Das „deutsche ‚68‘“, merkte Norbert Frei in seiner zum 40. Jubiläum der studentischen Revolte erschienenen Darstellung kritisch an, erweise sich „auch vier Jahrzehnte danach als überkommentiert und unterforscht“. Die „Flut der Urteile und Meinungen, die sich seit 1983 zu jedem ‚runden‘ und ‚halbrunden‘ Jahrestag über uns ergießt“, stehe „in keinem Verhältnis zu den wenigen Versuchen, das Geschehen selbst“ zu rekonstruieren. Daran ändere auch eine vermehrt betriebene, durchaus ertragreiche „spezialistische Detailforschung“ nichts, zumal sie hauptsächlich an den „längerfristigen Wirkungen und Folgen“ interessiert sei.Footnote 1 Verglichen mit der „Publikationsflut ohnegleichen“Footnote 2 vor zehn Jahren fällt die Ausbeute anlässlich des 50. Jahrestags erstaunlicherweise recht bescheiden aus. Überdies ist eine Tendenz zum „Recycling“ unverkennbar: Einige Autoren haben frühere Arbeiten in gekürzter oder nur geringfügig ergänzter Form neu publiziert.Footnote 3 Versuche, mithilfe intensiver Archivrecherchen herauszufinden, „wie es eigentlich gewesen“ ist, sind hingegen noch immer selten, stattdessen überwiegen 2018, wie auch schon vor einer Dekade, problematisierende Deutungen des Geschehens. Allerdings ist der Furor verschwunden, mit dem etwa Götz Aly Achtundsechziger-bashing betrieben hatte.Footnote 4 Bevor einige der Neuerscheinungen in exemplarischer Absicht vorgestellt werden, möchte ich zunächst Schwerpunkte und Tendenzen der Beschäftigung mit „1968“ in den vergangenen 50 Jahren im Rhythmus der „runden“ Jubiläen rekapitulieren.

Dass auch in der Bundesrepublik das Jahr 1968 zur Chiffre oder Zäsur wurde – und nicht das Jahr 1967, das mit dem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg die massenhaften Proteste hierzulande ausgelöst hatte und deshalb nach Ansicht mancher Historiker „wichtiger“ warFootnote 5 –, hängt vermutlich damit zusammen, dass in diesem Jahr die weltweiten Proteste kulminierten: „Thanks to the riots in West Berlin, Paris, and New York and sit-ins in more than twenty other countries in recent months, student activism has caught the attention of the world“, konstatierte ein CIA-Bericht vom September 1968.Footnote 6 Und für die meisten Interpreten und Kommentatoren, gleich ob politisch „linker“ oder „rechter“, „liberaler“ oder „konservativer“ Couleur, markierte dieses Jahr eine Art „Epochenbruch“ – freilich für die einen zum Guten, für die anderen zum Schlechten. Attestierte etwa Jürgen Habermas der „studentischen Protestszene“ im Rückblick, sie habe den „ersten Schub“ einer „Fundamentalliberalisierung“ der Bundesrepublik ausgelöstFootnote 7, so deutete der Journalist Ludolf Herrmann im Anschluss an Barbro EberanFootnote 8 die Rebellion als „lebhaftesten Ausdruck“ deutscher „Selbstkasteiung“ und einer in der Bundesrepublik grassierenden „Wertparalyse“; die „Wertezertrümmerer finden nichts mehr vor, was sie zerstören könnten“.Footnote 9 In dieser anprangernden Tradition steht auch die noch banalere Bilanz, die der „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann, Jahrgang 1964, zog: Man könne „Achtundsechzig, also dem Epochenbruch der deutschen Gesellschaft in Richtung Egozentrik, Mittelmaß und Faulheit, vieles vorwerfen“, doch die „verhängnisvollste Folge“ dieser Zeit sei das „Aufkommen des Gutmenschen, also die säkulare Form des pietistisch-abseitigen Frömmlers“.Footnote 10 Zwischen diesen beiden Extremen bewegen sich die Deutungen der Ereignisse „um 1968“ und ihren politischen und soziokulturellen Auswirkungen seit den ersten zeitgenössischen Kommentaren und Urteilen.

1 Zeitgenössische Deutungsversuche

Während Zeitungen des Springer-Konzerns den Verfall von Sitte und Anstand beklagten, die protestierenden Studenten als „Politgammler“ und „immatrikuliertem Mob“ attackierten und in verschwörungstheoretischer Manier eine Steuerung und Bezahlung durch die SED unterstelltenFootnote 11, schwankte die „ZEIT“ zwischen Ironisierung und dem Appell zur ernsthaften Auseinandersetzung. Herausgeber Gerd Bucerius etwa kam im März 1968 mit Blick auf die „jungen Revolutionäre“ zu dem Fazit: „Sie irren – aber ich beneide sie um ihren Glauben und ihre Redlichkeit“.Footnote 12 Immerhin nahmen Bucerius und andere „ZEIT“-Journalisten die studentischen Aktivisten als „Revolutionäre“ ernst und knüpften damit an deren Selbstverständnis an. Erst nach der Eskalation der Gewalt während der „Osterunruhen“ schwand die grundsätzliche Sympathie mit den Zielen der Protestierenden und einflussreiche Redakteurinnen wie Marion Döhnhoff sahen sich genötigt, einen „dicken Trennstrich“ zu ziehen.Footnote 13 Die ersten journalistischen, (populär‑)wissenschaftlichen und von Aktivisten verfassten Darstellungen stimmten im Großen und Ganzen darin überein, dass eine „revolutionäre Umwälzung“ in der Bundesrepublik schon daran scheitern müsse, dass keine „revolutionäre Situation“ gegeben sei.Footnote 14 Zwar seien viele Forderungen der Studenten, insbesondere sofern sie die Zustände an den Universitäten beträfen, durchaus berechtigt. Eine „Radikaldemokratisierung“ im Sinne der „Überwindung der bürgerlichen Klassengesellschaft“ wurde indes entschieden abgelehnt.Footnote 15 Die Frage, ob die „rebellischen“ Studenten und Studentinnen die „Elite der Demokratie oder Vorhut eines linken Faschismus“ seien, so der Untertitel eines BuchsFootnote 16, hätte wohl kaum einer der zeitgenössischen Kommentatoren ohne Einschränkung zugunsten der ersten Deutung beantwortet. Größere Zustimmung fand die zweite Deutung: Habermas’ Wort vom „linken Faschismus“ fiel bekanntlich spontan in einer Diskussionsveranstaltung als Reaktion auf eine Rede Dutschkes und war an den expliziten Vorbehalt des richtigen Verständnisses dieser Rede als Ausdruck einer „voluntaristischen Ideologie“ geknüpft.Footnote 17 Dennoch griffen Kritiker der Studentenbewegung dieses Verdikt begierig auf. Zur vorherrschenden Sicht wurde diese extreme Interpretation indes nicht. Wenn der Protest nicht von vornherein als medizinisch-psychologisches Phänomen eingeordnet wurde – „Reizüberflutung, körperliche Frühreife und geistige Spätentwicklung“ seien die Ursachen der „Exaltation“Footnote 18 –, diente meist der „Generationenkonflikt“ als Erklärungsansatz.Footnote 19 Weit entfernt von späteren Deutungen als Liberalisierungs- oder Verwestlichungsschub galten die Proteste anderen Beobachtern vielmehr im Gegenteil als Ausdruck der „alten Affekte einer antiliberalen und antiwestlichen Romantik“ in „scheinbar rationaler und ‚aufgeklärter‘ Verhüllung“.Footnote 20

