4.1 Körperkontakt nach der Känguru-Methode

Unter der „Känguru-Methode “ versteht man lange andauernden Hautkontakt zwischen einem früh- oder normalgeborenen Säugling und seiner Mutter oder seinem Vater. Das Kind wird nur mit einer Windel bekleidet zwischen die Brüste der Mutter oder auf die Brust des Vaters gelegt. Es wird zugedeckt und bekommt meist ein Mützchen an, damit es nicht auskühlt. Diese Form des Körperkontakts wird heute in nahezu allen Frühgeborenenstationen angeboten.

Die Verwendung der Bezeichnung Känguru-„Methode“ für diesen Weg des frühen, langen Hautkontakts dient der schnellen und eindeutigen Kommunikation zwischen allen, die in Praxis und Forschung mit Neugeborenen und insbesondere Frühgeborenen zu tun haben. Der Begriff „Methode“ kann jedoch irreführend sein, da eigentlich ein Verhalten gemeint ist, das Mutter und Kind von der Natur, also fest in den Genen verankert, mitgegeben ist. Mutter bzw. Vater und Kind verfügen über genetisch mitgegebene gegenseitige Regulationsmechanismen. Diese steuern einerseits eine Vielzahl grundlegender physiologischer Vorgänge wie beispielsweise die Regulation von Körpertemperatur und Atmung des Säuglings oder die Milchproduktion bei der Mutter. Sie haben andererseits die Funktion, gleich nach der Geburt eine Bindung zwischen Mutter bzw. Vater und Kind aufzubauen, die so stark ist, dass für die Eltern ab dem Moment der Geburt die Versorgung des Kindes zum obersten Ziel wird. Wie wir im Folgenden zeigen werden, sind all diese wechselseitigen Regulationsprozesse, die im Körperkontakt optimal ablaufen, auch für eine gute körperliche und geistige Entwicklung des Kindes von größter Bedeutung.

Im 20. Jahrhundert kam es im Bereich der Medizin zu geradezu unglaublichen Fortschritten. Diese haben einerseits dazu geführt, dass sich die Überlebenschancen Frühgeborener, insbesondere auch sehr kleiner Frühgeborener, ständig erhöht haben. Andererseits sind die hirnorganischen Beeinträchtigungen frühgeborener Kinder deutlich zurückgegangen. Im Zusammenhang mit einer immer besseren medizinischen Versorgung trat jedoch die hohe Bedeutung der intuitiven Mutter-Kind-Regulation gerade in den ersten Lebensstunden und -tagen über lange Zeit in den Hintergrund. „Wiederentdeckt“ wurden die positiven Auswirkungen eines frühen, lange andauernden Körperkontakts zunächst durch eine Notsituation im Rahmen der Versorgung Frühgeborener in Bogotá (Kolumbien). Weil nicht genügend Inkubatoren zur Verfügung standen, legten zwei behandelnde Ärzte, Edgar Rey und Héctor Gómez (1983), die Kinder auf die Körper ihrer Mütter, um sie warm zu halten. Rasch stellte man fest, dass sich die Frühgeborenen im Körperkontakt sehr gut entwickelten, ja sogar gesünder waren und eine geringere Sterblichkeit hatten als die Kinder im Inkubator.

Zur gleichen Zeit entwickelte die Kinderärztin Marina Marcovich auf der Frühgeborenen-Intensivstation in Wien am Mautner Markhof’schen Kinderspital das Konzept der „sanften Neonatologie “. Ihr Ziel war es, so weit wie möglich auf intensivmedizinische Versorgung zu verzichten, um den Kindern stattdessen Körperkontakt, Beziehung, eine angemessene Stimulation durch Mutter und Vater sowie Ruhe statt des hohen Geräuschpegels auf der Intensivstation anzubieten.

