Begriffe wie „Digitalisierung“ sind mittlerweile omnipräsent in der Medizin und haben damit zumindest in der Theorie auch Einzug in die Orthopädie und Unfallchirurgie erhalten. Den offensichtlichen Vorteilen neuer Technologien stehen dabei Bedenken gegenüber, diese könnten die Individualität des Operateurs begrenzen oder den „gläsernen Patienten“ entstehen lassen. Nicht zuletzt sind neue Arbeitsmethoden in der Einführungsphase zumeist mit einem Mehraufwand verbunden, den alle Beteiligten bereit sein müssen zu leisten.

Das „ewige“ Problem der Knieendoprothetik: der unzufriedene Patient

Nichtsdestotrotz ist die Knieendoprothetik ein prädestinierter Bereich der Orthopädie zur Implementation verbesserter Technologien, denn noch immer ist ein signifikanter Teil der Patienten postoperativ enttäuscht [22]. Laut einer aktuellen Studie von 2019 sind ca. 85 % der Patienten nach der Implantation einer Knieendoprothese zufrieden [20] – demgegenüber stehen die restlichen 15 %, die über persistierende Beschwerden berichten. Insbesondere jüngere Patienten unter 55 Jahre scheinen gesonderte Aufmerksamkeit zu verdienen. Hier liegt dieser Anteil bei bis zu 25 % [22]. Interessanterweise scheinen sich die Zahlen innerhalb der letzten 20 Jahre nicht signifikant verändert zu haben [2, 7]. Bereits 1996 beschreiben Anderson et al. [2] unzufriedene Patienten in knapp 12 % der Fälle.

Bestrebungen die Zufriedenheit nach Knieendoprotheseimplantation zu verbessern, setzen auf unterschiedliche prä-, intra- und postoperative Maßnahmen. Wissenschaftliche Studien identifizierten präoperative Risikofaktoren [1], jedoch können diese im Alltag nicht immer berücksichtigt werden (z. B. bei Alter und Geschlecht). Auch die vermeintlich moderneren Implantate haben keinen Vorteil gebracht. Andere peri- und insbesondere postoperative Maßnahmen wie z. B. verbesserte Mobilisationskonzepte sind interessante Ansätze, die Patientenzufriedenheit zu optimieren.

Der entscheidende Faktor bleibt in vielen Ansatzpunkten jedoch der Operateur und damit der Faktor Mensch. Digitalisierung hat in diesem spezifischen Anwendungsfall den Anspruch die intraoperative Performance zu verbessern.

Definition Digitalisierung und Anwendung in der Orthopädie und Unfallchirurgie

Der Begriffe Digitalisierung muss dabei von anderen neuen Technologien wie künstliche Intelligenz oder Big Data abgegrenzt werden (Tab. 1).

Tab. 1 Definition wichtiger Begrifflichkeiten

Digitalisierung bezeichnet den Vorgang der Transformation analoger Werte in digitale Formate bzw. die Speicherung dieser in digitalen Systemen. Ein solches Vorgehen erscheint unter anderem im Rahmen komplexer Revisionsoperationen sinnvoll, um einzelne Operationsschritte anhand der Operationsanleitung in Module zu segmentieren und dann mittels digitaler Technologie in Echtzeit in den Operationssaal zu übertragen (Abb. 1) und damit die Idee zur intraoperativen digitalen Prozessstandardisierung in die Realität umzusetzen. Ziele sind, durch die Prozessstandardisierung eine verbesserte Patientenversorgung und die Unterstützung und die Entlastung des medizinischen Fachpersonals zu erreichen. Laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung wird Digitalisierung noch nicht in ausreichendem Maß im klinischen Alltag angewandt [9].

