Einleitung: Zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis

Forscher_innen und Praktiker_innen im Feld von der Supervision und Coaching versichern sich häufig ihrer wechselseitigen Bedeutsamkeit und Relevanz. Praxis und Wissenschaft unterstreichen in Publikationen, auf Kongressen in ihren jeweiligen Vorträgen ein Komplementärverhältnis: Es sei wichtig, das beraterische Vorgehen wissenschaftlich abzusichern, zu professionalisieren und einen aktiven Beitrag zur Qualitätssicherung des Formats zu leisten, so die Praktiker_innen. Die Wissenschaftler_innen wiederum betonen, dass der Dialog mit Praxisexpert_innen wertvoll und unverzichtbar sei. Dennoch trifft man auch auf wechselseitige Vorwürfe: Die Wissenschaft unterstütze die Beratungspraxis nicht, so der Vorwurf von Praxisseite (Möller et al. 2013). Die Supervisions- und Coachingpraktiker_innen verträten trotz fehlender empirischer Absicherung „vor Eindeutigkeit strotzende Beratungskonzepte“ (Scherf 2010, S. 11), verschlössen sich vor der Forschung, insbesondere allem, was über post-hoc-Befragungen hinausginge, und seien nicht wirklich interessiert und lernbereit gegenüber Forschungsergebnissen, sondern vor allem daran, das eigene Tun legitimiert zu wissen (Haubl 2009) – so die Wissenschaftsperspektive.

Diese unterschiedlichen Blickachsen haben mit den unterschiedlichen primären Aufgaben der beiden Felder zu tun. Während Supervision und Coaching darauf abzielen, die Klient_innen handlungsfähig zu machen, ist der „organisierte Skeptizismus“ (Kieser 2005) Wesensmerkmal einer wissenschaftlichen Haltung. In der Beratung muss Unsicherheit absorbiert werden, zuweilen auch durch Rückgriff auf recht einfache Modelle. Komplexitätserweiterung, ein Öffnen des Blicks auf unterschiedliche Perspektiven ist in der Regel nur ein vorübergehendes Stadium, um vor dem Hintergrund einer umfassenderen Sicht auf eine Beratungssituation reflektierter Handlungsoptionen auswählen und umsetzen zu können. Eine Funktion von Supervisor_innen und Coaches ist die des „Unsicherheitsabsorbierers“ – das kann auch implizieren: „Berater müssen ihren Rat mit Bestimmtheit vertreten.“ (Kieser 2005, S. 12). Die Aufgabe von Wissenschaftlern ist es dagegen, in einer Haltung des Nichtwissens, des Kritisierens, Hinterfragens und Anzweifelns scheinbar fester Tatsachen zu verbleiben, immer neue, spezifischere Fragen aufzuwerfen und damit Differenzierung und Komplexität zu erhöhen. Und auf diese je spezifischen Weisen des Umgangs mit Komplexität verdienen die beiden Bereiche ihr Geld – halten und gewinnen Klient_innen bzw. werben Forschungsgelder ein.

Closed shop versus Beobachtung und Messung

Supervision und Coaching, insbesondere im Einzelsetting, ist mehr noch als andere Beratungsformate ein „closed shop“. Vertrauensarbeit ist zentral, der Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung von wesentlicher Bedeutung für den Erfolg. Klient_innen schätzen an dem Format Coaching in Abgrenzung zu anderen Beratungs- und Entwicklungsangeboten wie Trainings oder Teamentwicklungen gerade den intimen, geschützten Raum, in dem sie „unter vier Augen“ (Looss 2006) über ihre Anliegen und Probleme sprechen können, ohne dass Dritte mithören. Coaching- und Supervisionsforschung braucht dagegen einen möglichst direkten Zugang zu Beratungsprozessen. Video- oder Audioaufnahmen sind neben Fragebögen das Mittel der Wahl, um einen unverstellten Zugang zu dem, was in der „black-box“ Coaching und Supervision (Ianiro und Kauffeld 2011) passiert, zu bekommen. Das ist deshalb so wichtig, weil wir es mit rollenspezifischen Wahrnehmungsverzerrungen auf den Beratungserfolg zu tun haben: self-reports von Klient_innen und Coaches zu den Wirkungen von Coaching fallen z. B. positiver aus als die Beurteilung von Dritten, z. B. Personaler_innen (Böning und Fritschle 2005; De Meuse et al. 2009; Haubl 2009; Kotte und Möller 2013). Damit dringt Forschung aber notwendigerweise in den intimen Raum zwischen Berater_innen und Klient_innen ein und stört diesen möglicherweise – eine Befürchtung, die von vielen Coaches und Supervisor_innen als Hinderungsgrund für die Teilnahme an Forschung benannt wird (Kotte et al. in Vorber).