Gerade die Bemühungen mancher Liberaler, dem Protest „gönnerhaft … Erfolge“ zu attestieren, das Wesentliche der Rebellion aber im „psychisch bedingten Unbehagen der Jugend“ zu suchen und die „radikal politische Kritik“ in die „Idylle des Generationsproblems“ einzupassen, stieß bei Wortführern der Bewegung wie Bernd Rabehl vom SDS erwartungsgemäß auf Ablehnung.Footnote 21 Sie verstanden sich als Revolutionäre und wurden von vielen Anhängern und Sympathisanten auch so verstanden: Ein RCDS-Mitglied habe ihn in einer Fernsehdiskussion als „Nichtdemokraten, als Revolutionär“ bezeichnet, was „sehr beklatscht wurde“, notierte Rudi Dutschke im Juni 1967 zufrieden in sein Tagebuch.Footnote 22 Nicht für Demokratisierung und Liberalisierung gingen diese Student_innen, Schüler_innen und Lehrlinge auf die Straße, sondern in dem Bewusstsein und mit dem Ziel, dass die „spätkapitalistische Gesellschaft ersetzt“ werden müsse durch eine „sozialistische Gesellschaft“.Footnote 23 Als Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass unter Zeitgenossen eine Vielzahl von Begriffen zur Deutung der Ereignisse „um 1968“ im Umlauf waren: Revolution, Revolte, Rebellion und Protest, um die gebräuchlichsten zu erwähnen. Das Narrativ von der Demokratisierung oder Liberalisierung der Bundesrepublik spielte hingegen keine Rolle – nicht bei den journalistischen und wissenschaftlichen Kommentatoren und schon gar nicht bei den studentischen Protagonisten.

2 1977/78: „Zehn Jahre danach“ im Schatten des „deutschen Herbstes“

In der öffentlichen Wahrnehmung wurde das zehnjährige Jubiläum der Studentenproteste vom „deutschen Herbst“ überlagert. In der konservativen Presse fand der Jahrestag erstaunlicherweise wenig Beachtung, obwohl er doch Gelegenheit geboten hätte, über den Zusammenhang zwischen der Studentenbewegung und dem linken Terrorismus in Gestalt der RAF oder der „Bewegung 2. Juni“ zu reflektieren. In der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“) erläuterte Elisabeth Noelle-Neumann unter der Überschrift „Wie demokratisch sind unsere Studenten?“ stattdessen die Ergebnisse einer Allensbach-Umfrage unter 500 Student_innen: Gegenüber 1967, so ihr Befund, habe sich wenig verändert – „aller Reformwut zum Trotz“. Die „Demokratieverachtung vieler Studenten“ sei nicht verschwunden, sondern eher noch gewachsen. Einen Demokratisierungsimpuls vermochte Noelle-Neumann also nicht im Entferntesten zu erkennen, zumal 61 Prozent der befragten Student_innen überdies den Kommunismus „von der Idee her“ für „gut“ hielten.Footnote 24 Auch der Philosoph Günter Rohrmoser war von einem erfolgreichen „Angriff“ der außerparlamentarischen Opposition auf die gesellschaftliche Ordnung überzeugt. Man habe es mit einer „neuen Strategie der System-Veränderung, mit einer Kultur-Revolution neuen Typs zu tun“, freilich handle es sich „nicht um einen zentral gesteuerten Prozess“, sondern „eher um eine Art Grundströmung, die tendenziell alle Bereiche“ erfasse und aus der „Berufung auf den Geist der Zeit seine Legitimation“ beziehe.Footnote 25 In der „ZEIT“ deutete Dieter E. Zimmer den Protest hingegen als ein „Amalgam“ aus einer „neumarxistischen (revolutionären)“ und einer „radikaldemokratischen (reformistischen)“ Revolte. Beide stünden im Kontext einer „Kulturrevolution“, die ihrerseits „Teil eines noch totaleren Aufbegehrens“ sei; dieses Aufbegehren richte sich gegen einen Alltag, der „bis in den letzten Winkel leer, trist, falsch, unerträglich“ sei und „auf gar keinen Fall hingenommen werden“ könne.Footnote 26 Ein „Großteil der ehemaligen APO-Prominenz“ habe sich inzwischen an den Hochschulen und im Kulturbetrieb etabliert. Deshalb, so Zimmers Fazit, sei die Bewegung im „unmittelbaren Sinn … im Inneren zerbrochen und nach außen gescheitert“; mittelbar wirke sie jedoch „vielfältig fort“, beispielsweise in den Bereichen Universität und Erziehung, Sexualität und Bürgerbeteiligung. Insbesondere in den Bürgerinitiativen würden die „Revoltierenden von damals“ viele ihrer Ziele wiedererkennen – allerdings dächten diese Initiativen in ihrer Mehrzahl „gar nicht daran, die Systemfrage zu stellen“.Footnote 27

