1 Der Hintergrund der Anleitung

Ich habe lange gebraucht, bis ich die Grundlagen von Kulturpsychologie verstanden habe. Dabei habe ich Standardwerke von führenden Kulturpsychologen verschlungen und Beiträge gewälzt, bis ich zu einer geeigneten Synthese fand. Ich erinnere mich jedoch an den Moment, als der führende Kulturpsychologe Prof. Jaan Valsiner eine Einführungsveranstaltung zur Kulturpsychologie gegeben hat und ich zunächst nichts verstanden habe. Das war demotivierend. Um den Einstieg in die Kulturpsychologie zu erleichtern, möchte ich meine Synthese mit euch – meine zukünftigen Freunde – teilen. Ich hätte mir solch ein Dokument gewünscht, als ich frisch in diese neue Welt eingetaucht bin. Also habe ich mich entschlossen, eine kurze kulturpsychologische Anleitung für euch zu schreiben, damit euch euer Einstieg besser gelingt. Ich beginne mit dem wichtigen Begriff der Kultur, um dann mit euch Methoden zu teilen, wie ich einen Einblick in kulturpsychologische Vorgänge erhalte. Auf Vollständigkeit und forschungstechnische Präzision möchte ich an dieser Stelle verzichten. Verständlichkeit und Motivation sind das eigentliche Herzstück dieser kulturpsychologischen Anleitung für euch zukünftige Freunde. Die Präzision und Vollständigkeit dieser Anleitung vermögt ihr nachzuholen.

1.1 Was ist Kultur: Ein kurzer Abriss

Was ist also Kultur? Kultur ist ein Handlungsfeld (Boesch 1991, 2002). Dieses Handlungsfeld ist strukturiert von Bedürfnissen und Zielen der jeweiligen Person (Lewin 1926). Dabei ist die Person, die diese Bedürfnisse und Ziele ausbildet, eingeschlossen in ein übergeordnetes kulturelles System an Bedeutungen, die erst die spezielle Entwicklung von Zielen und Bedürfnissen sowie deren Befriedigung möglich macht (Leont’ev 1978; Luria 1976). Dabei müssen wir von verschiedenen übergeordneten kulturellen Bedeutungssystemen sprechen (Boesch 1971), z. B. von der Familie, der Schule, der sozialen Klasse, dem Beruf usw. Wichtig ist in dieser Hinsicht, dass Kultur als etwas Transaktionales definiert wird; d. h., dass verschiedene Bedeutungssysteme von Personen erlebt, interpretiert und gegebenenfalls assimiliert werden. Jedoch werden diese Bedeutungssysteme nicht einfach nur von der Person passiv aufgenommen (Lang 1988, 1997), sondern sie werden psychologisch – in der Person – verarbeitet und mit persönlichem Sinn oder Bezug ausgestattet (Boesch 1991; Leont’ev 1978). Nehmen wir das Eigenheim als Beispiel. Ich baue mir eine Küche für meine Mahlzeiten; ein Schlafzimmer zum Schlafen, ein Wohnzimmer für gemeinsame Morgen und Abende mit meiner Familie, einen Garten für das Fußballspielen mit meinen Kindern usw. Dabei ist dieses spezielle Handlungsfeld (Haus) vollständig transparent; ich interagiere mit meiner Umwelt ohne darüber nachzudenken. Die Dinge sind auf einen gewissen Zweck angelegt, an dem ich nicht zweifeln muss. Meine eigene Umwelt ist klar strukturiert, um mich ohne gedankliche Zwischenpausen durch den Alltag zu führen.

Anhand des Beispiels wird deutlich, dass Kultur persönlich gestaltet wird; und dennoch müssen wir uns im gleichen Atemzug darüber bewusst werden, dass etwas nur mit persönlichem Sinn gefüllt werden kann, das objektiv als Bedeutungssystem unseren Alltag strukturiert. Ein taoistischer Gelehrter (chinesischer Weisheitsgelehrte) teilt ein anderes kulturelles Bedeutungssystem als ein Universitätsgelehrter. Während der Erste gelernt hat, dass Wahrheit nicht lehrbar, sondern nur erlebbar ist (Hesse 2021), ist der Andere davon überzeugt, dass jegliches Wissen transparent und lehrbar gemacht werden kann. Der Unterschied ihrer Lehrtätigkeit kann nur erkannt werden, wenn wir uns ihre jeweiligen Handlungsfelder in Bezug auf ihre übergeordneten Bedeutungssysteme vergegenwärtigen. Und beide werden im Lauf ihres Lebens diese übergeordneten Leitthemen ihrer unterschiedlichen Bedeutungssysteme mit persönlichem Sinn ausstatten, d. h. das übergeordnete Handlungsfeld aneignen und sinnvoll strukturieren.

Bruner (1990, 1996) hat diese Bidirektionalität von Kultur in einem anschaulichen Satz beschrieben: Kultur ordnet die Psyche, aber die Psyche ordnet die Kultur ebenfalls. Wenn wir von Handlungsfeldern – in ihrer Bezogenheit auf übergeordnete Bedeutungssysteme – sprechen, dann müssen wir uns immer darüber klar werden, dass Kultur nur in diesem Verhältnis von objektiven Bedeutungssystemen und persönlichen Sinnstrukturen dechiffriert werden kann.