Abb. 1
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Prozess der Digitalisierung anhand des Surgical Procedure Manager (SPM®). Mit freundl. Genehmigung von Surgical Process Institute Deutschland GmbH, alle Rechte vorbehalten

Der Terminus künstliche Intelligenz (KI) ist deutlich schwerer exakt zu definieren. Künstliche Intelligenz versucht, Entscheidungsstrukturen des Menschen nachzuahmen. Alleinstellungsmerkmal ist das „Lernen“ aus eingegebenen Daten und getroffenen Entscheidungen. Eine PubMed-Recherche aus dem Jahr 2020 zeigt zwar eine steigende Anzahl an Publikationen zu KI im Fachbereich Orthopädie und Unfallchirurgie, jedoch insgesamt nur eine geringe Anzahl an wissenschaftlichen Artikeln [24]. Interessanterweise beziehen sich jedoch viele davon auf die Knieendoprothetik, was das bis dato ungenutzte Potenzial offenlegt. Mit der Verwendung der roboterassistierten Chirurgie im Bereich der Knieendoprothetik (siehe auch die ausführliche Darstellung von Callies und Christen in diesem Knie Journal-Themenheft) und Wirbelsäulenchirurgie werden derzeit erste Grundsteine für die Implementation von KI im klinischen Alltag gelegt [14].

Mit „Big Data“ werden wortwörtlich große Datenmengen bezeichnet, die mit speziellen Lösungen gespeichert, verarbeitet und ausgewertet werden, dazu gehören unter anderem auch registerbasierte Analysen oder Datenbanken von Versicherungen. Bei der Analyse solcher Daten, z. B. der Überlebenswahrscheinlichkeit von Endoprothesen, dürfen die spezifischen Eigenschaften dieser Datenbanken nicht aus den Augen verloren werden. Nur so ist eine korrekte Interpretation im Kontext von Art und Weise der Datenakquise und eingeschlossener Population möglich [6].

Im Folgenden soll eine spezielle Anwendung der Digitalisierung, ein intraoperativer Operationsmanager, genauer beleuchtet und exemplarisch von seiner Entwicklung bis hin zu ersten Ergebnissen dargestellt werden – so können im Anschluss Chancen und Risiken der neuen Technologien diskutiert werden.

Intraoperative digitale Prozessstandardisierung: Surgical Procedure Manager (SPM®)

Die Idee zur Nutzung einer intraoperativen digitalen Plattform zur Unterstützung des gesamten Operationsteams entstand vor über 10 Jahren im Rahmen eines Start-ups (Surgical Process Institute, Leipzig, Deutschland). Übergeordnete Ziele sind dabei, die Versorgungsqualität unabhängig von Zeit, Ort und Umständen auf hohem Niveau zu halten, die Variabilität der Operationsdauer zu reduzieren und eine Synchronisation von Arbeitsschritten zu erreichen. Besonders geeignet für die Implementierung eines solchen „Surgical Procedure Manager“ (SPM®, Johnson&Johnson, Surgical Process Institute Deutschland GmbH) sind Operationen aus den Bereichen Orthopädie/Unfallchirurgie oder Allgemeinchirurgie, die standardisiert ablaufen und eine Segmentation in Teilschritte zulassen. Konkret sind derzeit Analysen für die primäre Knieendoprothetik, laparoskopische Cholezystektomie, Nierentransplantation und die funktionelle endoskopische Nasennebenhöhlenoperation verfügbar [8, 12, 23].

Die Vorteile von Standardisierung von Prozessen in der Medizin lässt sich anhand der „Surgical Safety Checklist“ der World Health Organization (WHO) nachempfinden, die seit 2009 für operative Eingriffe empfohlen wird [5]. Neben der Reduktion der Letalität, konnte dabei insbesondere die Rate an schweren Komplikationen signifikant gesenkt werden [15].

Auf einem Monitor werden die einzelnen Operationsschritte in Schrift und Bild angezeigt

Die Entwicklung einer digitalen intraoperativen „Checkliste“ erscheint die logische Konsequenz. Dabei ist die Verbindung des digitalen Operationsmanagers mit dem krankenhauseigenen Verwaltungs- und Computersystem der erste Schritt, um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren. So können automatisch die zur Identifikation benötigten Patientendaten extrahiert werden. Im nächsten Schritt erfolgt die Auswahl eines auf das Krankenhaus bzw. den Operateur abgestimmten Step-by-step-Workflows. Die initiale Entwicklung und Konzeption der einzelnen Operationsschritte und die Zusammenfassung in Module erfolgte in Zusammenarbeit mit mehreren Referenzkliniken, kann dann aber durch den Endanwender angepasst werden, um die individuelle Vorgehensweise und Vorlieben der einzelnen Anwender zu berücksichtigen.