Die wissenschaftlich orientierte Jubiläumsliteratur, die teilweise von ehemaligen SDS-Mitgliedern stammte, konzentrierte sich auf das während der Protestaktionen der Jahre 1967 und 1968 entstandene Gemeinschaftsgefühl, den Wandel des politischen Bewusstseins und die persönlichen Erfahrungen mit polizeilicher Gewalt. Insbesondere letzterer Aspekt nährte „eine in den Zeitzeugenberichten der späten Siebzigerjahre zum Ausdruck kommende misstrauische bis ablehnende Haltung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen“. Wichtiger als der Versuch einer Deutung der Geschehnisse war indes die Suche nach den Ursachen des politischen Scheiterns, die – je nach (partei)politischem Standpunkt – entweder in der „elitären Ausrichtung“ der Studentenbewegung, ihrer Distanz zur traditionellen Arbeiterbewegung oder dem Verzicht auf die Gründung einer „starken sozialistischen Partei“ gesehen wurden. Mitunter waren auch schon Anklänge an die spätere These vom „politischen Scheitern, aber kulturellen Erfolg der Bewegung“ zu erkennen.Footnote 28 Das „Kursbuch“, das die „Formierung und Mobilisierung sowie den Zerfall der deutschen 68er Bewegung“ begleitet und ihr als „Forum“ gedient hatteFootnote 29, widmete dem Jubiläum unter dem lapidaren Titel „Zehn Jahre danach“ eine komplette Ausgabe. Zu den darin behandelten Themen zählten die Verteidigung der antiautoritären Bewegung, die Gewaltproblematik, ein Plädoyer für einen theoretischen Pluralismus der Linken und Erfahrungsberichte aus der Bürgerinitiativen-Bewegung. Horst Mahler, zunächst Anwalt einiger APO-Aktivisten und später einer der führenden Köpfe der RAF, steuerte aus der Haft einen selbstkritischen Beitrag bei, der in der zentralen Einsicht gipfelte: „Unser Verhältnis“ – und damit meinte er die Linke insgesamt – „zur Industriearbeiterschaft scheint nicht in Ordnung zu sein.“Footnote 30 Unter den Autoren dieses „Kursbuchs“ war es Johann August Schülein, der sich am nachdrücklichsten an einer Deutung der Ereignisse versuchte. Für ihn handelte es sich bei der Studentenrevolte um eine „Fundamentalopposition“, die sich „nicht auf das Ziel beschränkt, politische Macht umzuverteilen, sondern die die Reorganisation von Sinnstrukturen erreichen will“. Ökonomisch gesehen sei sie „ein Produkt einer vergleichsweise krisenfreien Phase der Prosperität“ gewesen, unter soziologischen Gesichtspunkten sei sie „nicht ganz zu Unrecht als ‚Mittelstandsbewegung‘ bezeichnet“ worden, denn sie habe „in der Tat auf den in der Mittelklasse am deutlichsten registrierten Sinnverlust reagiert“. Die „Veralltäglichung studentischen Protests“ und die gestiegene „Anpassungsfähigkeit des Systems“ hätten die Studentenrevolte schließlich erstickt: Ihre „systemkritische Aktivität“ habe „in gewissem Sinne dazu geführt, dass das System differenzierter und anpassungsfähiger“ geworden sei.Footnote 31

Alles in allem fällt auf, dass die Autoren und Autorinnen der nicht sehr zahlreichen Artikel und Bücher zum zehnjährigen Jubiläum in erster Linie an den Ursachen des Scheiterns der Bewegung und an der Frage nach dem weiteren Werdegang der Protagonisten interessiert waren – und nur selten an einer Deutung des Geschehens. Überhaupt erschienen die meisten Artikel und Bücher bereits 1977, und ihr Bezugsjahr war 1967. Die Begriffe „Achtundsechziger“ oder „1968“ wurden zwar gelegentlich gebraucht, als Chiffren bürgerten sie sich aber erst zu Beginn der 1980er Jahre ein.

3 1987/88: „Das folgenreichste Jahr der jüngeren Geschichte wird 20“

Zum 20-jährigen Jubiläum mehrten sich die Kommentare, die das Jahr 1968 als eine Art Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik begriffen und, bei aller vorsichtigen Abwägung, mehr Erfolge als Misserfolge zu erkennen glaubten. Die „WELT AM SONNTAG“ etwa erinnerte an die APO, den „Marsch durch die Institutionen“, den Mai 1968 in Paris, die Unterdrückung des „Prager Frühlings“ und die Ermordung Martin Luther Kings und Robert Kennedys: Die „Straßenschluchten der Republik hallten wider vom Zorngeschrei … Dutschkes Genossen begannen den ‚Marsch durch die Institutionen‘“ und „eroberten Lehrstühle und Richterstühle, drangen in Medien und Ministerien ein, wurden zu Propagandisten einer permissiven Gesellschaft“. Gleichzeitig „spross aus dem Wurzelwerk der APO die terroristische RAF“.Footnote 32 Die „Verbindungsstränge zum Terror“ erwähnte auch Olaf Ihlau in der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“); die entscheidenden Impulse der Revolte sah er unter Berufung auf den Berliner Politologen Klaus Motschmann allerdings in einer „Fernwirkung“ der APO auf die Gesellschaft in der Bundesrepublik, nämlich in einem „Paradigmenwechsel unserer politischen, religiösen, rechtlichen und kulturellen Wert- und Ordnungsvorstellungen“ – ein Prozess, der noch in vollem Gange sei, nur werde der Kampf „nicht mehr gewaltsam gegen das System, sondern ‚sanft‘ im System geführt“.Footnote 33 In der „tageszeitung“ zog Klaus Hartung eine ähnliche Bilanz: Der Erfolg sei „unbezweifelbar: von der Erschütterung des Leistungsprinzips bis zur sexuellen Revolution, von der Hochschulreform bis zum Recht der Demonstranten auf die Straße“. Er erinnerte aber zugleich daran, dass es den „Helden von einst“ um mehr gegangen sei: für sie habe „damals die Revolution vor der Tür“ gestanden.Footnote 34 Selbst der „SPIEGEL“ schrieb mit einer achtteiligen Serie, allen kritisch-ironischen Untertönen zum Trotz, an der Erfolgsstory mit: „Kanzler Kohl und seine Männer“ hätten erkennen müssen, „dass die ingrimmig bekämpften Erfolge der Emanzipationsbewegung seit 1968 nicht einfach abzuräumen waren“. Die „antiautoritäre Sperrigkeit, die die deutschen Verhältnisse aus Sicht des Kanzleramtes heute oft ‚unregierbar‘ machen – dieser Zeitgeist will sich nicht wenden“Footnote 35.