Die Forschungslandschaft Supervision

Bei der Sichtung der vor allem qualitativen Studien in der Supervision fällt auf, dass diese Studien selten systematisch an andere Studien oder Vorarbeiten anknüpfen, sondern eher einzelne, oft spezifische Themen behandeln. Dies fordert uns auf, nach praktikablen Lösungen zu suchen, wie wissenschaftlich valide Forschungsdesigns und –methoden mit für Praktiker_innen attraktiven Herangehensweisen verknüpft werden können. Viel stärker als bisher geht es auch darum, systematische Forschungsprogramme, die aufeinander aufbauen, zu entwickeln und langfristig umzusetzen, statt weiterhin nur eine Vielzahl vereinzelter Qualifizierungsarbeiten zu produzieren.

In der Supervisionsforschung insgesamt überwiegen Selbstauskünfte von Supervisand_innen und Supervisor_innen, sei es durch Fragebogenuntersuchungen oder Interviews – und zwar sowohl im Hinblick auf Prozessverläufe als auch Erfolgsmaße von Supervision. Insgesamt finden sich in der Supervisions- und Coachingforschung generell sehr hohe Zufriedenheitswerte mit diesem Beratungsformat. Allerdings legen Befunde aus der Weiterbildungsforschung (u. a. Arthur et al. 2003) nahe, dass Zufriedenheit nur sehr schwach mit den „eigentlichen“, für die Berufspraxis relevanten Erfolgsmaßen wie: verbesserte Selbstwirksamkeit, erhöhte Reflexivität oder Verhaltensänderungen zusammenhängt. Neben Selbstauskünften sind qualitative Fallanalysen unterschiedlicher methodischer Ausrichtung (z. B. Inhaltsanalyse, Tiefenhermeneutik), auf der Grundlage von Supervisionstranskripten, ein weiterer Forschungszugang. Sehr selten aber sind Studien, in denen die tatsächliche Interaktion – mittels teilnehmender Beobachtung oder Audio- und Videoaufzeichnungen – untersucht werden. Kaum finden wir Längsschnitt- oder randomisierte Kontrollgruppendesigns, die an großen Stichproben tatsächlich kausale Rückschlüsse auf die Effekte von Supervision zulassen.

Stand der Coachingforschung

Das junge Forschungsfeld Coachingforschung befindet sich auf dem Vormarsch und ist der Supervisionsforschung z. Z. überlegen. Sowohl national, als auch international bilden sich immer mehr universitäre „Inseln“ heraus, die das Format Coaching untersuchen. Die Zahl der wissenschaftlichen Artikel, die zum Thema Coaching erschienen sind, ist in den letzten Jahren rasant angestiegen.

Neben Einzelstudien werden auch Überblicksarbeiten veröffentlicht. Zum einen sind dies Reviews, die eher in beschreibender Form die Forschungsergebnisse zusammentragen und die Studienlage skizzieren und bewerten (Carey et al. 2011; De Haan und Duckworth 2012; Ely et al. 2010; Grant 2010; Greif 2012). Des Weiteren existieren bis heute zwei Metanalysen zur Wirksamkeit von Coaching (De Meuse et al. 2009; Theeboom et al. 2014). In Metaanalysen werden mehrere Studien quantifizierend zu Metadaten zusammengefasst.

