Zusammenfassung
Der Beitrag diskutiert aus einer wissenssoziologischen Perspektive die Bedeutung des Gedächtnisses für soziale Integration. Ausgangspunkt hierfür ist die Annahme, dass mit der Geltung von Wissensbeständen und somit bestimmter Deutungen der Vergangenheit Fragen des gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses von Individuen und sozialen Gruppen unmittelbar verknüpft sind. Dieses mit konfligierenden Wissensbeständen verbundene Integrationsproblem tritt im Kontext eines politischen Umbruchs in verschärfter Form zutage. Denn für die Konsolidierung einer neuen politischen Ordnung gilt es, mittels Gedächtnispolitik eine neue Wirklichkeitsordnung zu etablieren, mit der Wissenselemente diskreditiert werden, die für bestimmte soziale Akteure weiterhin identitätsstiftend sind. Zur Erläuterung dieser These wird in Auseinandersetzung mit bestehenden Ansätzen ein funktionalistisches Gedächtniskonzept eingeführt, das auf die Fähigkeit abhebt, Wissensbestände zu klassifizieren, und somit die sozialen Bedingungen der Produktion von Sinn in den Mittelpunkt rückt. Die in theoretischer Hinsicht aufgezeigten Zusammenhänge werden durch Beispiele aus dem Kontext der deutschen Vereinigung und der Welt des Militärs veranschaulicht.
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Notes
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Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Ergebnissen eines von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Berlin) geförderten Forschungsprojektes, das sich mit Integrationsverläufen vormaliger Berufsoffiziere der NVA im vereinten Deutschland befasst. Teile davon wurden auf dem Dreiländerkongress in Innsbruck vorgestellt (Leonhard 2011). Für ihre Kommentare zu früheren Fassungen dieses Textes danke ich Oliver Schwab sowie den Herausgebern.
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Soziale Welten können als „relativ dauerhafte, durch relativ stabile Routinen ‚arbeitsteilig‘ abgesicherte, das heißt ‚institutionalisierte‘ Wahrnehmungs- und Handlungsräume“ (Soeffner 1991, S. 6) verstanden werden.
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Siehe hierzu auch die Überlegungen von Gerd Sebald und Jan Weyand (2011) zur „Formierung sozialer Gedächtnisse“, die in eine ähnliche Richtung weisen.
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Nach Schwab-Trapp (1996, S. 95) bestimmt die Basiserzählung einer Gesellschaft „den Status der Gegenwart in Relation zu ihrer Vergangenheit“. Sie beruht auf „narrativen Schemata“ die eine Geschichte konstituieren, die „zugleich Erklärung und Rechtfertigung“ der bestehenden Gesellschaftsordnung ist.
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Zwischen einem so gefassten Begriff der Wirklichkeitsordnung und dem aus der sozialwissenschaftlichen Wissen(schaft)sforschung geläufigen Ausdruck der Wissensordnung gibt es ebenfalls eine Reihe von Parallelen. Beide Konzepte heben auf „gesellschaftliche Arrangements der Produktion und Diffusion von Wissen“ ab, die über die „Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit von Wissensbeständen“ bestimmen (Weingart 2003, S. 139). Der Ausdruck ‚Wissensordnung‘ wird häufig in Bezug auf die Entstehungsbedingungen und Funktionsweisen von wissenschaftlich produziertem Wissen verwendet. Dagegen hebt der hier favorisierte Begriff der Wirklichkeitsordnung in erster Linie darauf ab, den Anspruch auf (gesamt)gesellschaftliche Gültigkeit der auf dieser Ordnung beruhenden Wirklichkeit(en) und der dazugehörigen Wissensbestände zum Ausdruck zu bringen. Während für Wissensordnungen die Unterscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen konstitutiv erscheint (Huber 2007, S. 797), legen Wirklichkeitsordnungen in erster Linie fest, was als selbstverständlich sowie als normal und richtig gilt (und was nicht).
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Mit Schwab-Trapp (1996, S. 94) ist darauf hinzuweisen, dass Wirklichkeitsordnungen keine materielle Gestalt haben sondern nur virtuell existieren. Erst indem politische Akteure in der politischen Praxis auf Handlungs- und Deutungsmuster zurückgreifen, wird die entsprechende Wirklichkeitsordnung realisiert, das heißt aktualisiert und gegebenenfalls transformiert.
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König verwendet ihn deskriptiv als Oberbegriff für verschiedene Formen, „in denen das Gedächtnis als Ressource für politische Zwecke in Anspruch genommen wird (2008, S. 12).
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So ist z. B. nach Thomas Ahbe (2001) die in den 1990er Jahren zu beobachtende Renaissance der Produkt- und Symbolkultur der DDR als Reaktion sowohl auf die mit der Vereinigung schlagartig verschwundenen Zeichen des DDR-Alltags als auch auf die westdeutsche Diskurshoheit zu verstehen, die eine adäquate Repräsentation ostdeutscher Erfahrung – und somit ostdeutscher Wissensbestände – in der Öffentlichkeit, insbesondere in den Medien, verhindert(e).
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Leonhard, N. (2014). Gedächtnis, Wissen und soziale Integration. In: Dimbath, O., Heinlein, M. (eds) Die Sozialität des Erinnerns. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03470-2_11
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