Zusammenfassung
Die Einführung der Pflegeversicherung in der Bundesrepublik Deutschland in den 1990er Jahren hat durch erhebliche Umstrukturierungsmaßnahmen innerhalb des Pflegesektors einen „Übergang vom Pflegesektor zum Pflegemarkt“ angestoßen (Blüher und Stosberg 2005, S. 177, Herv. im Orig.). Die Prinzipien der Effizienz und des Marktes haben an Bedeutung gewonnen, sodass bspw. Managementmodelle und -konzepte zur Steuerung des Betriebsablaufs eine führende Rolle in den Organisationen der Pflege eingenommen haben (vgl. Rosenthal 2005). Seither sind die Rahmenbedingungen des pflegerischen Handelns an ökonomische Kriterien gekoppelt (vgl. Friesacher 2008). Die Konsequenzen, die diese Maßnahmen für die Pflegepraxis haben, wurden schnell deutlich. Mittelkürzungen, Stellenabbau, Rationalisierungen und Preissenkungen sind die gravierendsten Folgen, die auch mit Risiken für die Qualität der Pflege verbunden sind (vgl. Simon 2000). Auch empirische Studien belegen, dass sich die Pflegeversicherung überwiegend negativ auf die Pflegepraxis und die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals auswirkt (vgl. Blüher und Stosberg 2005; Büssing et al. 2001; Schneekloth und Müller 2000).
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Notes
- 1.
Vgl. Alzheimer Gesellschaft Deutschland, http://www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/alz/pdf/factsheets/FactSheet01_2012_01.pdf, zugegriffen am 24. Juni 2013.
- 2.
Der Begriff der Pflegekraft wird synonym für (examinierte) Pflegefachkräfte und Pflegehilfskräfte verwendet. Auch wenn die Professionalisierung der Pflege eine wichtige Rolle für die Interpretation bestimmter Analyseaspekte spielt, war sie für eine erste Analyse der Handlungsstrategien von Pflegekräften im Umgang mit Menschen, die von einer Demenz betroffen sind, nicht zentral. Wenn die Differenzierung Fachkraft bzw. Hilfskraft von Bedeutung ist, wird dies im Text kenntlich gemacht.
- 3.
Um eine Anonymisierung zu gewährleisten, wurde allen Akteurinnen und Akteuren der Studie ein Pseudonym zugeordnet.
- 4.
In Anlehnung an Giddens (1997) wird hier auf die „Dualität von Handlung und Struktur“ hingewiesen, um zu verdeutlichen, dass die Prozesse der Ökonomisierung nicht allein handlungseinschränkend als struktureller Zwang in der Pflegepraxis zu verstehen sind, sondern dass Struktur und Handeln sich gegenseitig beeinflussen. Dies bedeutet, dass Strukturen auch handlungsermöglichend sind. Für die Suche nach Handlungsalternativen in der Pflegepraxis (von Menschen mit Demenz) ist ein solches Verständnis nicht unbedeutend.
- 5.
Giddens (1997, S. 111–116) legt eine Untersuchung des „Phänomens der Routine“ nahe, um das Zusammenwirken von Handlung und Struktur zu analysieren. Kritische Situationen, die einen Bruch routinierter Handlungsabläufe beschreiben, können Routinisierungsprozesse offenlegen.
- 6.
Im statistischen Vergleich wird hier eine Norm hergestellt, die beweglich und dynamisch ist. Nicht die Individuen werden an der Norm ausgerichtet, die Norm richtet sich am statistischen Durchschnitt aus. Die Grenze zwischen Normal und Abweichung wird somit flexibel, die Normalitätszonen weiten sich aus (vgl. auch Waldschmidt 2003).
- 7.
Die Begleiter waren nicht mehr dazu in der Lage, sich freundlich und persönlich jedem Gast zuzuwenden, als die Zahl der Sitzplätze pro Maschine erhöht und die Zahl der Flugbegleiter gesenkt wurde. In Anlehnung an Hochschild zeigt Edding (1988), welche Dauerschäden durch die hochgradige Identifikation (eine hohe emotionale Investition in die Arbeit) unter Marktdruck erfolgen können. Sie kann auf Dauer zu Burnout-Effekten führen (tiefe Erschöpfung und gefühlsmäßige Abstumpfung). Andere Folgen sind die mögliche Diskrepanz zwischen den Rollen (ein Gefühl der Distanz zwischen gefühltem und geäußertem Gefühl) und das Erwachsen von Schuldgefühlen gegenüber den Dienstleistungsempfängern.
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Newerla, A. (2014). Menschen mit Demenz im Spannungsfeld von Markt und Sorge. In: Bornewasser, M., Kriegesmann, B., Zülch, J. (eds) Dienstleistungen im Gesundheitssektor. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02958-6_15
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