Der Widerstand seitens der Schulmedizin gegenüber dieser neuen Vorgehensweise war anfangs massiv. Gegen Frau Dr. Marcovich wurde ein Strafverfahren wegen der angeblichen fahrlässigen Tötung von 16 Frühgeborenen in die Wege geleitet. Bald stellte sich jedoch heraus, dass die meisten dieser Kinder gar nicht ihre Patienten waren. Auch bezüglich der anderen wurde das Verfahren eingestellt.

Marcovich (Marcovich & de Jong, 2008) stellte erste Statistiken vor, die zeigen, dass die Frühgeborenen, die auf ihrer Station unter dem Konzept der „sanften Neonatologie“ behandelt wurden, weniger Erkrankungen und eine geringere Sterblichkeit hatten als Kinder anderer rein intensivmedizinisch arbeitender Stationen. Seit diesen ersten Anfängen wurde eine immense Anzahl von Studien zum Einfluss des Körperkontakts auf Gesundheit und Entwicklung des Kindes sowie die Eltern-Kind-Beziehung durchgeführt. Diese Studien wurden sowohl an Risikokindern (wie Frühgeborenen bzw. Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht) als auch an termingerecht geborenen, gesunden Säuglingen durchgeführt. Sie bestätigen die Erfahrungen von Marina Marcovich, Edgar Rey und Héctor Gómez.

Bei der Beurteilung der im Folgenden wiedergegebenen Forschungsergebnisse ist wichtig: Die heutzutage hohe Überlebensrate und den guten Gesundheitszustand von Frühgeborenen verdanken wir einer intensiven medizinischen Versorgung dieser Kinder. Daher wird in allen Studien die Känguru-Methode immer in Ergänzung zu einer rein medizinischen Versorgung (Sicherung von Atmung, Temperatur und Ernährung, Schutz vor Infektionen) durchgeführt. In dem Maße, in dem das Kind im Körperkontakt intensivmedizinische Maßnahmen nicht mehr benötigt, werden diese dann reduziert oder abgesetzt.

4.2 Positiver Einfluss des Körperkontakts auf die Gesundheit

Eine Übersicht über Forschungsergebnisse zum Gesundheitszustand gibt die Metaanalyse der Cochrane Collaboration (Conde-Agudelo, Belizan, & Diaz-Rossello, 2011). Dort werden 16 Studien an insgesamt 2 518 Risikokindern mit einem Geburtsgewicht unter 2 500 Gramm zusammengefasst. In nahezu allen Studien wurde mit der Känguru-Methode begonnen, nachdem das Kind medizinisch stabil war. Es zeigte sich, dass diejenigen Kinder, die Körperkontakt nach der Känguru-Methode bekamen, im Vergleich mit rein konventioneller Versorgung weniger Infekte hatten. Sie nahmen mehr an Gewicht zu und konnten früher aus der Klinik entlassen werden. Für Länder mit niedrigem oder mittlerem Einkommen wurde eine signifikant geringere Sterblichkeit gefunden. Offensichtlich kann hier Körperkontakt die ungünstigeren Voraussetzungen in der Versorgung der Kinder zum Teil ausgleichen. Zu einem entsprechenden Ergebnis kommt auch die Metaanalyse von Lawn et al. 2010.

Metaanalyse: Was ist das?

Eine Metaanalyse fasst Ergebnisse von Einzelstudien zu einer bestimmten Fragestellung an einer bestimmten Patientengruppe zusammen. Man geht dabei so vor, dass zunächst alle entsprechenden Studien gesammelt werden. In einem nächsten Schritt werden diejenigen Arbeiten ausgeschlossen, die nicht den Kriterien eines sauberen wissenschaftlichen Arbeitens entsprechen. Für die verbleibenden Studien werden mithilfe statistischer Verfahren Kennwerte für die Wirksamkeit des Verfahrens berechnet.