Greif (2012) unterscheidet hier zwischen allgemeinen und spezifischen Wirkungen. Zu den allgemeinen Wirkungen von Coaching auf die Klienten, wie die allgemeine Erfolgseinschätzung und die Zufriedenheit mit dem Coaching sowie die Zielerreichung, berichtet ein Großteil der Studien über hohe Werte (Grafe und Kronig 2011; Linley et al. 2010). Aber bedeuten diese Ergebnisse mehr als ein „freundliches Dankeschön“ (Greif 2008, S. 219; Kauffeld 2010)? Metaanalysen im Seminarkontext zeigen, dass hohe Zufriedenheits- und Erfolgseinschätzungen nicht unbedingt stark mit den Lernergebnissen korrelieren (Arthur et al. 2003; Ely und Zaccaro 2011).

Weitere Studien zu den allgemeinen Ergebnissen von Coaching berichten:

  • die Reduktion negativer Affekte, wie etwa der Stressbelastung bzw. die Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens durch Coaching (Grant et al. 2010; Theeboom et al. 2014)

  • signifikant positive Veränderungen der Resilienz und des Selbstbewusstseins (Sherlock-Storey et al. 2013)

  • Steigerung der Karriere-Zufriedenheit (Bozer und Sarros 2012).

So zeigt beispielsweise eine Studie von Leonard-Cross (2010), dass Coaching-Teilnehmer_innen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe im Anschluss an ein zweijähriges Coaching höhere Werte in Bezug auf ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugungen zeigten. Weiter positive Effekte konnten gezeigt werden:

  • spezifische, konkret beobachtbare Verhaltens- oder Leistungsveränderungen bei den Klient_innen im Hinblick auf die Anlässe und Ziele der Coachings,

  • effektivere Führung,

  • Verbesserung der interpersonalen Beziehungen, der Zusammenarbeit und Kommunikationsfähigkeit,

  • veränderter Umgang mit Konflikten, Selbstreflexion, Selbstakzeptanz,

  • Persönlichkeitsentwicklung.

Diese Effekte lassen sich in verschiedenen Studien ausmachen (Curtis und Kelly 2013; De Haan et al. 2013; De Meuse 2009; Ellam-Dyson und Palmer 2011; Kines et al. 2010; Kochanowski et al. 2010; Theeboom et al. 2014). Die Ergebnisse von qualitativen Studien zeigen, dass Coaching neben einer Verbesserung in der Personalführung im Hinblick auf die individuelle Selbstreflexion und vor allem die Konfliktbewältigung als wirksam erlebt wird (Cerni et al. 2010; Kühl 2014), und dass Coaching das Bewusstsein der Klienten über ihr eigenes kontraproduktives Arbeitsverhalten steigert und dies die individuelle Motivation und Arbeitsleistung positiv beeinflusst (Cox und Patrick 2012).

Erste Studien fragen nun auch nach negativen Effekten von Coaching und ihren Ursachen aus der Perspektive von Klient_innen und Coaches (De Meuse 2009; Schermuly et al. 2014; Seiger und Künzli 2011). Die Studienergebnisse zeigen, dass Coaching durchaus auch negative Wirkungen sowohl für Klient_innen als auch für den Coach haben kann.

Eine Vielzahl von Evaluationen zur Wirksamkeit von Führungsentwicklungsprogrammen mit integrierten Coaching-Bausteinen zeigen, dass Training und Coaching gemeinsam wirksamer sind als reines Training (Ladyshewsky 2007; Kochanowski et al. 2010; Kotte und Möller 2013; Wallis 2010). Einige qualitative Studien verdeutlichen darüber hinaus den spezifischen Zusatznutzen von Coaching, zum Beispiel eine realistischere Selbsteinschätzung und erhöhte Selbstwirksamkeit (u. a. Spencer 2011).

Eine Möglichkeit des Einbezugs des organisationalen Kontexts in die Untersuchung der Wirksamkeit von Coaching stellt der Einsatz von 360°-Feedbacks als Messinstrument zur Erfassung von Wirksamkeit dar. Hier zeigen verschiedene Studien, dass Coachingprozesse und die damit einhergehenden Veränderungen der Klient_innen von Vorgesetzten und Mitarbeiter_innen als positiv und erfolgreich eingeschätzt werden (Kaufel et al. 2006; Scherm und Scherer 2011). Allerdings bleibt in den meisten der genannten Studien die Frage offen, inwieweit die Effekte tatsächlich durch das Coaching erzielt wurden.