Zu denjenigen, die das dominierende Erfolgs-Narrativ explizit in Frage stellten, zählten Johannes Gross, Hermann Rudolph und Hermann Lübbe. Ganz lapidar fiel Gross’ Verdikt aus: eine „dümmere Revolution als die von 1968“ habe es wohl nie gegeben, es „war daran kein einziger Kopf beteiligt, es ist keiner daraus hervorgegangen“.Footnote 36 Rudolph stimmte dagegen in der „SZ“ zunächst durchaus in den „Erfolgs“-Chor ein: Das „Jahr 1968, die 68er als Generation“ seien, „wenn der Blick nicht trügt, auf dem besten Weg, alle Umstrittenheit hinter sich zu lassen.“ Denn es sei mittlerweile geradezu ein Allgemeinplatz, dass „die 68er es waren, die Bewegung in die Bundesrepublik brachten“ und „einen notwendigen Wandel des Verhaltens und der Verhältnisse einleiteten“. Kurzum, das Jahr 1968 erscheine, „was immer es sonst noch sein mag, als eine zweite Geburt, eine neue Stunde Null dieser Republik“. Doch was dann folgte, war ein frühes Beispiel einer „Historisierung“ und „Kontextualisierung“ von „1968“. War die Protestbewegung, so seine rhetorische Frage, wirklich die „große Zäsur“, welche „die Enge vom Aufbruch in die Freiheit, das Verkrustete vom Lebendigen trennte“, mit anderen Worten: „der große Anfang“? Der Modernisierungsprozess etwa im Bildungssektor oder in der Verwaltung, so Rudolphs These, sei längst im Gange gewesen, als „die Studenten den Aufstand zu proben“ begannen. Vermutlich, so seine Schlussfolgerung, sei es diese „eigentümliche Querlage der 68er-Bewegung im Verhältnis zu den Tendenzen der Modernisierung und Öffnung in den sechziger Jahren – halb Treibsatz, halb Rohrkrepierer –, die ihren historischen Ort am ehesten angeben könnte“.Footnote 37 Gegen „verklärende Mythen“ über die Studentenbewegung schrieb auch Hermann Lübbe an. Weder habe sie zuerst auf die Notwendigkeit einer Hochschulreform aufmerksam gemacht, noch sei sie eine Antwort auf die Weigerung der Vätergeneration gewesen, „sich ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit zu stellen“; überdies habe es der Studentenbewegung nicht bedurft, um an den deutschen Hochschulen „Gelegenheiten zum Studium marxistischer Traditionen“ einzurichten, und von einem „Beitrag zur nötigen Emendation der demokratischen Kultur der Bundesrepublik“ könne ebenfalls keine Rede sein. Ihre „Demokratisierungs-Forderung“ weise vielmehr einen „bis heute nachwirkenden Stich ins Romantisch-Totalitäre“ auf. Lübbe widersprach deshalb all jenen, „die just in dieser Bewegung einen bedeutenden Beitrag zur Stärkung der Demokratie in Deutschland erkennen“ wollten.Footnote 38

Ein ähnlich ambivalentes Bild ergab sich aus den Rückblicken der 13 „Zeitzeugen“ aus Wissenschaft, Politik und Publizistik – darunter Detlev Albers, Frank Deppe, Hubert Kleinert, Wolfgang Kraushaar, Claus Leggewie, Anke Martiny und Michael Schneider –, welche die Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ unter dem Titel „Aufbruch in die andere Republik?“ veröffentlichte. Der „Wandel von Werten und Vorstellungen seit den 60er Jahren“, so hieß es im Editorial, sei „gewiss nicht auf 1968 … zu reduzieren, aber lassen sich die Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein und in der Lebensweise ohne den Stachel der 68er Bewegung hinreichend begreifen?“Footnote 39 Den Aspekt der „Zweideutigkeit“ betonte auch Thomas Schmid in einem Beitrag zu einem Sammelband, verfasst von 68ern, die, wie der Klappentext vermerkte, „wesentlich“ an der „Studentenrevolte“ beteiligt gewesen seien. Blende man alle Deutungsversuche aus, die „68“ in die „Tradition des revolutionären Sozialismus“ stellten, so herrsche „schnell Übereinkunft“ darüber, dass die „doppelte Lesbarkeit wohl das Charakteristische dieser Bewegung“ sei, dass „selten eine Revolte derartig intensiv in zwei Richtungen blickte“. Zweifellos sei es „in hohem Maße ein Verdienst der Linken“, dass die bundesrepublikanische Gesellschaft den „demokratisch eingekleideten Autoritarismus hinter sich gelassen“ habe, doch sei dies „nur die halbe Wahrheit“. Gehe man von ihr aus, werde „‚68‘ in falscher, übertriebener Pointierung zu einer Art Wasserscheide der bundesrepublikanischen Geschichte“. In Abgrenzung von solchen einseitigen Sichtweisen vermutete Schmid, dass „‚68‘ nicht nur Bruch mit der Adenauerära war“, sondern „in gewisser Weise auch auf deren Schultern stand“.Footnote 40