4.2.1 Cochrane Collaboration (CC)

„Die Cochrane Collaboration ist eine internationale gemeinnützige Organisation mit dem Ziel, aktuelle medizinische Informationen und Evidenz zu therapeutischen Fragen allgemein verfügbar zu machen. Ziel ist es, allen Akteuren im Gesundheitswesen zu ermöglichen, Entscheidungen zu erleichtern und Patienten aufzuklären und zu beraten. Erreicht wird dies vor allem durch die Erstellung, Aktualisierung und Verbreitung systematischer Übersichtsarbeiten („systematic reviews“). Die Cochrane Collaboration wurde 1993 gegründet und nach dem britischen Epidemiologen Sir Archibald Leman Cochrane benannt“ (aus: http://cochrane.de/de/arbeitsgebiet-cc, zuletzt abgerufen am 10.3.2014).

Inzwischen gibt es erste Versuche, Körperkontakt bei Gesundheitsproblemen Neugeborener gezielt einzusetzen. So konnte die erforderliche Dauer der Phototherapie bei Säuglingen mit Gelbsucht durch Körperkontakt deutlich verkürzt werden (Samra, El Taweel & Cadwell. 2012).

4.3 Positiver Einfluss von Körperkontakt auf die Selbstregulation

Ab dem Moment der Geburt muss der Säugling eine Vielzahl physiologischer und emotionaler Prozesse und Verhaltensweisen in Abhängigkeit von den eigenen Bedürfnissen und den Anforderungen der Umwelt möglichst optimal regulieren. Hierzu gehören u. a.:

  • die Steuerung von Körperfunktionen (z. B. Temperaturregulation, Nahrungsaufnahme),

  • die Steuerung des eigenen Aktivierungsniveaus (z. B. Schlaf-Wach-Regulation, Beruhigung nach Stress auslösenden Ereignissen),

  • die Steuerung der Aufmerksamkeit,

  • die Steuerung des eigenen emotionalen Zustands,

  • die Steuerung der Interaktion mit anderen Menschen.

Nach der Geburt ist das Baby bei der Regulation dieser Vorgänge noch wesentlich abhängig von der Unterstützung durch eine enge Bezugsperson. Die Mutter bzw. der Vater unterstützt die Regulationsprozesse des Babys durch genetisch mitgegebene Verhaltensweisen und physiologische Prozesse. Je älter das Kind wird, desto besser gelingt ihm eine Selbstregulation seines Verhaltens. Dieses Lernen von Selbstregulation oder „Eigensteuerung“ (Jansen & Streit, 2006) ist einer der wichtigsten Entwicklungsbereiche im Säuglingsalter und setzt sich in den nächsten Lebensjahren fort.

Eine große Anzahl von Studien hat gezeigt, dass sich Körperkontakt positiv auf die Regulation und auf den Erwerb von Selbstregulation in unterschiedlichsten Bereichen auswirkt. Die folgenden Ergebnisse zum Einfluss von Körperkontakt auf die Selbstregulation sind ganz besonders wichtig in Hinblick auf eine Gruppe von Säuglingen mit sog. „Regulationsstörungen“. Diese Kinder zeigen Besonderheiten im Verhalten wie exzessives Schreien, Fütter- bzw. Schlafstörungen. Säuglinge mit Regulationsstörungen haben im Vergleich zu unauffälligen Babys vermehrt Schwierigkeiten, sich auf Körperkontakt einzulassen (vgl. Kap. 12).

4.3 Körpertemperatur

Über den Hautkontakt wird das Baby bei der Regulation seiner Körpertemperatur unterstützt. Die Temperatur der mütterlichen Brust verändert sich in Abhängigkeit von der Temperatur des Neugeborenen. Wenn das Baby zu kühl wird, kann die Temperatur der mütterlichen Brust um bis zu einem Grad ansteigen, um das Kind zu wärmen. Wird das Kind zu warm, so kühlt die Brust entsprechend ab. Dies gelingt sogar bei Zwillingen. Hier passen sich die Brüste unabhängig voneinander den Bedürfnissen des Kindes, das auf ihnen liegt, an (Ludington-Hoe et al., 2006).

4.3 Stillen

Lange bekannt und in vielen Studien bestätigt ist, dass Mütter, die frühen Körperkontakt mit ihrem Säugling bekamen, über einen längeren Zeitraum stillen (Metaanalysen von Conde-Agudelo et al., 2011, und Moore, Anderson, Bergman & Dowswell, 2012).