Möller und Kotte (2011) fassen zusammen, dass eine Vielzahl der Coachingstudien allerdings auf Selbsteinschätzungen der Klienten basieren, oft an Studierendenpopulationen erhoben wurden und durch die Heterogenität der Coaches (Berufserfahrung, Theoretischer Hintergrund, Primärprofession) schwer vergleichbar sind.

Was können wir gemeinsam tun?

Mit dem ECVision Kompetenzprofil für Supervision und Coaching ist es auf europäischer Ebene gelungen, zunächst einmal die Begrifflichkeiten dieser Beratungsformate zu synchronisieren und ein konsensfähiges Glossar zu erarbeiten. In einem zweiten Schritt erreichte die Projektgruppe mithilfe von internationalen Expert_innen, beraterische Kompetenzen für die Supervision und das Coaching zu formulieren: Kenntnisse, Fähigkeiten und Performance auszuweisen, die für die Supervisions- und Coachingpraxis zentral sind und in Supervisions- und Coachingsweiterbildungen vermittelt werden sollten.

Hier könnte eine systematische Supervisions- und Coachingforschung ansetzen, um die beiden Beratungsformate auf wissenschaftlich solide Füße zu stellen. Dies geht allerdings nicht ohne eine tragfähige Arbeitsbeziehung zwischen Praxis und Wissenschaft. Praktiker_innen erwarten Transparenz in Hinblick auf die Forschungsziele und -methoden, technisch organisatorische Unterstützung bei der Mitarbeit, dass die Forschung für sie handhabbar und nicht zu zeitaufwendig ist und vor allem eine Kooperation auf Augenhöhe. Supervisor_innen und Coaches haben ein genuines, inhaltliches Interesse an Forschung, wollen aber mitdefinieren, was „relevante“ Fragestellungen sind (vgl. Möller et al. 2014). Sie erwarten zudem elaborierte Forschungsdesigns, die mit der jeweiligen Beratungspraxis kompatibel sind. Sie wollen Rückmeldung der Ergebnisse und letztlich einen Benefit aus der Forschung, der in ihrer Alltagspraxis spürbar ist. Auf keinen Fall wollen sie Versuchskaninchen für Bachelor- und Masterstudierende sein, die von Coaching und Supervision nicht wirklich etwas verstehen.

Mit Blick auf die Wissenschaft ist ein Umdenken in der Selbstdefinition erforderlich: Forscher_innen sind auch Dienstleister_innen für die Praktiker_innen, d. h. sie müssen sich bemühen, deren Bedarfe zu identifizieren und darauf zu reagieren.

Weiterbildungsforschung

Für den Weiterbildungsbereich Supervision und Coaching ist das ECVision Projekt eine hervorragende Grundlage! Mit Hilfe von intelligenten Designs lässt sich der Kompetenzentwicklungsprozess der Kandidat_innen jenseits der Happy Sheets (Zufriedenheitsmessungen) auf einer hard fact-Ebene: Lernerfolg und Lerntransfer begleiten. Kirkpatrick 1994 unterscheidet vier unterschiedliche Ebenen von Weiterbildungszielen:

  • Zufriedenheit der Teilnehmer_innen (reaction)

  • Lernerfolg (learning)

  • Transfererfolg (behaviour)

  • Unternehmenserfolg (results)

Drexler und Möller (2007, 2009, 2010), Möller und Drexler (2011, 2012) haben erste Konzepte vorgelegt, die durch die ECVision Arbeitsergebnisse eine Weiterbildungsforschung auf breiter internationaler Ebene anstoßen könnten. Den Bedarfen der Weiterbildungsinstitute angepasst, könnten wir gemeinsam differenzierte Forschungsdesigns entwickeln. Zur Veranschaulichung sei an dieser Stelle die bisherige Vorarbeit illustriert. In einer Prämessung (Skulpturarbeit zur Motivationsanalyse nach Scharmer) wurde die Weiterbildungsmotivation der Teilnehmer_innen erhoben, die sich interessanterweise nicht von der Motivation, ein Coaching oder eine Supervision aufzusuchen unterschied. In einem weiteren Schritt wurde den Weiterbildungskandidat_innen ein Führungsproblem als Arbeitsprobe vorgelegt, das sie anhand von Leitfragen explorieren, eine Problemdiagnose erstellen und erste Ideen zum beraterischen Vorgehen entwickeln sollten. Externe Rater – langjährig erfahrene Coaches – wurden gebeten, zum Vergleich dasselbe Fallbeispiel analog zu bearbeiten. Da wir davon ausgehen, dass Weiterbildungen in Supervision und Coaching auch informelles Lernen ermöglichen, so zum Beispiel eine Menge Grundlagenwissen im Bereich der Betriebswirtschaft vermittelen, ohne dass dies im Curriculum ausgewiesen ist oder als Lernziel formuliert ist, nahmen die Kandidat_innen an einem Wissenstest BWL teil. Zur Persönlichkeitsdiagnostik, Selbstmanagementkompetenz und Bindungsmustern wurden folgende Instrumente eingesetzt:

