Zusammenfassung
Mit der Einbeziehung von genetischen Elternschaftstests in Belangen der Familienzusammenführung steht zu befürchten, dass auch ein gen-basiertes Verständnis von Familie in der Zuwanderungspolitik Einzug erhält. Diese mögliche Verlagerung in der Entscheidungsfindung, ob und bei welchen Menschen von schützenswerten Familienbeziehungen gesprochen werden kann, ist problematisch, nicht nur weil sich dadurch die Gruppe derjenigen verschiebt und verringert, die künftig berechtigt sein wird, den Nachzug ihrer Verwandten einzufordern. Man wäre darüber hinaus mit einem ethischen Grundsatzproblem konfrontiert, wenn am Ende ausschließlich anhand biologischer Attribute über die Berechtigung auf soziale Ansprüche entschieden wird: Wie alle anderen Kategorienbildungen entlang körperlicher Merkmale (Haut-, Haar- oder Augenfarbe, Geschlecht, Größe, Statur, etc.) wird hier auf einen Bereich Bezug genommen, der als ‚Jenseits‘ aller sozialen und politischen Gestaltbarkeit festgelegt ist. Durch die Berufung auf solch vermeintlich ‚höhere Wahrheiten‘ würde die politische Verfasstheit und Veränderbarkeit solcher Regelungen verschleiert – und damit auch die politische Verantwortung für die Folgen dieser Reglements geleugnet.
Dritte Strophe aus dem „Kärntner Heimatlied“ (1928).
We’re crime scene analysts. We’re trained to ignore verbal accounts and rely instead on the evidence a scene sets before us. (CSI, Episode 1.02 „Cool Change“, zit. nach Lynch et al. (2008), S. ix)
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Notes
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Artikel 8 der Konvention, über deren Einhaltung der Europarat wacht, besagt: „1) Everyone has the right to respect for his private and family life, his home and his correspondence. 2) There shall be no interference by a public authority with the exercise of this right except such as is in accordance with the law and is necessary in a democratic society in the interests of national security, public safety or the economic well-being of the country, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals, or for the protection of the rights and freedoms of others.“ (ECHR 2010, Protocol No. 14).
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„Die Gesamtschau ergibt, dass der Staat den durch Ehe und Familie vermittelten Zuordnungen eine fundamentale gesellschaftliche Bedeutung zumisst und das personenbezogene Recht darauf aufbaut. […] [D]as Familienrecht gehört seit Beginn der 50er Jahre zu den veränderungsanfälligsten Rechtsgebieten überhaupt. Die Reformen werden – auch über den Gleichberechtigungsgedanken hinaus – von einer individualrechtlichen Konzeption der Familienbeziehungen gespeist, welche die Familie weniger als Einheit denn als Treffpunkt der Rechte der einzelnen Mitglieder sieht: der Rechte der Frauen, der Kinder, der Eltern und in diesem Zusammenhang neuerdings auch wieder der Männer. Die institutionellen Elemente der Familie verblassen im Bereich des Rechts zusehends. Zugleich nimmt die Verrechtlichung der familiären Beziehungen neue Dimensionen an“ (Schwab 2000, S. 730).
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Vgl. Vorträge „Family Transnational Networks in the Migration Process“ von Maria Lisisa Setien, „Transnationale Familienkooperation“ von Ursula Apitzsch, auf der 10. internationalen Konferenz Migration and Family 10. und 11. Juni 2010 an der Universität Basel.
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„Kritische Perspektiven auf Staat und (Einwanderungs-)Familien im Kontext von Ideologie“ von Sinan Özbek; Ebda.
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Wer nun meint, solche transnationalen Familienformen, würden modernen europäischen Verwandtschafts-strukturen grundsätzlich zuwider laufen, sei daran erinnert, das „der Onkel aus Amerika“ eine deutsche Nachkriegserfindung war, eine familiäre Institution geradezu, die so gut etabliert war, dass sie es 1953 sogar auf die Kinoleinwände schaffte.