In einer über mehrere Jahre in Stockholm durchgeführten Studie, an der 103 Mutter-Kind-Paare teilnahmen, wurde erstmals gezielt untersucht, inwieweit Körperkontakt hilft, Probleme beim Stillen zu lösen (Svensson et al., 2013). Die teilnehmenden Kinder waren zwischen 2 und 6 Wochen alt. In allen Fällen bestanden starke Stillprobleme: Über die Hälfte der Kinder tranken überhaupt nicht an der Brust, die anderen nur bei Verwendung eines sog. „Brusthütchens“ oder so schlecht, dass zugefüttert werden musste. Alle Mütter hatten bereits ohne Erfolg an einer Stillberatung teilgenommen. Durch Zufallszuweisung wurden die Mutter-Kind-Paare einer von zwei Gruppen zugeordnet: In der einen Gruppe wurden die Kinder entsprechend der Känguru-Methode nackt zwischen die Brüste der Mutter gelegt, mit dem Ziel, genetisch mitgegebenes Saugverhalten des Kindes über den Körperkontakt abzurufen. In der Vergleichsgruppe waren Mutter und Kind bekleidet und das Stillen wurde in der typischen seitlichen Stillhaltung durchgeführt. Untersucht wurde, wie lange es dauerte, bis ein normales Stillen problemlos möglich war. In der Gruppe mit Hautkontakt dauerte dies 2 Wochen, in der Gruppe ohne Hautkontakt mehr als doppelt so lange (4,7 Wochen). Auch berichteten die Mütter der Gruppe mit Hautkontakt über mehr positive Gefühle in Zusammenhang mit dem Stillen .

4.3 Schreien

Neugeborene, die in den ersten Stunden nach der Geburt Körperkontakt mit ihrer Mutter hatten anstatt in ein Kinderbett gelegt zu werden, schrien in dieser Zeit deutlich weniger (Christensson et al., 1992, 1995; Chwo et al., 2002; Mazurek et al., 1999). Auch wenn – nach einem Kaiserschnitt – der Körperkontakt vom Vater angeboten wurde, schrien die Kinder weniger (Erlandsson, Dsilna, Fagerberg & Christensson, 2007).

4.3 Schlaf und Schlaf-Wach-Regulation

Etwa ab der 30. Schwangerschaftswoche beginnt sich beim Fötus ein Schlaf-Wach-Rhythmus herauszubilden. Bei Frühgeborenen findet eine entsprechende Entwicklung außerhalb des Uterus statt. Im Alter von 6 Monaten ist in der Regel ein sicherer Schlaf-Wach-Rhythmus vorhanden. Die Fähigkeit, das Schlaf-Wach-Verhalten selbst zu regulieren, wird als ein wichtiges Anzeichen für die neurosensorische Reifung des Säuglings angesehen (Weisman et al., 2011).

Sowohl viel ruhiger Schlaf als auch ein früh ausgereifter Schlaf-Wach-Rhythmus sind Prädiktoren für einen guten Entwicklungsverlauf (Anders, Keener & Kraemer, 1985; Holditch-Davis, Belyea & Edwards, 2005; Weisman et al., 2011). Beides wird über den Körperkontakt positiv beeinflusst. Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass Körperkontakt sowohl bei Frühgeborenen als auch bei Normalgeborenen zu einer Verbesserung des Schlafverhaltens mit mehr ruhigem Schlaf und einer reiferen Schlaf-Wach-Regulation führt. So bekam beispielsweise eine Gruppe von Frühgeborenen (24.–34. Schwangerschaftswoche) an 14 Tagen jeweils mindestens eine Stunde Körperkontakt. Den Rest des Tages wurden die Kinder ebenso wie die Kontrollgruppe im geschlossenen Inkubator betreut. Im Vergleich zur Kontrollgruppe hatten die Kinder mit Körperkontakt zu einem späteren Messzeitpunkt (errechneter Geburtstermin) mehr ruhigen Schlaf und weniger unruhigen Schlaf. Ihr Schlaf-Wach-Zyklus war regelmäßiger (Feldman, Weller, Sirota, & Eidelman, 2002; ähnliche Ergebnisse finden sich u. a. bei Feldman & Eidelman, 2003; Feldman et al., 2002; Ferber & Makhoul, 2004; Ludington-Hoe et al., 2006).