Und doch ist Transparenz nicht der Normalfall. Immer wieder, in kleinen Stößen, werde ich mit intransparenten Dingen konfrontiert, gegenüber denen ich erst eine Haltung bzw. eine Bewertung produzieren muss. Ein Kind wird zum Beispiel auf die weiterführende Schule eingeschult, ein inhärent kulturbedingter Prozess. Für seine Schulzeit kaufe ich ihm einen Schreibtisch, Füller, Federmappe, Schulranzen usw. Und bald darauf wird sein Zimmer bzw. das ganze Haus Spuren von dieser kulturbedingten Entwicklungsaufgabe aufweisen. Hier sehen wir deutlich, wie die übergeordneten Bedeutungssysteme die individuellen Handlungsfelder von Personen leiten und strukturieren. Und doch sind diese materiellen Spuren nur eine Seite der Kulturpsychologie (Toomela 2021). Es bedarf auch der Erfassung der psychischen Prozesse, d. h. der Haltung/Einstellung gegenüber der Schule. Das Kind lernt fortan, seinen Tag auf seine Entwicklungsaufgabe hin zu strukturieren, natürlich mithilfe der Eltern. Spiele ich zuerst draußen Fußball und erledige dann meine Schulaufgaben oder verpflichte ich mich einer anderen Reihenfolge? Wie wichtig sind mir Schulaufgaben? Mache ich die Schulaufgaben, um meinen Lehrern zu gefallen oder weil sie mich interessieren? Wie intensiv mache ich die Schulaufgaben? All diese Fragen zeigen, dass wir immer wieder (als Kind und Erwachsene) in unserem Handlungsfeld mit intransparenten Elementen konfrontiert sind, deren Bedeutung wir für uns zunächst klären müssen. Kurz, wir entdecken ein Bedeutungssystem, das wir mit Sinn füllen müssen.

Ist diese Intransparenz geklärt, d. h. sind diese fremden Elemente bewertet oder interpretiert, fangen wir an, im Hinblick auf diese Bewertung, unsere Zeit und unseren Raum zu strukturieren (Boesch 1998, 2006). Das Handlungsfeld ist also immer dynamisch, d. h. ins Offene konstruiert. Alte adaptive Elemente werden umstrukturiert oder fallengelassen, während neu zu definierende Elemente bewertet und gegebenenfalls in den Tag oder allgemeiner in das Handlungsfeld integriert werden und ich eine Haltung ihnen gegenüber entwickeln muss. Das Handlungsfeld steht also nicht still und seine einzige Stabilität ist seine Instabilität, ein Vorteil, um sich der Umwelt und sich eigenen, veränderbaren Einstellungen anzupassen. An dieser Stelle merken wir, meine zukünftigen Freunde, dass Kultur nicht statisch sein kann und dass wir bei allen Versuchen, Kultur statisch zu erfassen bzw. sie auf etwas festzunageln, hellhörig und vorsichtig werden müssen. Das grundsätzliche Charakteristikum der Kultur ist ihre Genese, d. h. ihre ins Offene gestaltete Entwicklung. Das mag bei Schulkindern, Erwachsenen und auch einheimischen Stämmen nicht anders sein.

1.2 Kultur und Symbolik

Diese Strukturierung der Handlungsfelder weist dann auch bald symbolischen Charakter auf. Die Federmappe, der Füller, der Ranzen sind nicht bloße Objekte, sondern werden zu Gebrauchsgegenständen, die einen gewissen symbolischen Zweck und Wert haben (Boesch 1991). Ich kann eine Unterscheidung zwischen meinem Mont-Blanc-Füller und dem einfacheren Füller meines Kindes nur treffen, indem ich mir über die Unterschiede unserer Handlungsfelder bewusst bin. Beide haben einen anderen symbolischen Wert. Für mich ist der Mont-Blanc-Füller zum Abschluss wichtiger Verträge wertvoll, während der meines Kindes das tägliche Mitarbeiten in der Schule sichert – ohne Stift kein Mitarbeiten in der Schule. Natürlich könnte ich für meine Verträge einen anderen Füller zur Hand nehmen, aber das Abschließen eines Vertrags ist für mich ein zeremonieller Prozess, den ich zelebrieren will. Dementsprechend greife ich auf den Mont-Blanc-Füller zurück. Dies ist die Symbolik des Handlungsfelds, von der Boesch in seiner Kulturpsychologie spricht (Boesch 1991). Und natürlich sind dieser Symbolik auch keine Grenzen gesetzt, indem z. B. mein Kind, sobald erwachsen, diesen Füller aufhebt und als Symbol für seine ersten Schritte in die Erwachsenenwelt in seinem späteren Eigenheim platziert. Dieses Symbol mag dann ganz persönliche Bedeutung haben, z. B. Durchhaltevermögen spiegeln und gegebenenfalls als Stimulus in schweren Zeiten fungieren (von Fircks 2021b). Eine Kulturpsychologie, die nicht auf diese sinnvolle Aneignung von Bedeutungssystemen hinweist, ist eine leere Kulturpsychologie.

