Zusammenfassung
In dem Beitrag werden einige Überlegungen darüber angestellt, was die Kritische Theorie sperrig machte für die feministische Rezeption und warum es sich dennoch lohnt, sich mit dieser Tradition auseinanderzusetzen. Neben der anhaltenden Relevanz ihrer erkenntnis- und methodenkritischen Reflexionen gibt es dafür einen doppelten Grund: Zum einen sind angesichts der gesellschaftlich-politischen Transformationsprozesse der Gegenwart Theorien, die darauf insistieren, die „Gewalt des Zusammenhangs“ (Negt und Kluge) in einer kapitalismuskritischen, gleichwohl nicht-ökonomistischen Weise zu begreifen und die gesellschaftlich nahegelegten Formen „verwilderter Selbsterhaltung“ (Adorno) auch in ihrer Psychodynamik zu erhellen suchen, von besonderer Bedeutung. Zum anderen repräsentiert die Kritische Theorie ein zeitdiagnostisch ausgerichtetes, selbstreflexives Denken, das sich Rechenschaft ablegt über seine eigene Funktion und Situation in der Gesellschaft. Daraus ergeben sich Anregungen auch für das Nachdenken über die Dialektik feministischer Aufklärung, die Kehrseite der Erfolge feministischer Kritik.
Abstract
The contribution reflects on those aspects of the early Frankfurt School tradition of Critical Theory which made it unwieldy for a broader reception by feminist theorists and aims to explain why a re-inspection of this tradition of theory might still prove fruitful for feminist critique today. In addition to the continuing relevance of Adorno’s and Horkheimer’s thoughts on epistemology and methodology, there are two reasons that constitute its renewed actuality: Firstly, in the context of present societal and political transformation processes, theories that allow to comprehend the ‘force of interconnectivity’ (Negt and Kluge) of capitalism critically in a non-economistic way and that also take into account the psychodynamic dimensions in processes of social transformation, are of particular significance. Secondly, Critical Theory represents a highly self-reflexive theory that gives an account of its own function and historical situation in society. Both aspects help to enhance our insights into the Dialectics of feminist Enlightenment, the dark sides of the successes of feminist Critique.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Similar content being viewed by others
Notes
- 1.
„Der Zirkel schließt sich. Es bedürfte der lebendigen Menschen, um die verhärteten Zustände zu verändern, aber diese haben sich so tief in die lebendigen Menschen hinein, auf Kosten ihres Lebens und ihrer Individuation, fortgesetzt, dass sie jener Spontaneität kaum mehr fähig scheinen, von der alles abhinge.“ (Adorno 1990, S. 18)
- 2.
Der Vorwurf verkennt, dass das Durchführen der Aporie bei Adorno sowohl bewusstes Ausdrucksmittel als auch Erkenntnismedium ist.
- 3.
So formuliert Adorno in dem 1957 veröffentlichten Text zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Forschung prägnant, was später im Positivismusstreit zentraler Gegenstand einer Auseinandersetzung um den Gesellschaftsbegriff und das Verhältnis von Theorie und Empirie werden sollte: „Theoretische Gedanken über die Gesellschaft insgesamt sind nicht bruchlos durch empirische Befunde einzulösen: sie wollen diesen entwischen wie spirits der parapsychologischen Versuchsanordnung. Eine jede Ansicht von der Gesellschaft als ganzer transzendiert notwendig deren zerstreute Tatsachen. Die Konstruktion der Totale hat zur ersten Bedingung einen Begriff von der Sache, an dem die disparaten Daten sich organisieren.“ (Adorno 1990, S. 216) Eher historisch-zeitdiagnostisch angelegt ist das Argument, dass sich angesichts der Übermacht systemischer Herrschaft eine Form der Gesellschaftstheorie, die den Systemcharakter der Vergesellschaftung nur abbilde und damit verdoppele, verbieten würde (s. z. B. Adorno 1990, S. 361 sowie Adorno 1986, S. 167).
- 4.