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Die Betreiberin eines kleinen Gen-Labors berichtete meinem Kollegen Martin Weiss und mir bei einer Podiumsdiskussion 2010 von einem solchen Untersuchungsergebnis. Bei ihren Analysen hatte sich herausgestellt, dass der Ehemann unwissentlich der leibliche Vater seiner Frau war. Allerdings beschloss in diesem Fall die Genetikerin, die Eheleute nicht über diesen unerwarteten Aspekt ihrer Untersuchung zu informieren, weil sie befürchtete, damit sozialen Schaden anzurichten.
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„Der größte Teil des Gesetzlichen betrifft nämlich Handlungen im Sinne der gesamten Tugend. Denn das Gesetz gebietet, gemäß jeder einzelnen Tugend zu leben, und verbietet jede einzelne Schlechtigkeit. Was aber die gesamte Tugend hervorbringt, sind jene Gesetzesvorschriften, die über die Erziehung für die Gemeinschaft erlassen sind“, (Aristoteles 1991, S. 208 1130 b22).
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Während ich im hier diskutierten Zusammenhang sein Bild des Christentums weitgehend teile, beziehen sich seine Untersuchungen der Griechischen Philosophie, soweit ich sehen kann, stärker auf voraristotelische Denker – Xenophon und Platon (Foucault 1986, S. 51). Dadurch liegt sein Focus m. E. stärker auf religiös motivierte Moralvorstellungen als auf dem profanen Charakter von Aristoteles Werken, den ich herauszustreichen versuche.
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Im dritten Unterkapitel widme ich mich deshalb auch der daran anknüpfenden Frage ob die Einführung von DNA-Tests die Grundlagen für die geltende Ethik-Form und damit diese selbst (zumindest teilweise) verändert hat.
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Teile diese Überlegung würde in weiterer Folge vermutlich zu Habermas’ (1996) politischer Theorie führen.
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Die Lösung dieses Dilemmas bestand schließlich darin, die Überprüfung der genetischen Verwandtschaft für alle zu erlauben.
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Verankert ist dieses Recht u. a. im deutschen Verwaltungsverfahrensgesetz § 28.
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Man kann in diesem Zitat schon erkennen, dass Butler und Nietzsche einen anderen, grundlegenderen Begriff von Subjekt verwenden als bspw. Agamben (2008), der damit eher eine Art Selbstbezeichnung zu meinen scheint, über die sich Zugehörigkeiten zu Gruppierungen herstellen lassen. Dieses Selbstverständnis kann dann auch den Stellenwert einer Positionierung bekommen, aus der heraus gehandelt wird. Als Beispiele zählt er etwa auf: den Mobiltelefonbenutzer, den Internetsurfer, den Schreiber von Erzählungen, den Tangobegeisterten und den Globalisierungsgegner (vgl. Agamben 2008, S. 27).
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Vorträge
Apitzsch, U. (2010). Transnationale Familienkooperation“, auf der 10. internationalen Konferenz Migration and Family 10. und 11. Juni 2010 an der Universität Basel.
Setien, M. L. (2010). „Family Transnational Networks in the Migration Process“, auf der 10. internationalen Konferenz Migration and Family 10. und 11. Juni 2010 an der Universität Basel.
Özbek, S. (2010). „Kritische Perspektiven auf Staat und (Einwanderungs-)Familien im Kontext von Ideologie“, auf der 10. internationalen Konferenz Migration and Family 10. und 11. Juni 2010 an der Universität Basel.
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Guggenheimer, J. (2014). „Wo man mit Blut die Grenze schrieb…“ – Philosophisch-ethische Überlegungen zur Anwendung von DNA-Analysen bei Familienzusammenführungen. In: Geisen, T., Studer, T., Yildiz, E. (eds) Migration, Familie und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94126-4_10
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