1.3 Das Aufeinanderprallen von Handlungsfeldern

Interessant wird es besonders dann, wenn wir uns das Aufeinandertreffen von Personen aus gänzlich anders strukturierten Handlungsfeldern ansehen. Ich möchte hier ein Beispiel nennen: Als ich meinen Freund in den Pyrenäen vor zwei Jahren besucht habe, ist mir etwas Interessantes in unserer Interaktion aufgefallen. Was? Bevor ich das beantworte, möchte ich zunächst seinen kulturellen Hintergrund skizzieren. Dieser Freund ist einer der letzten Bergbauern in diesem Gebiet; er züchtet dort Kühe, deren Fleisch er von Zeit zu Zeit verkauft. Einmal im Jahr führt er seine Kühe hoch in die Pyrenäen, wo das Gras über andere Inhaltsstoffe verfügt, und die Kühe entsprechend deutlich mehr Kilos zulegen (um die 40 bis 50 kg legen die Kühe in den Bergen zu). Die Kuh ist ein Symbol seiner komplexen Arbeit in seinem Handlungsfeld und Teil des übergeordneten Bedeutungssystems Tiere = Arbeit. Natürlich muss er mehrfach die Woche nachschauen, wie es den Kühen geht, bzw. sie mit Salz versorgen, da dort oben in den Bergen das Gras über zu wenig Salz verfügt. Das Wegfallen bzw. plötzliche Sterben einer Kuh durch Blitzeinschlag oder Absturz hat finanzielle Konsequenzen für ihn. Als er mir also einmal erzählte, dass eine seiner Kühe abgestürzt ist, habe ich ihm auf Französisch begegnet („la pauvre“), die Arme. Daraufhin hat er mich nur verdutzt und etwas ärgerlich angesehen. Erst jetzt ist mir bewusst geworden, dass diese Aussage nicht mit seinem Handlungsfeld und dem symbolischen Wert seiner Arbeit einhergeht. Während ich mit der toten Kuh sympathisierte, weil ich aus einem Handlungsfeld stamme, wo Sympathie für Tiere eine große Rolle spielt, habe ich die komplexe Arbeit, die er in seine Tiere steckt, nicht gewürdigt und die Aufmerksamkeit auf die Kuh als Wesen gelenkt. Ich habe seine Kultur hier nicht würdigen können, weil ich mir über die Differenzen in unseren Handlungsfeldern nicht bewusst war. Weil ich aus einem anderen Handlungsfeld stamme, das Tiere = Haustiere als übergeordnetes Leitthema konstituiert, war ich blind für das Handlungsfeld meines Freunds, der Grund seiner temporären Verärgerung.

1.4 Die Rolle der Sprache für den Kulturbegriff

Dieses Beispiel zeigt mehrere Ebenen, die für unseren Kulturbegriff relevant sind. Kultur ist kein Begriff, der für entfernte Kulturen oder Stämme in entlegenen Gebieten angewandt wird. Nein, Kultur ist etwas Konkretes. Kultur ist etwas Pragmatisches, das unsere Interaktionen mit unserer Welt und der von anderen strukturiert und widerspiegelt. Wir verfügen alle über verschiedene Mikrokulturen und unser Verständnis des anderen hängt davon ab, wie viel Einblick wir in sein Handlungsfeld erhalten (von Fircks 2021a). Mit dem Begriff Mikrokultur sollen hier die einzelnen kulturell geprägten Lebensbereiche bezeichnet werden, Lewin (1926) würde sagen Lebensräume. Dabei soll immer das Eingebettetsein der Handlungsfelder in übergeordnete Bedeutungssysteme mitgedacht werden, das sich bezogen auf die verschiedenen Mikrokulturen (Sport, Schule, Freizeit, Familie, Freunde) stark unterscheiden kann. Kurz: Der Begriff Mikrokultur soll nicht Kultur als etwas ausschließlich Subjektives suggerieren, sondern lediglich die kleineren, alltäglicheren Lebensbereiche des Menschen aufzeigen, die inhärent kulturell gefärbt sind. Kultur geht also jeden von uns etwas an und strukturiert unseren Alltag, Interaktionen und darin inkludiert unsere Konversationen.

Die Sprache ist dabei von besonderer Relevanz (Toomela 2021; Valsiner 2014; von Fircks 2021c), da sie das Tor zum Verständnis unserer eigenen Kultur und von anderen darstellt. Nur in der Konversation zwischen mir und meinem Freund wurde der Unterschied in unserer Haltung gegenüber von Tieren sichtbar. Sprache ist dementsprechend ein kulturelles Werkzeug, das uns freiwillig und unfreiwillig Einblicke in eigene und fremde Kultur eröffnet. Kulturpsychologie, ohne auf die Sprache von Impliziertem zu verweisen, ist keine Kulturpsychologie.

1.5 Appell zur selbstständigen Synthese des Kulturbegriffs

Das soll ein kurzer Abriss des Begriffs von Kultur sein. Wichtig wäre – meine zukünftigen Freunde – sich über Handlungsfelder, Transparenz (Intransparenz), Symbolik, Mikrokulturen und Sprache Gedanken zu machen, um selbst zu einer eigenen Synthese des Begriffs zu gelangen. Dies ist, meines Erachtens nach, das Ziel in der Kulturpsychologie. Gehen wir jetzt zu den Methoden über.