  • BIP – Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (Hossiep und Paschen 2003)

  • MES – Meta-Emotion Scale (Mitmansgruber 2005)

  • MAAS – Mindful Attention and Awareness (Brown und Ryan 2003)

  • AAQ – Fragebogen zu „experiental avoidance“ (Hayes et al. 2004)

  • FEE – Fragebogen zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten (Schumacher et al. 2000)

  • AAS – Fragebogen zur Art der Bindung oder Beziehung (Schmidt et al. 2004)

Um die Kompetenzentwicklung in Bereich der Empathie zu messen nahmen die Kandidat_innen an zwei Emotionserkennungstest teil: FEEL (Kessler et al. 2002) und CATS (Forming, Levy & Ekman 2000).

Während der Weiterbildung (Begleitforschung) schätzten die Teilnehmer_innen ihren eigenen Lernfortschritts per Fragebogen ein und die jeweiligen Dozent_innen taten das gleiche, so dass wir Selbstbild und Fremdbild vergleichen konnten. Die Postmessung erfolgte in den Dimensionen: Problemlösekompetenz, diagnostische Kompetenz, Gesprächsführungskompetenz (im Rollenspiel), Beziehungsfähigkeit und Wissen (Abb. 1).

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Abb. 1

Europäische Supervisions- und Coachingforschung

Grundsätzlich muss Supervisions- und Coachingforschung systematischer angelegt werden und den Coach, die Supervisor_in, die Klient_innen und ihre Arbeitsbeziehung und den organisationalen Kontext berücksichtigen (z. B. Dreieckskontrakte, Coachingkultur der Organisation). Zum einen können auf der Grundlage von ECVision die Kompetenzprofile europäischer Supervisor_innen und Coaches umfassend untersucht werden. Zum anderen ist eine differenzierte Beratungsforschung nötig, die sowohl den Beratungsprozess als auch die Outcomes von Supervision und Coaching empirisch untersucht.

Zum ersten Punkt, der Untersuchung der Kompetenzprofile europäischer Supervisor_innen und Coaches: Hier bietet ECVision (www.anse.eu/tl_files/ecvision/documents/ECViosion_Glossary.pdf) eine hervorragende Grundlage, um supervisorische Kompetenzen zu operationalisieren und an einer großen Stichprobe von Supervisor_innen europaweit zu erfassen. Auf diese Weise können Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Kompetenzprofilen von Berater_innen, die u. a. in verschiedenen Sektoren (Nonprofit-Sektor, öffentlicher Sektor, Privatwirtschaft) oder Branchen tätig sind, in verschiedenen Ländern arbeiten oder sich eher als Coaches und/oder Supervisor_innen definieren, ermittelt werden. Gleichzeitig können weitere Einflussfaktoren wie Alter, Berufserfahrung, Geschlecht, Primärausbildung und kulturelle Einflussfaktoren etc. berücksichtigt werden.

Was den zweiten Punkt, eine differenzierte Beratungsforschung betrifft, sind sowohl der Beratungsprozess als auch die Outcomes von Supervision und Coaching zentral. Dabei kann die Forschung sowohl qualitative als auch quantitative Zugänge umfassen. Die Supervisions- und Coachingforschung muss theoriegeleitet erfolgen und kann vorhandene Theorien und Befunde aus klinischer, Persönlichkeits-, Sozialpsychologie, aber auch Betriebswirtschaftslehre, Managementforschung und Soziologie systematisch zur Theoriebildung von Supervision und Coaching nutzen. Unterschiedliche, klar herausgearbeitete Coaching- und Supervisionsmodelle lassen dann auch Hypothesenbildung zu.