Chwo et al. (2002) zeigten, dass für die Verbesserung des Schlafens tatsächlich der Körperkontakt entscheidend ist und es nicht ausreicht, dass die Kinder nur einfach ohne dichten Kontakt im Arm ihrer Mütter sind. Sie untersuchten 68 Frühgeborene (34.–36. Schwangerschaftswoche). Die Hälfte der Kinder erhielt insgesamt 6-mal jeweils eine Stunde Körperkontakt in Form der Känguru-Methode. Die andere Hälfte der Kinder wurde in der gleichen Zeit von ihren Müttern in Decken gewickelt im Arm gehalten. Es zeigte sich, dass die Kinder mit Körperkontakt fast 3-mal so lange ruhig schliefen (62% vs. 22 % der Zeit).

4.3 Aufmerksamkeit und Wachheit

In der eben beschriebenen Studie von Chwo et al. (2002) zeigte sich auch, dass die Kinder im Körperkontakt etwa doppelt so lange wach und aufmerksam waren. Zu einem entsprechenden Ergebnis kamen Feldman et al. (2002). Darüber hinaus befanden sich die Babys, wenn sie Körperkontakt hatten, deutlich weniger Zeit in einem schläfrigen Zustand (2% vs. 15% der Zeit, Chwo et al., 2002). Wie wir in Kap. 10 darstellen, ist eine solche Schläfrigkeit bzw. physiologische Unteraktivierung eine häufig zu beobachtende Besonderheit bei Frühgeborenen. Ein solcher Zustand ist für das Lernen im Bereich Beziehung und in anderen Bereichen ungünstig.

4.3 Bewältigung unangenehmer oder schwieriger Situationen

Körperkontakt hilft, unangenehme oder schwierige Situationen besser zu bewältigen. Beispielsweise schrien Säuglinge bei einer Blutentnahme durch Stich in die Ferse im Körperkontakt um 82% weniger, als wenn sie nur auf dem Untersuchungstisch lagen. Sie verzogen ihr Gesicht um 65% weniger (Gray, Watt & Blass, 2000). Okan et al. (2010) fanden in der entsprechenden Situation bei Körperkontakt neben einer Verminderung des Schreiens auch eine höhere Sauerstoffsättigung sowie einen geringeren Anstieg der Herzfrequenz (s. auch Kashaninia et al., 2008; Freire, Garcia & Lamy 2008; Castral et al., 2008; Ludington-Hoe, Hosseini & Torowicz, 2005; Johnston et al., 2003). Impfschmerz wird im Körperkontakt ebenfalls besser ertragen (Saeidi et al., 2011).

Auch Situationen mit vielen, starken und neuartigen Sinnesreizen können Stress auslösen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn Sinnesreize über verschiedene Modalitäten, z. B. Hören, Sehen, Fühlen und Bewegung, gleichzeitig oder in dichtem Wechsel erlebt werden. Feldman et al. (2002) beobachteten das Verhalten von ehemaligen Frühgeborenen im Alter von korrigiert 3 Monaten mithilfe einer Untersuchungssituation, bei der die Kinder mit zunehmend schwierigeren visuellen, auditiven und taktilen Reizen konfrontiert wurden. Das Kind war auf dem Schoß der Mutter, dem Untersucher zugewandt. Dieser begann zunächst mit einem eher einfachen visuellen Reiz, indem er dem Kind für 20 Sekunden ein einfaches Spielzeug zeigte. Nach einer kurzen Pause wurde als Nächstes das Spielzeug gezeigt und gleichzeitig das Kind angesprochen. In entsprechender Weise wurde die Schwierigkeit der Situation allmählich weiter erhöht, bis dem Baby als schwierigstes Item ein schnell bewegtes Auto gezeigt wurde, das laute Geräusche machte und blinkte.