2 Verhältnis der Kulturpsychologie zu Methoden

Das Verhältnis der Kulturpsychologie zu Methoden ist ein ambivalentes. Auf der einen Seite steht die Freiheit des Forschers, die Methode auszuwählen, die das Phänomen am geeignetsten in seiner Genese begleiten kann. Dabei steht im Vordergrund, das Phänomen nicht durch die eigentliche Methode zu erdrücken und ihm die Luft zum Atmen abzuschneiden. Aus dem Phänomen erwächst das Wissen und nicht aus der a priori definierten Methode, die heute dazu dient, triviale Hypothesen durch statistische Kunstgriffe zu bestätigen. Nein, das Phänomen muss atmen und sich entwickeln dürfen. Alle Methoden, die dieses phänomenologische Prinzip ignorieren, sind zum Scheitern verurteilt. Die gesamte Statistik ist solch ein Methodenkorsett, das die eigenständige Genese von Phänomen unmöglich macht (Boesch 1977).

Forscher in der heutigen statistischen Psychologie schließen sich einer gewissen übergeordneten Theorie an, die bereits auf das Phänomen in einer ganz bestimmten Weise blickt. Vorgefertigte oder leicht modifizierte Fragebögen werden an unbekannte Teilnehmer versandt, die die Fragebögen ohne Rücksprache mit dem Forscher ausfüllen. Dabei wird immer davon ausgegangen, dass die Fragen nicht ambivalent generiert und entsprechend nicht ambivalent interpretiert werden. Es wird davon ausgegangen, dass fast jede/r Teilnehmer:in den Fragebogen im Sinn der vorgegebenen Theorie bewertet und zu einer entsprechenden Antwort gelangt. Diese Resultate werden dann in einer induktiven Art und Weise dazu genutzt, festgezurrte Hypothesen zu bestätigen. Ich schreibe hier bewusst von zu bestätigenden Hypothesen, da die Mehrheit der statistischen Forscher:innen ihre Daten bzw. ihre Forschungsprojekte so aufbereiten, dass sie immer in irgendeiner Weise eine oder mehrere Hypothesen bestätigen.

Schauen wir uns jedoch dieses Grundprinzip der ambivalenzfreien Generierung bzw. dessen Verständnis genauer an, so müssen wir dieses vehement verneinen. Jede Frage ist ambivalent und ein Produkt von komplexen Bewertungsprozessen. Besonders Gefühle sind ein Zusammenspiel von mehreren Bewertungsprozessen, die zusammenfließen. Wenn ich z. B. nach Betrachten eines Films oder Fotos sage, ich fühle mich traurig, dann ist dieses Gefühl von Trauer ein Interpretationsprozess. Wie kommt dieses Gefühl von Trauer zustande? Woran erinnert mich der Film? Weckt er alte Erfahrungen? Stimmt er mich traurig für etwaige zukünftige Handlungen? Ganz abgesehen von diesen, auf die Genese des Phänomens abzielenden Fragen, kann die Trauer auch in einem anderen Licht betrachtet werden. Möglicherweise bin ich nach dem Schauen eines Films oder nach dem Lesen eines Gedichts positiv berührt und die Erfahrung des Films oder der Lyrik lässt mich die Tiefe meines eigenen Lebens begreifen. Dann sprengt die erfahrene Trauer meinen a priori definierten Zugangsweg zum Phänomen und macht ihn nichtig. Das Phänomen erschließt hier neue Welten. Ob nun die Genese des Phänomens oder die substanzielle Entwicklung des Phänomens in eine andere Richtung missachtet wird, das bloße Abfragen und Messen von Traurigkeit verrät nichts über die Essenz des Phänomens und das Individuum, das diese Trauer in diesem Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft erfährt. Dies macht Methoden unumgänglich, die das Phänomen sich entwickeln lassen. In einem offen strukturierten Interview kann die Interpretation von Traurigkeit – oder besser dessen Bedeutung – mit dem Forschungsteilnehmer verhandelt werden. Einblicke in die Genese von Traurigkeit oder dessen Partikularität können unproblematisch gewonnen werden, indem Erinnerungen, Assoziationen oder konkrete Erfahrungen durch den Film rekonstruiert werden (Boesch 1977). Dieses simple Beispiel zeigt die Unumgänglichkeit von Methoden, die nicht nur die Genese des Phänomens erlauben, sondern ebenfalls die Sprengung von jedwedem theoretischen Rahmen.

