Zusammenfassung
Eine Hinwendung zur Erzählung lässt sich sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis beobachten. Die zentrale Bedeutung von Narrativen in der Sinnvermittlung menschlicher Kommunikation wird kaum noch bestritten. Jedoch ist noch nicht geklärt, welche Implikationen und forschungspraktischen Konsequenzen sich aus dieser Einsicht für die Politikwissenschaft ergeben. Welche Funktion nehmen Narrative in der gesellschaftlichen Verständigung ein? Worin liegt die prägende Kraft von Narrativen für die Politik? Was ist das Politische am Erzählen? Welche erzählerischen Techniken und Praktiken lassen sich besonders bei politischen Akteuren beobachten? Wie unterscheidet sich solch eine Forschungsperspektive von Ansätzen, die Argumente oder Diskurse in den Mittelpunkt stellen? Der vorliegende Beitrag will sich diesen Fragen konzeptionell nähern und so grundlegende Probleme einer politikwissenschaftlichen Narrativanalyse beleuchten. Als vorläufiges Ergebnis wird eine offene Heuristik vorgeschlagen, die den Fokus auf das Narrative für die Politikwissenschaft fruchtbar machen möchte.
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Notes
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Der vorliegende Konzeptband ist das Ergebnis eines Autorenworkshops, der am 23.11.2012 in Duisburg an der NRW School of Governance stattfand und aus einer Kooperation mit dem Käte Hamburger Kolleg/Centre for Global Cooperation Research und dem Profilschwerpunkt der Universität Duisburg-Essen „Wandel von Gegenwartsgesellschaften“ entstanden ist. Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen Autorinnen und Autoren des Bandes bedanken. Ein besonderer Dank gilt den Diskutanten und Rednern des Workshops Christoph Bieber, Anna Geis, Wilhelm Hofmann, Frank Nullmeier und Willy Viehöver. Der Impuls, sich mit Politischen Narrativen auseinanderzusetzen, setzte jedoch früher ein und wurde als Forschungsprojekt von der Stiftung Mercator finanziell gefördert und von der NRW School of Governance institutionell und gedanklich unterstützt. Für wertvolle Hinweise zu diesem einführenden Beitrag danken wir Martin Florack und Karl-Rudolf Korte.
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Weitere Varianten des diskursanalytischen Programms wie die critical discourse analysis in der Tradition von Norman Fairclough, Gesprächs- bzw. Konversationsanalysen oder stärker kulturalistisch geprägte Diskursanalysen lassen sich als Ausdifferenzierungen dieser beiden Gegenpole verstehen.
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Vgl. hierzu etwa die Staat-als-Gärtner-Metapher und ihre besondere Performativität, die Zygmunt Bauman (2005) beschrieben hat.
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Anders Martinez und Scheffel (2012), die die Unterscheidung in faktuales und fiktionales Erzählen dezidiert herausgearbeitet haben und für eine klare Differenzierung beider Erzählformen plädieren.
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Dieses Bild wird in den zwei eindrucksvollsten Filmen zur Finanzkrise Margin Call und Inside Job insoweit bekräftigt, da die Protagonisten allesamt auf die Mechanismen und Kräfte des Marktes nur hilflos reagieren können und in ihrer Mischung aus Zynismus und Unverständnis das Gegenbild zum unantastbaren Strippenzieher Gordon Gekko aus Wall Street bilden.
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Ein Beispiel für eine solche Vorwärtsgeschichte kann der neuen Schrift von Claus Leggewie und Harald Welzer (2011) entnommen werden, die umgekehrt die Zukunft Europas in der wachsenden Kooperation mit den Mittelmeerländern sehen.
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Gadinger, F., Jarzebski, S., Yildiz, T. (2014). Politische Narrative. Konturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie. In: Gadinger, F., Jarzebski, S., Yildiz, T. (eds) Politische Narrative. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02581-6_1
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