Es zeigte sich, dass Babys, die als Frühgeborene mit der Känguru-Methode betreut worden waren, diese Situationen besser bewältigten als Babys, die keine Känguru-Methode bekommen hatten:

  • Sie schauten länger auf den jeweiligen Reiz.

  • Sie zeigten mehr positiven Affekt.

  • Es dauerte länger, bis sie zu schreien begannen.

Diejenigen Babys, die Körperkontakt nach der Känguru-Methode bekommen hatten, zeigten also eine günstigere Selbstregulation im Umgang mit der schwierigen Situation. Dies führte in Zusammenhang mit der immer intensiveren sensorischen Stimulation zu weniger Stress. Langfristig bedeutet das bei den Kindern beobachtete Verhalten, länger zu schauen und sich in der neuen Situation länger gut zu fühlen, auch eine verbesserte Fähigkeit zu lernen (Jansen & Streit, 2006). Dies dürfte ein wichtiger Grund sein für die bessere Entwicklung von Kindern, die früh viel Körperkontakt bekommen (s. ▶ Abschn. 4.5).

4.4 Positiver Einfluss von Körperkontakt auf die Befindlichkeit der Mutter und die Eltern-Kind-Interaktion

4.4 Befindlichkeit der Mutter

Auch die Mütter Frühgeborener profitierten vom frühen Körperkontakt mit ihrem Baby. So wurde ein positiver Einfluss der Känguru-Methode auf die Häufigkeit von Wochenbettdepressionen gefunden (Ahn, Lee & Shin, 2010; de Alencar, Arraes, de Albuquerque & Alves, 2009; Feldman, Eidelman, Sirota & Weller, 2002). Eine weitere Studie fand ein besseres Selbstwertgefühl der Mütter (Lee & Bang, 2011). Während des Körperkontakts selbst wurde bei den Müttern Frühgeborener eine Abnahme des Hormons Cortisol sowie der Herzfrequenz gemessen. Beides spricht für eine zunehmende Entspannung im Verlauf des Körperkontakts. Gleichzeitig verbesserte sich die stimmungsmäßige Befindlichkeit der Mütter (Morelius, Theodorsson & Nelson, 2005).

4.4 Eltern-Kind-Interaktion

Feldman et al. (2002) verglichen anhand von Videoaufzeichnungen die Eltern-Kind-Interaktion von Frühgeborenen, die Körperkontakt bekommen hatten bzw. die rein intensivmedizinisch betreut worden waren. Zum Zeitpunkt der ersten Videoaufzeichnungen, kurz vor dem Zeitpunkt des errechneten Geburtstermins, drückten die Mütter der Känguru-Gruppe mehr positive Gefühle gegenüber ihrem Kind aus. Sie berührten ihr Baby mehr und schauten es mehr an. Die Säuglinge, die Körperkontakt bekommen hatten, waren wacher und zeigten weniger Vermeidung von Blickkontakt.

Im Alter von 3 Monaten zeigten in der Gruppe mit frühem Körperkontakt Mütter und Väter mehr Feinfühligkeit gegenüber ihrem Kind (Feldman, Weller, Sirota & Eidelman, 2003). Auch die Beziehung zwischen den Eltern war positiver. Darüber hinaus hatten die Eltern der Känguru-Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe eine häusliche Umgebung geschaffen, die für die kognitive und emotionale Entwicklung der Kinder günstiger war.

Die Videoauswertung einer Spielsituation im Alter von 6 Monaten ergab, dass sich in der Känguru-Gruppe Mutter und Kind fast doppelt so lange wie in der Vergleichsgruppe gemeinsam mit einem einzelnen Spielzeug beschäftigten. Die Mütter der Vergleichsgruppe führten hingegen häufiger neue Spielzeuge ein (Feldman et al., 2002). In der Känguru-Gruppe zeigten die Kinder häufiger einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus mit ihrer Mutter („joint attention“) und ein besseres Explorationsverhalten. Sowohl das bei den Müttern als auch das bei den Kindern beobachtete Verhalten bedeutet eine entscheidende Voraussetzung für ein erfolgreiches Lernen und damit eine günstige kognitive Entwicklung.