2.1 Methoden zwischen Orientierung und Inspiration

Und doch ist mir im Rahmen meiner Arbeit mit führenden Kulturpsychologen bewusst geworden, dass wir genetische Methoden brauchen. Dies ist die andere Seite der Ambivalenz zwischen Kulturpsychologie und Methodik. Der Grund dafür ist simpel: Methoden stiften nicht nur Orientierung, sondern sind, wenn sie korrekt definiert werden, auch Quellen von tiefgehender Inspiration. Diese Methoden müssen jedoch offen definiert werden, sodass sie von jedem/jeder kulturpsychologischen Forscher:in adaptiert werden können (Boesch 1977). Dies ist der eigentliche Sinn von Methodik: Orientierung und Inspiration. Statistische Methoden bieten nur Orientierung, ohne Inspiration zu stiften. Eine Balance zwischen diesen beiden Polen scheint der royale Weg der Forschung zu sein. In entfernter Verwandtschaft zu Goethes Methodik müssen kulturpsychologische Methoden wie ein Gerüst für den Hausbau funktionieren. Dieses Gerüst muss uns helfen, das Haus (hier das Phänomen) in seiner Entwicklung zu begreifen. Nichtsdestotrotz darf das Gerüst den Blick auf das Haus nicht vollends verdecken, da wir sonst das eigentliche Phänomen aus den Augen verlieren und – noch viel schlimmer – das Gerüst für unseren eigentlichen Forschungsgegenstand halten. Wir brauchen so viel Gerüst wie nötig, um die Genese des Phänomens freizulegen, und so wenig wie möglich, um einen klaren Blick auf das Haus zu behalten. Ich bezeichne das als das von jedem/jeder kulturpsychologischen Forscher:in zu lösende Dilemma der Ambivalenz von Methoden. Diese Ambivalenz ist dementsprechend ein Appell an den/die Forscher:in, Orientierung und Inspiration kulturpsychologischer Methodik in ein Gleichgewicht zu bringen.

2.2 Trajectory Equifinality Model: Eine Königsmethode der Kulturpsychologie

Meine theoretische Skizze lässt vermuten, dass solche Methodik noch nicht existiert. Das ist falsch. Ich möchte auf zwei kulturpsychologische Methoden hinweisen, die die Genese von Phänomenen und die Sprengung von einem vorher definierten, theoretischen Rahmen erlauben. Zunächst müssen wir hier die vielleicht populärste Methodik nennen, das Trajectory Equifinality Model (TEM) von Sato et al. (2009). Nehmen wir an, jemand will die Grundlagen der Kulturpsychologie erlernen. Dies ist das Ziel, das anhand von verschiedenen Wegen („trajectories“) erreicht werden kann. Dieses Ziel ist unterteilt in verschiedene Unterziele, wie z. B. mit Kulturpsycholog:innen zusammenarbeiten, kulturpsychologische Beiträge oder Bücher lesen, eine kulturpsychologische Abschlussarbeit schreiben und an kulturpsychologischen Seminaren teilnehmen. Gehen wir davon aus, dass unsere Person primär an kulturpsychologischen Seminaren teilnehmen will. Hier entscheidet die Person also ganz trivial, sich für den Kurs mit kulturpsychologischem Schwerpunkt zu entscheiden (Weg A). Natürlich ist bei dieser Entscheidung auch immer eine Alternative präsent – in diesem Fall sich für einen anderen Kurs zu entscheiden, etwa statistischer Psychologie (Weg B). Aufgrund der Kursbeschreibung, die nahelegt, dass sich die jeweilige Person einem eigenen Forschungsthema mit persönlichem Hintergrund verschreiben kann, wählt die Person Weg A. In Tradition der Gestaltpsychologie ist dies der Hintergrund, auf dem die Gestalt gebildet wird (Lewin 1926).

Nun einmal angekommen und Platz genommen im kulturpsychologischen Seminar, ist diese Entscheidung in Form der Anwesenheit unserer Person präsent. Natürlich ist diese Entscheidung Vergangenheit, aber ohne diese Entscheidung wäre die Person nicht in diesem Seminar, d. h. würde im jetzt ablaufenden Moment nicht daran teilhaben. Wir erinnern uns, dass die Motivation für das kulturpsychologische Seminar mit einem Streben nach einem eigenständigen Forschungsprojekt einherging (persönlicher Sinn). Vage vermag die Person schon eine Idee von diesem Forschungsprojekt haben und die vorgestellten Theorien und Beiträge im Geiste ihres Themas betrachten. Der Hintergrund, den wir im TEM festgestellt haben, strahlt also auch ganz essenziell in die Zukunft aus und beeinflusst fundamental gegenwärtige Aktionen, die in eine gewisse anvisierte Zukunft münden. Vereinfacht gesagt, erschafft sich die Person in einer Art Mikrokosmos eine eigenständige, sinnvolle Forschungskultur auf Basis ihrer Ziele und Wünsche. Dabei ist natürlich diese sinnvolle Forschungskultur ebenfalls abhängig vom übergeordneten Bedeutungssystem, in das sie eingebettet ist, z. B. in der humanistischen Gesinnung einer spezifischen Universität, die durch die mündige Erziehung von Studierenden geprägt ist. Sowohl das übergeordnete Bedeutungssystem der Universität, in dem sich das individuelle Handlungsfeld entwickelt, als auch die sinnvolle Auseinandersetzung der individuellen Person mit den jeweiligen Bedeutungsmustern zeigt: Kultur ist immer in Bewegung, steht nie still und entwickelt sich immer teleologisch auf etwas hin. Und diese Kultur weist immer Spuren von Vergangenem auf, die unmittelbar mit der Gegenwart und der Zukunft zusammenhängen.

