Zusammenfassung
Die Aufgabe der Sozialgeographie wird heute in der wissenschaftlichen Untersuchung alltäglichen „Geographie-Machens“ unter globalisierten Bedingungen gesehen. Dabei steht nicht mehr so sehr die Frage nach der erdräumnlichen Anordung von natürlichen Gegebenheiten und von menschlichen Akteuren hervorgebrachten Dingen im Vordergund, sondern vielmehr die globalen Bezüge menschlichen Handelns. Diese Neuperspektivierung der geographischen Weltsicht baut auf der Basisprämisse auf, dass wir täglich nicht nur Geschichte machen, sondern auch Geographie; beides allerdings unter nicht selbst gewählten Umständen. Die Forschungsfragen richten sich auf die wissenschaftliche Analyse jener Weltbindungen bzw. Regionalisierungen und daraus resultierender Geographien, welche die Subjekte mittels ihrer Handlungen vollziehen und leben. Die Erforschung der alltäglichen Regionalisierungen in ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereichen hat zum Ziel, die Konsequenzen von globalisierten Lebensformen und Handlungsweisen zu rekonstruieren und unter Umständen nach sozialen, kulturellen, ökonomischen, ethischen und ökologischen Gesichtspunkten zu beurteilen.
In gegenständlicher Hinsicht impliziert die Handlungszentrierung der geographischen Forschung zuerst die Überwindung des meist fraglos vorausgesetzten Containerraumes. Raum kann nicht mehr als gegeben vorausgesetzt werden, sondern wird selbst als Ergebnis und Mittel von handlungsspezifischen Konstitutionsprozessen verstanden. Mit dem aktuell erreichten Stand der theoretischen Durchdringung des Gesellschaft-Raum-Verhältnisses wird die Sozialgeographie für Soziologie und Sozialtheorie, Kulturwissenschaft und -politik zu einem wichtigen Bezugsrahmen der Orientierung, um jegliche Form räumlicher Reduktionismen und daraus resultierende sozial-kulturelle Stereotypisierungen zu vermeiden und problematische räumliche Maßnahmen der Sozialpolitik auf den Prüfstand zu stellen. Die Erfoschung der gesellschaftlichen Raumverhältnisse soll die Hauptaufgabe der Sozialgeographie des 21. Jahrhunderts sein. Mit deren Einlösung soll ein Beitrag zur Meisterung der Herausforderungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten im Zeitalter der digitalen Revolution leisten.
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Notes
- 1.
Von Geodeterminismus wird gesprochen, wenn menschliche Tätigkeiten nur auf physische Einflüsse wie Klima, geographische Lage oder Landschaft reduziert und aus ihnen heraus kausal erklärt werden. „Gemäß den Grundthesen des Geodeterminismus sind alle menschlichen Kulturen und Gesellschaften als Ausdrucksformen natürlicher Bedingungen anzusehen und ursächlich auf diese zurückzuführen“ (Werlen 2000, S. 383).
- 2.
In den deutschen Übersetzungen wird für „locale“ der Begriff „Ort“ verwendet, was in Bezug auf Anthony Giddens Definitionen und Begriffsdifferenzierungen insofern als problematisch einzustufen ist, als eine klare Abgrenzung von „place“ (Ort) angestrebt wird. Es erweist sich als weniger problematisch, „locale“ mit „Schauplatz“ zu übersetzen. Denn gleichzeitig verweist „Schauplatz“ implizit auch auf ein soziales „Ereignis“ mit einem bestimmten Bedeutungsgehalt, was der Absicht Anthony Giddens’ (1979, S. 207) besser entspricht.
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Werlen, B., Reutlinger, C. (2019). Sozialgeographie. In: Kessl, F., Reutlinger, C. (eds) Handbuch Sozialraum. Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit, vol 14. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19983-2_2
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