Bystrova et al. (2009) untersuchten 124 termingerecht geborene, gesunde Kinder. Diese bekamen in den ersten 2 Stunden nach der Geburt entweder Körperkontakt mit ihrer Mutter oder wurden getrennt. Im Alter von einem Jahr wurden Videoaufzeichnungen der Eltern-Kind-Interaktion in einer freien Spielsituation und in einer strukturierten Lernsituation ausgewertet. Diejenigen Mütter, die unmittelbar nach der Geburt Körperkontakt mit ihren Kindern hatten, waren in ihren Beziehungssignalen feiner auf ihre Kinder abgestimmt. Die Kinder selbst waren weniger dysreguliert und irritierbar.

4.5 Positiver Einfluss von Körperkontakt auf Lernen und Entwicklung

4.5 Kognitive und motorische Entwicklung

Ohgi et al. (2002) fanden bei Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht , die während ihres stationären Aufenthaltes täglich Körperkontakt erhielten, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne Körperkontakt höhere Werte in den Unterskalen „Orientierung“ und „Statusregulation“ der Neonatal Bahavioral Assessment Scale. Mit 12 Monaten schnitten die Kinder der Körperkontaktgruppe in beiden Bayley-Skalen besser ab. Der Unterschied ist für die kognitive Entwicklung statistisch signifikant, für die motorische Entwicklung fast signifikant.

Von Ruth Feldman und ihren Mitarbeitern wurden sehr kleine Frühgeborene untersucht. Eine Gruppe erhielt an mindestens 14 Tagen jeweils mindestens 1 Stunde Körperkontakt, die andere Gruppe nicht. Auch hier zeigte sich in der Gruppe mit Körperkontakt ein reiferes Entwicklungsprofil in der Neonatal Behavioral Assessment Scale (Feldman et al., 2002) sowie eine bessere motorische und kognitive Entwicklung in den Bayley-Skalen (Feldman & Eidelman, 2003).

Auch in der Studie von Tessier et al. (2003) wurde ein positiver Einfluss von Körperkontakt auf die Entwicklung gefunden. Hier bekam eine Gruppe von Frühgeborenen den Körperkontakt vom Geburtszeitpunkt (Durchschnitt 33. SSW) bis zu einem Gestationsalter von 37–38 Wochen rund um die Uhr. Im Vergleich zur Kontrollgruppe hatten die Kinder mit korrigiert 1 Jahr in den Griffith-Skalen (Griffiths, 1970) einen signifikant höheren Intelligenzquotienten. Am meisten profitierten diejenigen Kinder vom Körperkontakt, die nach der Geburt mehr medizinische Komplikationen und im Alter von 6 Monaten mehr neurologische Auffälligkeiten hatten.

Normalgeborene Kinder, die im Rahmen der Studie von Ferber und Makhoul (2004) zusätzlichen Körperkontakt erhielten, hatten eine bessere Motorik . Der positive Effekt auf die motorische Entwicklung ist bis ins Jugendalter zu beobachten. Schneider, Charpak, Ruiz-Pelaez und Tessier (2012) untersuchten mithilfe des Verfahrens der transkraniellen Magnetstimulation (TMS) Hirnareale, die für die Steuerung motorischer Funktionen zuständig sind. Dabei zeigte sich bei Jugendlichen, die als Frühgeborene Körperkontakt entsprechend der Känguru-Methode bekommen hatten, im Vergleich zu ehemaligen Inkubator-Kindern eine höhere Leitgeschwindigkeit sowie eine bessere Synchronisation der Nervenverbände. Auch die Übertragung von Informationen zwischen den beiden Gehirnhälften funktionierte besser.