Konkret wird im Operationssaal nur ein zusätzlicher Monitor benötigt, auf dem die einzelnen Operationsschritte in Schrift und Bild angezeigt werden (Abb. 2 und 3). Neben dem aktuellen Operationsschritt sind auch die zwei folgenden Schritte abgebildet, sodass diese insbesondere von der instrumentierenden Pflegekraft antizipiert werden können. Das Hand-in-Hand-Arbeiten des gesamten Teams kann damit unterstützt werden. Nach Beendigung des aktuellen Operationsschritts kann entweder über ein Fußpedal oder sprachgesteuert der Folgende angezeigt werden. Zusätzlich wird eine Zeitleiste mit der gesamten Operationsdauer abgebildet, aber auch die Zeit, die für einzelne Abschnitte benötigt wird. Insbesondere in einer retrospektiven Evaluation der eigenen Leistung bzw. von sich in der Lernphase befindlichen Ärzten können so individuelle Schwächen erkannt und verbessert werden.

Abb. 2
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a Intraoperatives Setting unter Verwendung digitaler Technik im Rahmen des SPM®. b Auf einem Monitor werden die aktuellen Operationsschritte abgebildet. (Mit freundl. Genehmigung von Surgical Process Institute Deutschland GmbH, alle Rechte vorbehalten)

Abb. 3
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Segmentation der einzelnen Operationsschritte im Rahmen von Knietotalendoprothesenrevisionen und freie Auswahl der Reihenfolge der einzelnen Segmente. (Mit freundl. Genehmigung von Surgical Process Institute Deutschland GmbH, alle Rechte vorbehalten)

Zum Ende der Operation wird der Operationsbericht anhand der durchgeführten und bestätigten Operationsschritte erstellt. Dieser kann bei Bedarf manuell bearbeitet und anschließend zeitsparend in das krankenhausinterne System übertragen werden.

Erste Ergebnisse des SPM®

Erste Auswertungen nach Verwendung des SPM® liegen vor. Im Rahmen der funktionellen endoskopischen Nasennebenhöhlenoperation kam es zu einer Reduktion der gesamten Operationszeit sowie zu einer Reduktion der Variabilität der Operationsdauer [8]. Ähnliches zeigt sich bei Verwendung des SPM® bei Nierentransplantationen mit einer Reduktion der Schnitt-Naht-Zeit sowie der gesamten Prozedur inklusive Vor- und Nachbereitung [23].

Bei Knieendoprothesen konnte die Operationszeit um 19 % reduziert werden

Nicht zuletzt konnte eine Reduktion der Operationszeit um 19 % bei primären Knieendoprothesen nachgewiesen werden [11, 12]. Gleichzeitig wurde die Variabilität der Operationsdauer um 13 % gesenkt.

Chancen und Risiken der digitalen Prozessstandardisierung

Der „Surgical Procedure Manager“ ist ein intraoperatives Tool zur Durchsetzung eines Arbeitsprozesses, zur Dokumentation und Ausbildung. Die intraoperative Anwendung digitaler Technologie zur Prozessoptimierung steht am Anfang ihrer Entwicklung und bedarf sicherlich einer Validierung in weiteren Studien. Nichtsdestotrotz zeigen die aufgeführten Untersuchungen auch bei erfahrenen Operateuren und Kliniken bereits eine Verringerung der Operationsdauer. Der Beweis einer Verbesserung der Qualität der chirurgischen Leistung muss noch erbracht werden.

Vor- und Nachteile der Digitalisierung zur Prozessoptimierung sind kritisch zu beleuchten.

Vorteile

Steigerung der Effizienz

Ein intelligentes Zeitmanagement spielt insbesondere hinsichtlich des wirtschaftlichen Drucks im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle. Die Vereinheitlichung der Operationsstandards führt zu einer Reduktion der Schnitt-Naht-Zeit um 19 % bei primärer Knieendoprothesenimplantation und kann im Durchschnitt die Kapazität für eine weitere Operation pro Tag eröffnen [12]. Insbesondere erleichtert dies auch die Einarbeitung des Operationspersonals. Des Weiteren ergibt sich aus einer verringerten Variabilität der Operationsdauer die Chance, Operationskapazitäten in großen Kliniken durch eine exaktere Vorhersagbarkeit besser zu nutzen. Auch aus Sicht des Patienten ist die Reduktion der Operationszeit bei gleichem Ergebnis erstrebenswert, da die Infektionsrate nach Knieendoprothese signifikant mit der Dauer der Operation korreliert [3].