Neben dem Bemühen um eine „gerechte“ Bilanz war die Entdeckung der „alternativen“ oder „anderen Achtundsechziger“ das hervorstechende Merkmal der publizistischen und wissenschaftlichen Wortmeldungen zum 20. Jubiläum. Damit waren konservative Politikerinnen und Politiker wie Rita Süssmuth oder Eberhard Diepgen sowie Parteistrategen wie Wulf Schönbohm oder Peter Radunski gemeint, die in den späten 60er Jahren – beispielsweise als RCDS-Funktionäre oft in Konfrontation mit linken „Achtundsechzigern“ – politisch sozialisiert worden waren und später in der CDU Karriere gemacht hatten. Bereits 1986 machte Peter Grafe auf den „Generationskonflikt“ auch in der CDU aufmerksam. Zwar wollten „die 68er in der CDU … weder die Welt noch die Republik von Grund auf ändern“ – aber ihre Partei wollten sie schon „modernisieren“ und sie „von einer kirchlich gebundenen Gesinnungs- zu einer sogenannten Volks- oder Allerweltspartei entwickeln“.Footnote 41 Und zwei Jahre später zog Jürgen Habermas in einem Gespräch mit Rainer Erd das gar nicht ironisch gemeinte Fazit, dass „der Marsch durch die Institutionen … sogar die CDU erreicht“ habe.Footnote 42

„Alle lieben 68“, kommentierte Klaus Hartung in der „taz“ dieses erstaunliche Phänomen.Footnote 43 Ganz so einträchtig 68-trunken fielen die Rückblicke aus dem Abstand von 20 Jahren zwar nicht aus, wie die zitierten Kommentare und Bewertungen belegen – vielleicht sollte Hartungs Diktum deshalb dahingehend abgewandelt werden, dass alle vorgaben, „68“ zu lieben. Aber die polarisierende Sicht auf das Ereignis, die zehn Jahre zuvor dominiert hatte, wurde sowohl in den journalistischen als auch in den (wenigen) wissenschaftlichen Analysen von Deutungsversuchen verdrängt, die um Ausgewogenheit und Verständnis bemüht waren.

4 1992/93: „Kulturkampf um die 68er Epoche“

Von solchen Bemühungen war fünf Jahre später nicht mehr viel zu spüren. Die „ZEIT“ diagnostizierte einen „Kulturkampf um die 68er Epoche“Footnote 44, während Eckhard Fuhr in der „FAZ“ den Trend, dass sich selbst in der CDU „Jüngere auf die identitätsstiftende Kraft der Zugehörigkeit zu dieser Generation“ besännen und „Achtundsechziger“ sein wollten, im Unterschied zu Habermas und Hartung als „wahrscheinlich … fürchterliche Wahrheit“ anprangerte: Es sei „jedenfalls nicht zu bestreiten, dass die politische und geistige Ausstattung der heute den Ton angebenden Generation, ihr Wertmuster, ihr Vokabular, ihre Lebenskultur von jenem ‚Aufbruch‘“ herrührten. Ebenso offensichtlich sei, dass „die Blockaden der deutschen Politik, ihre wimmernde Hilflosigkeit“ auch damit zu hätten. Seine Schlussfolgerung lautete deshalb: „Die deutsche Politik muss sich von 1968 emanzipieren“.Footnote 45 Zum 25-jährigen Jubiläum formierten sich die Lager somit neu: Auf der einen Seite standen die Kritiker, die „1968“ und die „Achtundsechziger“ nun für alle Probleme und Defizite in der bundesrepublikanischen Politik und Gesellschaft verantwortlich machten, auf der anderen insbesondere die „Veteranen“, die – keineswegs unkritisch – „1968“ nach wie vor als entscheidenden Impuls für die Liberalisierung und Demokratisierung der Bundesrepublik verstanden.

Als neuer Kritikpunkt tauchte nun, nach der „unverhofften Einheit“ (K. Jarausch), die zögerliche bis ablehnende Haltung der politischen Linken im Allgemeinen und der „68er“ im Besonderen in der Frage der Wiedervereinigung auf. Die „intellektuell erfasste Zweistaatlichkeit“ und das „emotional erfahrene Wohlleben“, kritisierte beispielsweise Brigitte Seebacher-Brandt, seien eine „unselige Verbindung“ eingegangen, und die daraus erwachsene „Überheblichkeit“ habe die „Achtundsechziger“ daran gehindert, „die Zeichen der Zeit zu erkennen“: Die Geschichte habe sie „überlistet – und abgewählt“.Footnote 46 Der „ZEIT“-Journalist Gunter Hofmann sah in solchen Angriffen den Beginn einer „Abrechnung“ mit der „außerparlamentarischen Protestgeneration“, eine „Art Kriegserklärung“, gar einen „Kulturkampf gegen die Kulturrevolutionäre“. Inzwischen habe sich eine „Koalition aus Alten und Jungen, aus Linken und Rechten, ja unter Mithilfe von 68ern selbst, gegen 1968 formiert“. Wer wolle, könne „1968“ für „viele der heutigen Schwierigkeiten in Deutschland verantwortlich machen“ – für den Rechtsextremismus, den Streit über das Asylrecht und die Entsendung deutscher Soldaten in Krisengebiete, die Probleme bei der Vereinigung. In das Lamento über die 68er mochte er gleichwohl nicht widerspruchslos einstimmen. Die allerorten wahrnehmbaren Anzeichen einer im Entstehen begriffenen „Konfliktdemokratie“ stimmten ihn optimistisch: „Es sieht so aus, als ob ein Stück Demokratie eingesickert ist ins Land“.Footnote 47 Der Topos vom Verschwinden, der neben dem Vorwurf nationalen Desinteresses das 25-jährige Jubiläum kennzeichnete, findet sich auch bei Jürgen Busche: „Die Generation der 68er scheint schon von der Geschichte überholt zu sein, bevor sie abtritt.“ Bei aller Kritik an der „Revolutionsverliebtheit“ der Studentenbewegung beharrte er immerhin darauf, dass der „zivilisatorische Prozess“, für den 1968 ein „entscheidendes Datum“ markiere, seither „nicht umgekehrt“ worden sei. „Ihn bewusst und stark in Deutschland verankert zu haben, ist das Verdienst der 68er – gleich welcher Couleur“Footnote 48.

