiktiver Bewerbungsunterlagen wissen, wie häufig christliche, jüdische und muslimische Bewerber zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen werden würden. Eingeladen wurden 10,4 % der muslimischen Bewerber, 15,8 % der jüdischen und 20 % der christlichen Bewerber. Männer wurden sowohl unter den jüdischen als auch unter den muslimischen Bewerber stärker diskriminiert (vgl. Valfort 2015).
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Auch in anti-antisemitischen Argumentationszusammenhängen wird über die kritische Reproduktion antisemitischer Semantiken eine Plausibilisierung der Verfolgung unter Referenz auf die Betroffenen verfügbar gemacht. Eine Erklärung der Verfolgung wäre jedoch angemessener unter Referenz auf die gesellschaftlichen Kontexte möglich wäre (Schäuble 2012).
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Gemeint sind Interaktionserfahrungen wie diese: „Man lernt sich kennen, kommt irgendwie aufs Judentum und die Identität. Und dann entsteht fast eine körperliche Reaktion. Es ist dieses: ‚Oh, jetzt muss ich vorsichtig sein…‘, was vielleicht nett gemeint ist. Aber man ist dann nicht mehr ‚einer von uns‘ und nicht mehr ‚ein Teil aus dem Volk‘.“ (Schäuble 2012, S. 9) Eine ähnliche Darstellung findet sich in einer Freitextantwort zur Studie der EU-Grundrechteagentur (FRA 2013, S. 39): „Solange man die Kippa nicht öffentlich trägt und Feste usw. privat feiert, scheint es keine Probleme zu geben. Sobald wir aber, wie Christen oder Muslime auch, unserer Religion Bedeutung beimessen und unseren Glauben offen praktizieren möchten, ändert sich die Situation dramatisch.“
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Keine Anerkennung für die eigene Identität zu bekommen kann bedeuten, in seiner Persönlichkeitsentwicklung und Selbstachtung beschädigt zu werden, was auf lange Sicht Folgen für Lebensbedingungen und Lebenschancen hat. Hinzu kommt die vom sozialen Status abhängige Regulation der Zugänge zu materiellen Ressourcen, Karrieren, Macht und sozialer Wertschätzung, zu Bildungsmöglichkeiten, Heiratschancen, gesunden Lebensbedingungen und geringen Kriminalisierungswahrscheinlichkeiten (vgl. Scherr 2010, S. 37).
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Aktiv sind in diesem Bereich die jüdischen Gemeinden, die Amadeu Antonio Stiftung, die Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), sowie das Kantor Center.
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Schäuble, B. (2017). Antisemitische Diskriminierung. In: Scherr, A., El-Mafaalani, A., Yüksel, G. (eds) Handbuch Diskriminierung. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10976-9_30
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