Verbesserung der „situational awareness“

Daneben kann eine Standardisierung von Arbeitsprozessen zu einem verbesserten Situationsbewusstsein („situational awareness“) führen und so den klassischen Tunnelblick verhindern, der in unerwarteten oder stressbesetzen Situationen entstehen kann [10]. Fehlende Kommunikation und Teamwork werden als Hauptrisikofaktoren für operative Zwischenfälle und Komplikationen gesehen [4, 21], wobei insbesondere die Unterbrechung des Workflows mit einer höheren Anzahl an chirurgischen Fehlern einhergeht [25].

Operative Ausbildung

Die operative Erfahrung beeinflusst die Überlebenswahrscheinlichkeit der Prothese [17, 19]. Harper et al. [13] empfehlen für eine Verbesserung der Ausbildung der Assistenzärzte im Rahmen der Knieendoprothetik die etappenweise Aufschlüsselung der Operation, ähnlich wie der SPM® diese visuell darstellt.

Nachteile

Standardisierung und Angst des Chirurgen vor dem Verlust der Individualität

Digitalisierung und künstliche Intelligenz rufen auch Kritiker hervor, die Angst vor einer haben, in der Maschinen die Erde beherrschen. Andere sehen darin eine Chance, auf verbesserte Lebensbedingungen, Arbeitsplätze und Sicherheit. Die Digitalisierung im Rahmen des operativen Prozessmanagements will den Chirurgen nicht ersetzen, sondern ihn in seiner Arbeit unterstützen, ohne seine Individualität zu beschneiden. Es ist entscheidend, dass neue Technologien die Möglichkeit haben, vom Operateur flexibel mitgestaltet zu werden.

Befürchtungen der Patienten

Deutlich werden die Befürchtungen von Patienten in einer Untersuchung zur Telemedizin [16]. Über zwei Drittel der Befragten haben Angst vor einem schlechteren Arzt-Patienten-Verhältnis aufgrund der vermehrten digitalen Kommunikation. Der SPM® wirkt zwar nicht auf die Kommunikation zwischen Arzt und Patient, soll jedoch, wie dargestellt die Verständigung und Synchronisierung im Operationssaal erleichtern.

Daneben spielen Datenschutz und -sicherheit sicherlich eine wichtige Rolle. Hier muss insbesondere im Rahmen von Schnittstellen darauf geachtet werden, sensible Daten zu schützen.

Probleme bei der Einführung neuer Technologien („hype cycle“)

Bei der Implementation von bis dato unbekannten Technologien kann es zu dem Phänomen des „technology hype cycles“ kommen [18]. Zu Beginn können die oft zu hohen Erwartungen, die eine Innovation hervorruft, nicht befriedigt werden – und zurück bleiben Enttäuschung und Desillusion. Erst mit zunehmender Reifung und Weiterentwicklung können neue Produkte den Anforderungen entsprechen. Diese erste kritische Phase kann nur durch die adäquate Kommunikation realistischer Erwartungen innerhalb des Teams überstanden werden.

Fazit für die Praxis

  • Digitalisierung und daraus erwachsende Anwendungen sind bereits Teil der modernen Medizin und werden sich in den kommenden Jahren deutlich weiterentwickeln.

  • Der Arzt steht in einem Spannungsfeld zwischen Chancen und Risiken dieser Innovationen – es bedarf weiterhin einer kritischen Prüfung vor und nach Implementation, um ethische Grundsätze zur respektieren.

  • Ein digitales Werkzeug wie der „Surgical Procedere Manager“ (SPM®) dient der Prozessoptimierung und zeigt in ersten Studien eine deutliche Reduktion von Operationszeit und Variabilität der Operationszeit.

  • Die übergeordneten Ziele des SPM® sind neben der Ökonomisierung die Verbesserung der Versorgungsqualität und Dokumentationsqualität.