Während Busche offen ließ, ob dieser Prozess gewissermaßen „hinter dem Rücken“ der Akteure verlaufen sei, ging Thomas Schmid von einer „unwillentlichen Verwestlichung“ aus, die er als eines der „wesentlichsten Merkmale der Revolte von 1968“ hervorhob. Sie habe letztlich „viel von dem gestärkt, was sie bekämpfte“. Während die „Achtundsechziger“ „im Bereich der ‚weichen‘ Themen auf der ganzen Linie siegreich“ gewesen seien, gingen „die Entscheidungen im Bereich der ‚harten‘ Themen auf das Konto der Gegenseite. Pointiert gesagt: die Rechte für die Gestaltung, die 68er für die Ausgestaltung“. Gleichwohl war auch er der Ansicht, dass die Revolte „in große Ferne“ gerückt sei. Schon 1988 hätten die Erinnerungsbemühungen „etwas Bemühtes“ gehabt, seitdem aber „scheinen Lichtjahre vergangen zu sein“.Footnote 49 Im Gegensatz zu solchen Versuchen, die „Achtundsechziger“ „dank einer wundersamen historischen List der Vernunft“ als Geburtshelfer einer „lebendigen Demokratie“ zu begreifen, zog Kurt Sontheimer, der ja nicht nur als Wissenschaftler, sondern gleichzeitig als Zeitzeuge Stellung bezog, eine eindeutig negative Bilanz: Die Studentenrevolte habe „per saldo mehr Negatives als Positives vermittelt“, es gebe sogar „eine noch bis heute nachwirkende Erblast der studentischen Protestbewegung“ und „unsere heutige Politik und Kultur“ leide auch daran, dass „nicht wenige aus der Generation der 68er heute in verantwortungsvollen Positionen“ seien.Footnote 50

Die Front- beziehungsweise Lagerbildung in den Pressekommentaren kennzeichnete auch die wissenschaftliche Debatte. Exemplarisch lässt sich das an einer Veröffentlichung zeigen, die der Frage nachgehen wollte, wie 1968 „bis heute in gedächtnismäßiger Vergoldung oder in veränderter und angepasster Verwirklichung“ weiterlebe. Die Autoren – ein ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter, ein Honorarprofessor und ein Ordinarius der Ludwig-Maximilians-Universität München – listeten mit meist polemischem Unterton viele der Vorwürfe auf, die mittlerweile zum Standardrepertoire des „Achtundsechziger“-bashings zählten: Antiparlamentarismus, totalitäre Strukturen und Praktiken beziehungsweise die Aufkündigung des antitotalitären Konsenses, der leichtfertige Umgang mit dem Gewaltproblem oder die Aushöhlung tradierter Werte. Genüsslich-zustimmend zitiert der Herausgeber gleich zu Beginn das oben erwähnte Verdikt von der „dümmsten Revolution“ aller Zeiten, um anschließend vielen „alten Achtundsechzigern“ eine „Art Schizophrenie“ zu attestieren. Zwar habe man die „Modeideologien von damals“ – Marcuses „Lehren“, den „Bibelglauben an Mao Tse-tung“ – weitgehend abgestreift, geblieben sei jedoch der „eigentliche Kern: das Dagegensein als Prinzip, … dazu der verinnerlichte Hass auf das Establishment“ sogar dann noch, „wenn man selbst schon dazugehört“.Footnote 51 Das besondere Augenmerk der Autoren galt der „Renaissance politisch motivierter Gewalt, die durch die Studentenrevolte“ eingeleitet worden sei. Die „Qualität des ersten ‚neototalitären‘ Angriffs auf die Verfassungsordnung“ sei „zuerst gar nicht erkannt, von den meisten schweigend toleriert und von einigen im Sinne eines gar nicht gegebenen ‚Widerstandsrechtes‘ idealisiert“ worden. Viele, wenn nicht die meisten der damaligen „Theoreme“ seien auf eine „bewaffnete Konfrontation mit der Staatsgewalt angelegt“ gewesen; nicht zufällig habe sich später die „wesentlich von APO-Protagonisten getragene ‚Rote Armee Fraktion‘“ offen zu „revolutionärer Gewalt“ bekannt.Footnote 52 Eine ähnliche Tendenz kam auch in den Beiträgen meist konservativer Autoren – darunter Eckhard Jesse, Gerd Langguth und Wulf Schönbohm – zu einer Ausgabe des „Eichholz Briefs“ zum Ausdruck, die speziell dem Thema „Die 68er: Aufbruch einer Generation, Umbruch in der Gesellschaft“ gewidmet war. Einzig Wilhelm Bürklin wollte das Erbe der 68er-Bewegung nicht auf den Begriff „Last“ reduzieren, sondern auch als „Zukunftspotential“ verstanden wissen – vor allem, weil sie, im „Gegensatz zur jetzt abtretenden Gründergeneration“, die gestiegene Partizipationsbereitschaft der Bevölkerung nicht als „Erschwernis effizienter Aufgabenerledigung“ sehe, sondern vielmehr als „neue Chance zur politischen Integration der kognitiv mobilisierten Bevölkerung“.Footnote 53

Alles in allem war die im strengen Sinne wissenschaftliche Ausbeute anlässlich des 25. „Dienstjubiläums“ nicht besonders üppig und überdies eher von konservativen Positionen dominiert. Zwischen der journalistischen und der wissenschaftlichen Deutung der Ereignisse existierte kein gravierender Unterschied. Dem Rezensenten einer einschlägigen Studie des Soziologen Heinz BudeFootnote 54 fiel auf, dass der Autor zwar die „Lebenslügen der Individuen vernichtet“ habe, die „Mythen der Generation“ aber nicht antaste. Aus all den gescheiterten individuellen „Befreiungsversuchen“ solle „zu guter Letzt nämlich doch jene ‚Fundamentalliberalisierung‘ der deutschen Gesellschaft entsprungen sein, die die herrschende Meinung auf 1968 zurückführt“. Nach dieser „säkularen Heilsökonomie“ hätten „Rektoratsbesetzungen, Straßenschlachten und Kaufhausbrände also segensreiche Frucht“ getragen, wie Patrick Bahners mit ironischem Unterton konstatierte.Footnote 55 Nach 25 Jahren, so hatte es den Anschein, waren die „Achtundsechziger“ und ihre Verteidiger in der Defensive.

