Zusammenfassung
Der Artikel gibt einen Überblick über die Nietzsche-Rezeption Werner Stegmaiers von seiner frühen Auseinandersetzung mit Nietzsches Wahrheits- und Metaphysikkritik unter dem Leitmotiv der ‚Fluktuanz‘ über seine Interpretation von ‚Wille zur Macht‘, ‚Übermensch‘ und ‚ewiger Wiederkunft‘ als ‚Anti-Lehren‘ bis hin zur Bedeutung Nietzsches für seine eigene ‚Philosophie der Orientierung‘. Stegmaier schließt an zentralen Punkten an die Deutungen Josef Simons an und bringt Nietzsche nicht nur mit Darwin, sondern auch mit Denkern wie Hegel, Dilthey und Luhmann ins Gespräch. Insbesondere die Verbindungslinien zu Luhmanns Theorie selbstreferenzieller Systeme werden dabei zum Eckstein seiner eigenen Konzeption einer wesentlich auf Selbstbezüge und Paradoxien bauenden Orientierungsphilosophie. Stegmaier begreift Nietzsche durchgängig als Denker der Leiblichkeit, Zeitlichkeit, Kontingenz, Vielfalt und Individualität, der auch in methodischer Hinsicht mit der traditionellen Substanzmetaphysik bricht, insofern er sein eigenes Philosophieren seinerseits dem Paradigma der ‚Fluktuanz‘ unterwirft. Dies dokumentiert sich für Stegmaier nicht nur in dem von Nietzsche diagnostizierten ‚Verlust der Wahrheit‘ oder seinem ‚Begriff des Begriffs‘ als ‚flüssiger Sinn‘, sondern insbesondere auch in seinen Formen philosophischer Schriftstellerei, die sich jeder einfachen Festlegung entziehen und seine Interpret*innen stets aufs Neue verunsichern. Mit seiner These, dass bei Nietzsche Form und Inhalt des Philosophierens untrennbar verbunden sind und daher bei der Interpretation stets auch die konkrete schriftstellerische Gestalt von Nietzsches Texten berücksichtigt werden muss, hat Stegmaier wesentlich zur Etablierung der jüngeren textnahen Forschung beigetragen. Seine polarisierende methodische Forderung, Nietzsches Denken nicht länger zu systematisieren, sondern es in ‚kontextuellen Interpretationen‘ mittels eingehender Lektüren in den von ihm selbst gewählten Kontexten auszulegen, stellt eine ebenso zentrale Herausforderung für die zukünftige Forschung dar wie seine Interpretation von Nietzsches Moralkritik als Perspektivierungspraxis, sein Verständnis von Ecce homo als ‚Autogenealogie‘ oder sein offenes Bekenntnis zum Relativismus.
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Notes
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„In ‚guter‘ und insofern wiederum paradoxer Wissenschaft steht nichts fest, sondern alles, auch ihr Grundsätzlichstes, auch ihre scheinbar letzten Gründe können mit der Zeit wieder in Frage gestellt werden“ Stegmaier 2013, 384.
- 3.
Stegmaier hat über 80 Aufsätze, mehrere Monographien und Sammelbände sowie zahlreiche Lexikonartikel zu Nietzsche publiziert und sich dabei mit einer breiten Vielfalt an Themen sowie nahezu allen wichtigen Werken des Autors intensiv auseinandergesetzt. Die hiesige Darstellung muss sich auf einige wenige Kernaspekte seiner Rezeption beschränken. Eine vollständige Bibliographie findet sich unter http://stegmaier-orientierung.de/veroeffentlichungen-mit-pdf-dateien.html (12.06.2018).
- 4.
Simon 1972.
- 5.
Ulmer 1962.
- 6.
Vgl. Gerhardt 1996.
- 7.
GM, KSA 5, 315.
- 8.
- 9.
Zur selbstbezüglichen Schleifenstruktur, die sich ergibt, wenn man diese provokative Setzung der ‚Theorie‘ des ‚Willens zur Macht‘ gegen konkurrierende Theorien in GM II 12 ihrerseits als Machtanspruch gegen andere Mächte interpretiert, siehe Dellinger 2013, 86–96 sowie Dellinger 2015, 281–304 und 418–423.
- 10.
N 1888, KSA 13, 603.
- 11.
Simon 1981, 211.
- 12.
Heit 2013, 132.
- 13.
Vgl. Dellinger 2013.
- 14.
Vgl. Müller 2009. Zur Problematik dieses Begriffs s. Pichler 2014, 71 f. Der von Pichler gerade im Hinblick auf Nietzsches späte Selbst-Erzählungen favorisierte Begriff der (Auto-)Symptomatologie eignet sich tatsächlich besser, um zu verdeutlichen, dass seine (auto-)symptomatologischen Zugriffe von unterschiedlichsten strategischen, moralischen, polemischen, inszenatorischen oder denunziatorischen Interessen geprägt sind und daher komplexe Masken- und Rollenspiele eröffnen, die mitunter massive reflexive Komplikationen zeitigen, vgl. Dellinger 2014.
- 15.
Vgl. Dellinger 2015, 407–417.
- 16.
Luhmann 1987, 647.
- 17.
Vgl. Dellinger 2015, 407–410.
- 18.
Luhmann 1987, 656.
- 19.
Ebd., 10.
- 20.
Luhmann 1991, 74.
- 21.
Vgl. Dellinger 2015, 415 f.
- 22.
So z. B., wenn von einer „Paradoxie, die Selbstverständlichkeit der Orientierung zum Gegenstand einer theoretischen Analyse zu machen“ Stegmaier 2008a, 30 die Rede ist oder wenn es heißt, „[d]ass die Orientierung die Situation, die sie erschließt, auch schon verändert“ sei „ihre Start-Paradoxie“ ebd., 156.
- 23.
GM, KSA 5, 399.
- 24.
MA, KSA 2, 436.
- 25.
Vgl. Pichler 2014, 131.
- 26.
Sommer 2009, 45.
- 27.
Vgl. Heit 2013.
- 28.
Vgl. Dellinger 2015, 18–25.
- 29.
Der Nihilismus ist nach Stegmaier insofern „selbstbezüglich“, als er sich jeder begrifflichen oder gedanklichen Fixierung entzieht, weil „das Nichts und der Nihilismus schon kein Nichts und kein Nihilismus mehr“ wären, sobald sie „[a]ls Gegenstände eines Wissens“ Stegmaier 2016a, 32 erfahren würden.
- 30.
Vgl. Dellinger 2015, 410–414.
- 31.
Vgl. ebd., 414–417.
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Dellinger, J. (2019). Werner Stegmaier: Fluktuanz, Anti-Lehren, Orientierung. In: Brock, E., Georg, J. (eds) "- ein Leser, wie ich ihn verdiene". J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04725-0_12
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