Um Ergebnisse vergleichbar zu machen, müssen einheitliche, standardisierte, reliable und validierte Messverfahren an großen Stichproben eingesetzt werden, über die Klient_innen-, Supervisor_in/Coach- und Kontextvariablen sowie Ergebniskriterien systematisch erhoben werden. Auch hier können wir auf den Ergebnissen von ECVision aufbauen: Die für Coaches und Supervisoren definierten Kompetenzen können als Variablen auf Coach-Seite in umfassendere Prozess-Outcome-Modelle aufgenommen werden. So kann zum Beispiel ihr Einfluss auf die Entstehung einer stabilen Arbeitsbeziehung zwischen Coach und Coachee ermittelt werden.

Zukünftig muss Coaching und Supervision auch härteren Vergleichen mit anderen gängigen Interventionen, also z. B. mit Trainings- oder Mentoring-Programmen statt mit „schwachen“ Kontrollgruppen unterzogen werden, auch um Hinweise auf die differentielle Indikation unterschiedlicher „Entwicklungsformate“ zu erhalten.

Wünschenswert wären auch längsschnittliche Untersuchungen mit mehreren Erhebungszeitpunkten bzw. Katamnesen zur Ermittlung von Langzeit- bzw. „Sleeper“effekten, wie sie insbesondere bei organisationalen Ergebnismaßen naheliegen (Ely et al. 2010).

ECVision sichert die Vergleichbarkeit der erfassten Kompetenzen. Konkret sind folgende Forschungsfragen von besonderer Relevanz und sollten multimethodal (über große Fallzahlen in die Breite, aber auch differenzierte, prozessanalytische Untersuchungen in die Tiefe) untersucht werden:

  • Coach-Klient_innen-Beziehung als zentraler Wirkfaktor: Dabei geht es insbesondere um eine genaue Beschreibung von Coach-, Klienten- und Interaktionsvariablen, um zu definieren, was eine „gute“, d. h. hilfreiche Beziehung ausmacht. Welche Facetten definieren die Qualität der Coach/Supervisor_in-Klient_innen-Beziehung (Rapport, Wertschätzung, Vertrauen usw.)? Welche Variablen auf Supervisor_in/Coach- und Klient_innenseite, welche Prozessvariablen und welche organisationalen Kontextfaktoren beeinflussen die Beziehungsqualität? Hier könnten z. B. die ECVision Kompetenzen, wie oben beschrieben als Prädiktoren für Beziehungsqualität überprüft werden. Was ist eine gute Passung zwischen Coach/Supervisor_in und Klient_in? Inwieweit können u. a. nonverbale, mimische Interaktionen als Prädiktoren für den Coachingerfolg fungieren (Benecke und Krause 2005)? Neben standardisierten Fragebögen sowie Prozessskalen nach jeder Sitzung sind hier insbesondere systematische Transkript- und Videoanalysen sowohl qualitativer Art wie auch mittels standardisiert-quantitativer Beobachtungsverfahren erfolgversprechend (z. B. Ianiro und Kauffeld 2011).

  • Der Blick hinter die verschlossenen Türen: Was genau geschieht im Coaching oder der Supervision überhaupt? Welche Zielfindungs- und Emotionsregulationsprozesse finden im Coaching statt? Nach welchen Modellen bzw. Schulen und Methoden geben Coaches und Supervisor_innen an zu arbeiten und wie setzen sie diese in der Praxis tatsächlich ein (Allegianz, Adhärenz)? Wie reagieren die Klient_innen auf unterschiedliche Interventionen (Responsiveness)? Methodisch wären hier neben Prozessskalen (z. B. zum Arbeitsbündnis in Anlehnung an Grawe, zum Selbstwirksamkeitserleben der Klient_innen oder zu Fantasien und Gegenübertragungsgefühlen der Supervisor_innen/Coaches in Anlehnung an analytische Prozessskalen) oder auch Intersessionskalen, die sich auf die Zeit zwischen den Sitzungen beziehen und damit den Arbeitsalltag mit einbeziehen, zielführend.