5 1997/1998: „Später Griff zur Macht“

Fünf Jahre später, zum 30-jährigen Jubiläum, zog der „Bund Freiheit der Wissenschaft“, der 1970 von Professoren als Reaktion auf die Studentenbewegung gegründet worden warFootnote 56, eine ziemlich vernichtende Bilanz. Das Erbe der „Achtundsechziger“ erblickten die versammelten Hochschullehrer hauptsächlich darin, dass „weniger unmittelbar Politisches, dafür aber umso mehr scheinbar Unpolitisches übriggeblieben“ sei: der „Vorrang des Nein vor dem Ja, die Weigerung, Verantwortung zu übernehmen; das Anspruchsdenken, das von Rechten alles, von Pflichten aber nichts halte; die einseitige Verklärung der Ich-Tugenden, vor allem der Selbstverwirklichung, bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Wir-Tugenden“.Footnote 57 Dieser Vorwurf der „Zerschlagung des Wertekanons“ knüpfte an einen gängigen Topos konservativer 68er-Kritik an, war also keineswegs neu. Letzteres gilt genauso für die Gegenposition, die Klaus Hartung und Max Thomas Mehr vertraten: Der „zähe praktische Kampf um Demokratisierung“ habe „wohl – Ironie der Geschichte – jenen vitalen Impuls mit sich gebracht, der aus der bundesdeutschen Demokratie ein Erfolgsprogramm werden ließ“.Footnote 58 Neu waren in den Rückblicken der Jahre 1997/1998 indes zwei andere Themen: zum einen die Möglichkeit, dass die „68er“ endlich „an die Macht“ gelangen könntenFootnote 59, zum anderen die vermeintliche Unterwanderung der Studentenbewegung durch die „Stasi“.

Vor allem in den journalistischen Rückblicken spielte die möglicherweise bevorstehende Regierungsübernahme durch „Alt-68er“ eine beherrschende Rolle. Jürgen Leinemann räumte allerdings ein, dass der mutmaßliche Kanzler Gerhard Schröder es vorziehe, „sich derzeit lieber als ein ‚sehr gemäßigtes Produkt‘ der 68er-Bewegung zu betrachten“ – während Joschka Fischer die „politische Chiffre 1968“ für die „Demokratisierung von unten“ und die „innere Verwestlichung“ reklamiere.Footnote 60 Auch Uwe Wittstock vermisste all das, was „einst zum Geist der Achtundsechziger“ gehört habe: „Mut zum Aufbruch, Visionen für eine bessere Zukunft, Reformfreude, Veränderungslust.“ Gerade zu einem Zeitpunkt, „da sich die Achtundsechziger möglicherweise zur demokratischen Machtübernahme anschicken, sieht es so aus, als müsste das historische Urteil über sie so ernüchternd ausfallen wie nie zuvor“. Wenn mit Schröder ein „Achtundsechziger“ – der er nach eigenem Bekunden ja gar nicht sein wollte – „bis auf Griffweite an das höchste Amt des Staates herangerückt“ sei, dann nicht zuletzt deshalb, weil er „sein Programm und seinen Habitus spürbar dem angepasst hat, was er die ‚Neue Mitte‘ nennt“.Footnote 61 In diese Kerbe schlug auch Heribert Prantl nach dem Regierungswechsel: Die 68er-Generation sei „jetzt in der politischen und parlamentarischen Normalität angekommen … Sie ist jetzt an der Macht – auch wenn der Marsch durch die Institutionen die Marschierer mehr verändert hat als die Institutionen selbst“.Footnote 62

Die Versuche des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, die APO und vor allem den SDS zu unterwandern, hatten zwar einige Politiker und Journalisten schon im Jahr 1968 thematisiertFootnote 63; dennoch wurden sie zum 30. Jubiläum als spektakuläre Entdeckung präsentiert. In einem großen Artikel in der „FAZ“ und später auch in mehreren Aufsätzen beschrieb Wolfgang Kraushaar auf der Grundlage neuer Dokumente aus der „Gauck-Behörde“ die „gar nicht schöne Infiltration der Studentenbewegung durch die Organe der Staatsicherheit“. Detailliert schilderte er die Überlegungen und Maßnahmen der Stasi und nannte die Namen einiger „informeller Mitarbeiter“ in der Bundesrepublik.Footnote 64 Unterstützung erhielt er insbesondere von Hubertus Knabe, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Studie Mitarbeiter der „Gauck-Behörde“.Footnote 65 Während an der Ausspähung verschiedener Gruppierungen der APO, der Entwicklung detaillierter „Maßnahmepläne“ zur Beeinflussung etwa des SDS und der Pflege intensiver Kontakte zu einzelnen Wissenschaftlern oder Mitgliedern etwa der Republikanischen Clubs kein Zweifel bestehen kannFootnote 66, fehlen für die damit verbundene Behauptung einer systematischen und vor allem effektiven Steuerung der Studentenbewegung durch die SED bislang überzeugende Belege. Die Debatte um die Rolle der Stasi-Aktivitäten flammte nach der Enttarnung des damaligen Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras als SED-Mitglied und Stasi-Informant übrigens noch einmal auf.Footnote 67 Kurras hatte bekanntlich am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen und damit nach verbreiteter Ansicht die studentische Revolte schlagartig und nachhaltig radikalisiert. Während Mechthild Küpper darüber spekulierte, ob „etwas vom Zorn der rebellierenden Jugend sich gegen den real existierenden Sozialismus jenseits der Mauer gerichtet hätte“, wenn die SED- und MfS-Verbindung des Todesschützen schon damals bekannt gewesen wäreFootnote 68, stand für Kurt Kister fest, dass mit der Enttarnung einer der „Gründungsmythen der 68er“ ins Wanken geraten sei.Footnote 69 Belege dafür, dass die Stasi „konkreten Einfluss auf die konkrete Tat des Täters hatte“, konnten indes nicht präsentiert werden. Deshalb konstatierte Herbert Prantl schon zum Zeitpunkt der Enttarnung zu Recht, dass „die Geschichte der Studentenrebellion nicht umgeschrieben werden“ müsse.Footnote 70