Zur historischen Kritik des Konzepts des „ganzen Hauses“ vgl. Opitz (1994).
- 5.
Diese These geht zurück auf ein empirisches Forschungsprojekt, das Anfang der 1980er Jahre unter Leitung von Becker-Schmidt am Psychologischen Institut der Universität Hannover stattfand. Darin ging es um die Untersuchung der Lebensverhältnisse und der Erfahrungen von Akkordarbeiterinnen mit kleinen Kindern und einer Vergleichsgruppe von ehemaligen Akkordarbeiterinnen, die wegen der Kinder Erwerbsarbeit aufgegeben hatten (in einer ausführlichen Zusammenfassung: Becker-Schmidt 2004).
Literatur
Adorno, Theodor W. 1971. Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt a. M.
Adorno, Theodor W. 1986. GS 20.1. Vermischte Schriften I. Frankfurt a. M.
Adorno, Theodor W. 1990. GS 8.1. Soziologische Schriften. Frankfurt a. M.
Adorno, Theodor W. 1998. GS 6. Frankfurt a. M.
Adorno, Theodor W., und Max Horkheimer. 1998. GS 3. Frankfurt a. M.
Becker-Schmidt, Regina. 1991. Vergesellschaftung und innere Vergesellschaftung. Individuum, Klasse, Geschlecht aus der Perspektive der Kritischen Theorie. In Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main, Hrsg. Wolfgang Zapf, 383–395. Frankfurt a. M.
Becker-Schmidt, Regina. 2003. Mit Adorno gegen Adorno. Die Bedeutung seiner Kritischen Theorie für eine kritische Geschlechterforschung. In Die Lebendigkeit der kritischen Gesellschaftstheorie. Dokumentation der Arbeitstagung aus Anlass des 100. Geburtstages von Theodor W. Adorno, Hrsg. Andreas Gruschka und Ulrich Oevermann, 65–96. Wetzlar.
Becker-Schmidt, Regina. 2004. Doppelte Vergesellschaftung von Frauen. Divergenzen und Brückenschläge zwischen Privat- und Erwerbsleben. In Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Hrsg. Ruth Becker und Beate Kortendiek, 62–72. Wiesbaden.
Becker-Schmidt, Regina, und Helga Krüger. 2009. Krisenherde in gegenwärtigen Sozialgefügen: Asymmetrische Arbeits- und Geschlechterverhältnisse – vernachlässigte Sphären gesellschaftlicher Reproduktion. In Arbeit. Perspektiven und Diagnosen der Geschlechterforschung, Hrsg. Brigitte Aulenbacher und Angelika Wetterer, 12–42. Münster.
Benhabib, Seyla. 1992. Kritik, Norm und Utopie. Die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie. Frankfurt a. M.
Boatcá, Manuela, und Willfried Spohn, Hrsg. 2010. Globale, multiple und postkoloniale Modernen. München.
Buck-Morss, Susan. 1977. The origin of negative dialectics. New York.
Claussen, Detlev. 1988. Unterm Konformitätszwang. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Psychoanalyse. Bremen.
Dohm, Hedwig. 1986 [1876]. Der Frauen Natur und Recht. Neunkirch.
Dölling, Irene. 2003. Zwei Wege gesellschaftlicher Modernisierung. Geschlechtervertrag und Geschlechterarrangements in Ostdeutschland in gesellschafts- und modernisierungstheoretischer Perspektive. In Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, Hrsg. Gudrun-Axeli Knapp und Angelika Wetterer, 73–101. Münster.
Fraser, Nancy. 2009. Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte. Blätter für deutsche und internationale Politik 54 (8): 43–57.
Gottschall, Karin. 2000. Soziale Ungleichheit und Geschlecht. Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs. Opladen.