Nicht ohne Diagnostik

Für die skizzierten Forschungsfragen müssen die Praktiker_innen ihre Scheu, Vorbehalte oder gar Ablehnung der Diagnostik gegenüber überwinden, denn ohne vergleichbare Ausgangsdaten ist keine Wirksamkeitsforschung möglich! Coach- und Klient_innenvariablen und damit die Untersuchung ihres Einflusses auf Supervisions- oder Coachingprozess und –ergebnis müssen systematisch erhoben werden. Bislang sind sowohl die Merkmale der Klient_innen (Einstellungen, Persönlichkeit, Geschlecht, Grad an Freiwilligkeit des Coachings oder der Supervision, usw.) als auch die der Coaches und Supervisor_innen (Berufserfahrung, theoretisch-konzeptionelle Orientierung, etc) noch kaum untersucht.

Eine sinnvolle Wirksamkeitsforschung kann ohne eine differenzierte Erfassung der Klient_innen-Charakteristika, der sie umgebenden Teamdynamik und der organisationalen Rahmenbedingungen des Coachings nicht erfolgen. Diagnostik geht auf das griechische Verb „diagignóskein“ zurück, das verschiedene Facetten eines Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungs-Prozesses vom Erkennen bis zum Beschließen umfasst. Das Verb bedeutet „genau kennenlernen“, „(sich)entscheiden“, „beschließen“ (vgl. Möller und Kotte 2014). Versucht man sich einer „Diagnostik“, also einem genauen Hinschauen, differenziert zu nähern, muss einerseits der möglicherweise eingeengte Blickwinkel reflektiert werden, den einzelne diagnostische „Brillen“ nach sich ziehen können. Gleichzeitig ist ein systematisches diagnostisches Vorgehen die Grundlage für ein professionelles beraterisches Handeln im Gegensatz zu einem nur auf persönlichen Vorlieben und Vorannahmen begründetem Arbeiten. Das systematische Sammeln und Aufbereiten von Informationen mit dem Ziel, Entscheidungen für Interventionen zu begründen, zu kontrollieren und zu optimieren, ist als alltägliche „gute“ beraterische Praxis zu verstehen. Es geht also darum, das Erkunden und Explorieren, das im Coaching und der Supervision ohnehin stattfindet, wissenschaftlich zu systematisieren und zu strukturieren, um das beraterische Handeln in möglichst optimaler Weise daraus abzuleiten.

Appell an die Supervisor_innen und Coaches

Praktiker_innen sind eingeladen, ihre Komfortzone und mögliche Abwehrmanöver zu verlassen und ihre Supervisionsprozesse für Forscher_innen zugänglich zu machen. Dies impliziert auch, sich die kritische Frage gefallen zu lassen, inwiefern das Argument, den Beratungsraum für Klienten_innen zu schützen wirklich im Vordergrund steht. Oder ist es nicht vielmehr ein willkommener Vorwand, sich einer Beobachtung und möglichen Bewertung durch externe Dritte (Forscher_innen) und den damit verbundenen eigenen Ängsten als Supervisior_in und Coach nicht stellen zu müssen? Es ist die Aufgabe der Wissenschaft eine gleichberechtigte, symmetrische Kooperationsbeziehung zu gestalten, um mit den Praktiker_innen, konstruktiv in einen Dialog zu treten. Diese, so wünschen wir es uns, stellen der Forschung ihre eigene Perspektiven, Ideen und Erwartungen zur Verfügung. Vielleicht hilft dabei der zunehmende Druck von außen, dass auf absehbare Zeit die Anforderungen an die systematische Evaluation und Qualitätssicherung von Beratungsleistungen auf Seiten der Kund_innen und Auftraggeber_innen ohnehin steigen werden.

Dazu braucht es die Schaffung von Kooperationsformen, die Interessen und Expertisen der verschiedenen Stakeholder (Coaches, Supervisor_innen, Klient_innen, Klient_innenorganisationen, auftraggebende Organisationen, Universitäten) bündeln und nutzbar machen.