2.3 Das Erschließen von neuen Wegen im TEM

Doch es gibt hier einen entscheidenden Hinweis, den viele Kulturpsychologen noch nicht bedacht haben. In den vergangenen Jahren habe ich mich intensiv mit dem TEM beschäftigt und bin zur folgenden Adaptation des Modells gekommen. Die Vergangenheit im TEM, auch wenn vergangen, ist im kulturpsychologischen Sinn von Bewertungsprozessen abhängig. Und diese passieren immer gegenwärtig. Sehe ich die Vergangenheit auf einmal in einem anderen Licht, ziehe andere Lektionen oder entdecke neue Elemente in ihr, dann verändere ich meine Einstellung und damit den Hintergrund des TEM. Auf unser Beispiel bezogen heißt das folgendes: Komme ich zu dem Schluss, dass mein damaliger Wunsch nach einem eigenständigen Forschungsprojekt ein Zeugnis meines Egoismus war bzw. ein Hinterherjagen von Anerkennung, so ändere ich den Hintergrund meiner Vergangenheit. Auf einmal realisiere ich in dieser veränderten Haltung zu meiner Vergangenheit, dass ich mit meiner Zeit etwas Sinnvolleres anstellen kann, z. B. einen Fußballverein trainieren. Mit der veränderten Haltung gegenüber dem Vergangenen, ändere ich somit die Haltung meiner Gegenwart und damit meine zukünftigen Handlungen. Meine Forschungskultur wird also langsam aus meiner Umgebung verschwinden, Beiträge und Bücher werden in Schubladen gesteckt oder auf dem Speicher verstaut und ganz bald werden vielleicht Fotos meiner Jugendmannschaft, Unterlagen zur Trainingsgestaltung, eine Pfeife, Pylonen usw. meine Wohnung zieren. Kurz, eigenständig kann ich entscheiden, ob ich mich einem Bedeutungssystem zuwenden oder abwenden möchte, ob ich in diesem Bedeutungssystem persönlichen Sinn finden oder nicht finden kann. Das TEM vermag es als kulturpsychologische Methode, diese Mikrokulturen und den Wechsel in andere Mikro-Kulturen nachzuzeichnen und den persönlichen Sinn in ihnen zu verstehen. Es ist vielleicht die wertvollste Methode in der heutigen Kulturpsychologie, da sie stark verständlich, adaptierbar, genetisch und innovativ ist.

2.4 Arbeit mit ambivalenten Stimuli

Eine andere Methodik ist, mit kulturpsychologisch ambivalenten Stimuli zu arbeiten. Diese kulturpsychologischen Methoden befinden sich jedoch noch im Anfangsstadium der Entwicklung. Ich möchte ein einfaches, fiktives Beispiel geben, damit sich die Leser etwas hierunter vorstellen können. Nehmen wir einmal an, dass ein/e Kulturpsycholog:in als Organisationspsycholog:in in einem Unternehmen angestellt ist. Hierbei führt er jede zweite Woche einige Mitarbeitergespräche, um herauszufinden, was die Mitarbeiter:innen in ihrem Arbeitsfluss gegebenenfalls stört oder hemmt. Dies mag auch der Ort sein, um Konflikte mit Kolleg:innen oder dem/der jeweiligen Chef:in anzusprechen. Das Büro des Kulturpsychologen ist mit vielen verschiedenen Bildern dekoriert. Dies sind Bilder, die positive (Freude, Enthusiasmus, Engagement) und negative Emotionen (Trauer, Wut, Verzweiflung) hervorrufen. Um Einblick in das Problem zu bekommen, fragt unser/e Kulturpsycholog:in welches Bild die jetzigen Emotionen am geeignetsten beschreiben und welche Assoziationen dieses Bild auslöst. Hier vermag der/die Mitarbeiter:in dem Kulturpsychologen einen tiefgehenden Einblick in den Konflikt oder in die Hemmnisse seiner Arbeit zu geben und beide können auf Basis der Schilderung der Ereignisse nach Lösungen suchen. Natürlich muss der/die Kulturpsycholog:in extrem feinfühlig und vertrauensvoll mit diesen Stimuli arbeiten und nicht zu tief in diese Erfahrung eintauchen und eine adaptive Neubewertung der Ereignisse zusammen mit dem/der Mitarbeiter:in verhandeln und erarbeiten. Und wieder werden wir in Tradition auf frühere Gestaltpsychologen aufmerksam, da wir durch die ambivalenten Stimuli die Bildung eines Hintergrunds ermöglichen wollen, auf dem der/die Mitarbeiter:in ganz frei seine/ihre Gestalt zeichnen kann. Das ist die Essenz jener zweiten Gruppe von Methoden. Und wieder wird uns bewusst, dass solch eine Methodik adaptierbar und genetisch ist, zwei Grundvoraussetzungen kulturpsychologischer Methodik.

2.5 Eine neue Methode zur Arbeit mit ambivalenten Stimuli

Meine theoretische Skizze lässt wieder vermuten, dass solche Methodik noch nicht existiert. Das ist nicht richtig. Wie oben bereits angeführt, sind diese Methoden unterentwickelt, was aber nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Beim Präsentieren eines ambivalenten Stimulus (Film, Bild, Gedicht) wird die Person ermutigt, ästhetisch darauf zu reagieren. Was heißt das? Nach dem Betrachten des Films oder der Lyrik kann die Person z. B. selbst ein Gedicht/ein Lied, ein Bild oder ein kurzes Schauspiel kreieren und für sie wichtige Elemente im Gespräch mit dem/der Kulturpsycholog:in erschaffen. Valsiner et al. haben gezeigt (2021), dass in diesem intertextuellen Verhältnis von fremdem und eigenem Werk neue Elemente in das zu erschaffende Produkt fließen, die im vorangehörten oder gesichteten Produkt noch nicht präsent waren. Ganz essenziell ist durch das Sichten dieser kulturpsychologischen Werke ein Einfühlungsprozess angestoßen, der wiederum einen Bewertungsprozess in Gang setzt, an dessen Ende neue, für die Person wichtige Elemente identifiziert werden, die die Person externalisieren will. Dieses neue Produkt spiegelt entsprechend zu identifizierende, wesentliche Elemente des (sinnvollen) Handlungsfelds unserer Person wider, die in der Auseinandersetzung mit einem ästhetischen und ambivalenten Kulturgegenstand getriggert worden sind.