Horkheimer, Max. 1988a. Gesammelte Schriften. Schriften 1931–1936, Bd. 3, 20–35. Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max. 1988b. Gesammelte Schriften. Schriften 1936–1941, Bd. 4, 162–217. Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max. 1988c. Gesammelte Schriften. Nachgelassene Schriften 1949–1972, Bd. 14. Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Karl August Wittfogel, Ernst Manheim, Gottfried Salomon, Ernst Schachtel, Harald Mankiewicz, Paul Honigsheim, Kurt Goldstein, Fritz Jungmann, Marie Jahoda, Curt Wormann, Alfred Meusel und Hans Mayer. 1987 [1936]. Studien zu Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. Lüneburg.
Jay, Martin. 1976. Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950. Frankfurt a. M.
Klinger, Cornelia, Gudrun-Axeli Knapp und Birgit Sauer, Hrsg. 2007. Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt a. M.
Knapp, Gudrun-Axeli. 2009. „Trans-Begriffe“, „Paradoxie“ und „Intersektionalität“ – Notizen zu Veränderungen im Vokabular der Gesellschaftsanalyse. In Erkenntnis und Methode. Geschlechterforschung in Zeiten des Umbruchs, Hrsg. Brigitte Aulenbacher und Birgit Riegraf, 309–325. Wiesbaden.
Knapp, Gudrun-Axeli. 2010. „Intersectional Invisibility“: Anknüpfungen und Rückfragen an ein zentrales Konzept der Intersektionalitätsforschung. In Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, Hrsg. Helma Lutz, Maria Teresa, Herrera Vivar und Linda Supik, 223–245. Wiesbaden.
Krüger, Helga. 2001. Gesellschaftsanalyse: der Institutionenansatz in der Geschlechterforschung. In Soziale Verortung der Geschlechter. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik, Hrsg. Gudrun-Axeli Knapp und Angelika Wetterer, 63–91. Münster.
Lenz, Ilse, Hrsg. 2008. Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung. Wiesbaden.
Lutz, Helma, Maria Teresa, Herrera Vivar und Linda Supik, Hrsg. 2010. Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden.
Negt, Oskar, und Alexander Kluge. 2001. Geschichte und Eigensinn. Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen. Deutschland als Produktionsöffentlichkeit. Gewalt des Zusammenhangs. Frankfurt a. M.
Opitz, Claudia. 1994. Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des „ganzen Hauses“. Geschichte und Gesellschaft 20 (1): 89–98.
Osterhammel, Jürgen. 2009. Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München.
Reckwitz, Andreas. 2000. Die Transformation der Kulturtheorie. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist.
Reuter, Julia, und Paula-Irene Villa, Hrsg. 2010. Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention. Bielefeld.
Rumpf, Mechthild. 1989. Spuren des Mütterlichen. Die widersprüchliche Bedeutung der Mutterrolle für die männliche Identitätsbildung in Kritischer Theorie und feministischer Wissenschaft. Frankfurt a. M.
Schimank, Uwe. 2002. Wer gegen wen? Der „Kampf der Götter“ in der funktional differenzierten Gesellschaft. Vortragsmanuskript Hannover. http://www.fernuni-hagen.de/ESGW/SOZ/weiteres/preprints/hannover.pdf: Zugegriffen 30. Januar 2011.
Schmid-Noerr, Gunzelin. 1997. Gesten aus Begriffen. Konstellationen der Kritischen Theorie. Frankfurt a. M.
Wetterer, Angelika. 2002. Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion. „Gender at Work“ in theoretischer und historischer Perspektive. Konstanz.
Wetterer, Angelika. 2003. Rhetorische Modernisierung: Das Verschwinden der Ungleichheit aus dem zeitgenössischen Differenzwissen. In Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, Hrsg. Gudrun-Axeli Knapp und Angelika Wetterer, 286–320. Münster.
Wiggershaus, Rolf. 1986. Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung. München.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2015 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Knapp, GA. (2015). Konstellationen von Kritischer Theorie und Geschlechterforschung. In: Kahlert, H., Weinbach, C. (eds) Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Gesellschaftstheorien und Gender. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19937-5_9
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-19937-5_9
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-19936-8
Online ISBN: 978-3-531-19937-5
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)