Nehmen wir das Beispiel zweier Liebenden, die die Flamme ihrer Liebe erst kürzlich entzündet haben. Diese zwei Personen stehen in enger Korrespondenz und schreiben sich über mehrere Monate hinweg Liebesbriefe. Die Konversation unserer zwei Liebenden würde schnell zum Erlöschen kommen, wenn beide jeweils über Ähnliches referieren würden. Die Leidenschaft in dieser Korrespondenz liegt darin, dass sich beide einander gestehen, wie tief sie ihre Liebe empfinden und in ihrem innersten Herzen bewegt sind, d. h. wie tief diese Liebe ihr Mark erschüttert und das ganze Sein erfasst. Dabei legen beide Personen unterschiedliche Aspekte frei, über die der andere noch nicht nachgedacht hat; dies sind Aspekte, die jeweils für den einen oder anderen zentraler Bestandteil des Handlungsfelds sind. Die eine Person vermag über den gemeinsamen Waldspaziergang nachzudenken, bei dem sich beide Personen nähergekommen sind, und wie tief die innere Harmonie in der äußeren Harmonie der Natur aufgegangen ist (das Leben im Einklang der Natur ist für Person A essenziell), während die andere Person in Antwort auf diesen Brief sich an eine andere Gegebenheit nach dem Spaziergang erinnert, z. B. wie Person A liebevoll die Schuhe von Person B nach dem Spaziergang sauber gemacht hat (sich umeinander sorgen ist für Person B essenziell). Das gegenseitige Dechiffrieren jener zentralen Aspekte des anderen Handlungsfelds, seiner ganz eigenen (sinnvollen) Kultur, setzt hier (erotische) Energie frei, die jeweils in einen neuen Brief mündet. Und irgendwann hören diese Briefe langsam auf, sie ebben ab. Das hat nichts mit Faulheit der Liebenden zu tun, sondern mit der Tatsache, dass nach einiger Zeit die wesentlichsten Teile des persönlichen Handlungsfelds freiliegen und neue Aspekte rar sind. Das Rätsel langanhaltender Liebe definiert sich daraus, dass Liebende sich ständig weiterentwickeln (zusammen und separat), um sich immer wieder mit neuen kulturellen Elementen zu überraschen versuchen.

2.6 Ethnographien und deren Bedeutung zur Erschließung von Kultur

Natürlich gibt es noch weitere kulturpsychologische Methoden; ich möchte hier für euch, meine zukünftigen Freunde, jedoch nur einen Ausschnitt darstellen. Und endlich muss ich auch die ethnographischen Methoden (z. B. Kusenbach 2003 oder Mead 1954) nennen. Ethnographische Methoden sind weit gefasst, ein Vorteil der leichten Adaptierbarkeit jener Methoden. Ich nenne ethnographisch jene Methoden, in denen der Kulturpsychologe mit den Forschungsteilnehmern über eine gewisse Zeit lang lebt oder Zeit verbringt, d. h. in ihr Handlungsfeld eintaucht und somit Ziele, Bedürfnisse, Wünsche, Hemmnisse, Barrieren der jeweiligen Personen in Interaktion erfährt und erlebt. Ich möchte hier ein Beispiel des Kulturpsychologen Alfred Lang (1992, 1993) nennen, das die ethnographischen Methoden anschaulich repräsentiert und die Generierung von tiefgehendem kulturpsychologischen Wissen erlaubt. Lang hat mit seiner Forschungsgruppe Personen in ihren Eigenheimen besucht und persönlich wichtige Gegenstände erfragt bzw. erfragt, wie diese Personen (die im Eigenheim leben) mit jenen wichtigen Gegenständen interagieren und was eben jene Interaktionen über die Gestaltung des Zusammenlebens aussagen. Für ein Pärchen war ein überfüllter Wäschekorb ein ambivalenter Stimulus. Der Mann in der Studie schmiss munter seine Sachen in diesen Korb und der Korb war nach wenigen Tagen bis an den Rand gefüllt. Die Frau war von diesem überfüllten, unordentlich aussehenden Korb schnell verärgert, sichtlich genervt und entschied sich, entsprechend häufig die Wäsche zu erledigen. Als der Korb dann aber plötzlich gegen eine Kommode für dreckige Wäsche eingetauscht wurde, entwickelte sich die Interaktion in eine ganz andere Richtung. Nun konnte die Wäsche in der Kommode verschwinden, ohne im sichtbaren Umfeld der Frau zu landen. Entsprechend häufte sich die Wäsche mehr und mehr an, sodass der Mann bald über keine frische Kleidung verfügte. Ab diesem Punkt entschied er sich, regelmäßig die Wäsche zu machen. Lang fasste unter anderem zusammen, dass wir als Menschen einerseits unseren Raum psychisch strukturieren, jedoch der Raum ebenfalls über Aufforderungscharaktere (Appelle) verfügt, über die wir uns noch nicht bewusst sind und die unsere Mikrokultur (Wie mache ich Wäsche?) dynamisch verändern können. So kommt es in einer bidirektionalen Art und Weise zu einer ständigen Aktualisierung der jeweiligen, sinnvoll interpretierten Mikrokulturen.

Auf das Beispiel bezogen vermag ich zu behaupten, dass Lang diese Mikrokulturen nicht hätte erfassen können, wenn er die Teilnehmer zu sich an die Universität eingeladen hätte. Das Betreten des Handlungsfelds der Forschungsteilnehmer und das Beobachten von signifikanten Interaktionen innerhalb dieses Handlungsfelds dechiffriert wichtige Elemente in gewissen, sinnvollen Mikrokulturen unserer Teilnehmer, deren Dynamik und Gewichtigkeit wir in entscheidenden Momenten mit kurzen Fragen nachgehen und nachzeichnen können (Valsiner 2017). Das ist Kulturpsychologie par excellence.

3 Ausblick und Appell an meine zukünftigen Freunde

Wir haben in dieser kurzen kulturpsychologischen Anleitung gesehen, wie man pragmatisch Kultur definieren kann. Dabei sind wir von Boeschs Handlungsfeld ausgegangen, das auf Basis von Zielen und Bedürfnissen strukturiert wird, die gesellschaftlich gelernt und gleichzeitig mit Sinn erfüllt werden. Dabei pendelt das Handlungsfeld immer zwischen transparenten und intransparenten Elementen, wobei die intransparenten Elemente angenommen, definiert und bewertet werden können. Nichtsdestotrotz weist das Handlungsfeld auch Appelle bzw. Aufforderungscharaktere auf, derer wir uns noch nicht bewusst waren und die zu einer Aktualisierung des Handlungsfelds führen. So wird Fremdes zum Eigenen und Kultur entwickelt sich weiter. Handlungsfelder sind individuell immer sinnvoll gestaltet, d. h. sie weisen immer eine sinnvolle Auseinandersetzung des Individuums mit spezifischen – objektiv ermittelbaren – kulturellen Bedeutungssystemen auf. Für eine fruchtbare Kulturpsychologie solltet ihr euch immer dieser Interaktion von subjektiver und intersubjektiver Determinante bewusst sein. Das wesentliche Charakteristikum von Kultur sind die unzähligen Möglichkeiten von Entwicklung. Die Handlungsfelder weisen im Hinblick auf unsere Arbeit, unser Zusammenleben, unseren Alltag symbolischen Wert auf, den wir nur dechiffrieren können, wenn wir einen Einblick in diese Abläufe erhalten. Sprache ist der Türöffner zum Verständnis dieser komplexen, symbolischen Prozesse.

Diese dynamischen, genetischen Prozesse können mit verschiedenen Methoden verstanden und nachgezeichnet werden. Das TEM ist der Königsweg, um diese Dynamik, d. h. die ständige Veränderbarkeit von Kultur nachzuvollziehen und forschungstechnisch zu beobachten. Wenn wir uns darüber bewusst werden, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem fest verzahnten Verhältnis zueinanderstehen, die Vergangenheit vergangen ist, aber die Einstellung und Bewertung dieser in diesem Moment veränderbar ist, dann entwickeln sich daraus neue kulturpsychologische Prozesse, denen wir anhand des TEM nachgehen können.

Die Arbeit mit ambivalenten Stimuli kann für verschiedene Berufe des/der Kulturpsycholog:in ebenfalls relevant werden, indem sie zentrale Elemente von personalen Handlungsfeldern triggern, die in ein produktives Gespräch über Konflikte, Missverständnisse oder allgemeiner Interaktionen münden können. Methoden, die auf diesem Hintergrund, zur Produktion von eigenem ästhetischem Material anregen, sind in Entwicklung und versprechen, diesen Prozess zu erleichtern. Unser Beispiel der Liebesbriefe zeigt den Wert solcher Methodik, um Handlungsfelder in ihrer Partikularität (hier sinnvoll) freizulegen. In Kombination mit Ethnographie scheint die Arbeit mit ambivalenten Stimuli kulturpsychologisch wertvoll zu sein, wie z. B. das Lang-Beispiel zeigt (1992, 1993).

Neben einer Danksagung für das Lesen dieser Anleitung möchte ich euch, meine Freunde, ermutigen – nicht verbissen – mit Freude einzelne Standardwerke der Kulturpsychologie zu lesen, ein kleines kulturpsychologisches Forschungsprojekt voranzutreiben und euch über eure Handlungsfelder und denen eurer Freunde und Bekannten bewusst zu werden. Das bedeutet, euch darüber klarzuwerden, in welchem übergeordneten Bedeutungssystem ihr in euren verschiedenen Mikrokulturen eingebettet seid und wie ihr diese selbst sinnvoll definieren und anordnen wollt. Eurem Weg in die Tiefen der Kulturpsychologie steht dann nichts mehr im Weg. Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages, meine zukünftigen Freunde. Bis dahin wünsche ich euch alles Gute auf eurem Weg.