Insgesamt zeichneten die journalistischen Rückblicke ein ambivalentes Bild: von Verteufelung und strikter Ablehnung der „68er“ auf der einen bis zur wohlwollend-kritischen Auseinandersetzung mit ihnen auf der anderen Seite. Diese Sichtweisen kennzeichneten auch die wissenschaftliche Debatte. Neben Überblicksdarstellungen, die in gewohnter Manier Verdienste und Irrtümer bilanziertenFootnote 71, erschienen allerdings in wachsender Zahl Studien, die sich darum bemühten, die Ereignisse um das Jahr 1968 zu „historisieren“. Wegweisend waren zwei Sammelbände, die – von der Öffnung staatlicher Archive profitierend – nicht nur den internationalen Kontext stärker berücksichtigten, sondern auch bislang vernachlässigte Aspekte wie das Verhältnis zu anderen sozialen Bewegungen, zur Jugend- und Subkultur oder zur Frauenbewegung thematisierten und den Akzent hauptsächlich auf den systematischen Vergleich legten.Footnote 72 Eine ebenfalls in Richtung „Historisierung“ weisende, allerdings maßgeblich von Zeitzeugen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven auf das damalige Geschehen geprägte Darstellung erwähnte zwar ebenfalls die „Ambivalenz von 1968“Footnote 73, konzentrierte sich aber dennoch vorrangig auf „Schadensrelikte der 68er Bewegtheit“, vor allem auf ihren „intellektuellen Anti-Institutionalismus“ oder die „Aufkündigung des anti-totalitären Konsenses“, der die bundesrepublikanische Demokratie getragen habe.Footnote 74 Eher die umstrittenen, militant-extremistischen Aspekte der Bewegung und ihrer organisatorischen „Zerfallsprodukte“ betonte auch Gerd Koenen in seiner keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebenden, sachlich scharfen, persönlich jedoch „in ein mildes Licht der Selbstaufklärung“ getauchten Geschichte des „roten Jahrzehnts“ und „jenes oft hermetisch abgeschlossene(n) Segment(s) der politisch Hochaktiven und Hochmotivierten“, die er im „deutschen Herbst“ kulminieren ließ.Footnote 75

6 2007/2008: „Es war nicht alles schlecht“

„Es war nicht alles schlecht“, titelten der „SPIEGEL“ und die „WELT“ unisonoFootnote 76, und die „WELT AM SONNTAG“ rekapitulierte den Weg vom Ereignis zum Mythos: „40 Jahre nach der 68er-Rebellion glauben Freund und Feind fest daran, sie habe die Bundesrepublik grundlegend verändert. Doch tatsächlich war sie nur eine spektakuläre Episode in einem Wandlungsprozess, der die deutsche Gesellschaft schon lange vorher ergriffen hatte“. In dem Bemühen um Ausgewogenheit druckten die Blattmacher eine Pro- und eine Contra-Stimme. Und wie in einem Springer-Blatt nicht sonderlich überraschend, wurde die „anti-israelische“ Haltung mancher „68er“ scharf kritisiert.Footnote 77 Die „taz“ widmete dem Jubiläum gleich eine komplette Ausgabe, die unter dem Motto „Lang lebe die Rebellion“ zwischen Feierlaune und Nostalgie schwankte.Footnote 78 „ZEIT“-Redakteur Theo Sommer konstatierte, dass 1968 „die Vernunft auf der Strecke“ geblieben sei,Footnote 79 und der „SPIEGEL“ schließlich bat unter der bereits erwähnten Überschrift um „Gnade für die 68er“ und druckte ein „Streitgespräch“ zwischen 16 ehemaligen „Rebellen“ ab, das sich vor allem darum drehte, warum „die Gesellschaft sich so ganz anders entwickelt hat, als sie sich das vorgestellt“ hatten.Footnote 80

Norbert Frei stellte vor dem Hintergrund der 40-Jahr-„Feiern“ in einem Vortrag die These auf, dass „1968“ in der medialen Aufmerksamkeit Hitler zu überholen beginne. Und tatsächlich rollte damals eine wahre Welle an Tagungen und Vorträgen, Fernsehdokumentationen und Büchern über das interessierte Publikum hinweg. Dennoch erscheint mir diese Diagnose übertrieben. Bisher sank mit großer Regelmäßigkeit das öffentliche Interesse rapide, sobald die Jubiläen vorbei waren. Neue Aspekte tauchten in den fast schon zum Ritual erstarrten journalistischen Rückblicken ohnehin kaum noch auf. Einem Kommentator erschien das Jahr 2008 immerhin als der „ideale Perspektivpunkt“, aus dem „die Geschichte von 68 schon als Geschichte, aber zugleich noch oder gerade erst richtig als Autobiografie erzählt werden“ könne.Footnote 81

Dieser Befund wird durch die wissenschaftliche Literatur gestützt. So legte Wolfgang Kraushaar eine selbstkritische bis selbstgeißelnde, immerhin um Ausgewogenheit bemühte Deutung vor, in der er die Ambivalenzen der 68er-Bewegung unterstrich: „Neben einigen, bislang zumeist verkannten politischen Erfolgen kennzeichnet eine bis ins Extreme gesteigerte Doppeldeutigkeit ihres romantisch gestimmten soziokulturellen Aufbruchs bis heute ihre Bilanz“; zwar habe sie „einerseits die Türen zu einer subjektbestimmten Modernität weit geöffnet“, andererseits „jedoch auch Abgründe wie den Terrorismus sichtbar werden lassen, die seitdem wie ein Schatten auf ihrer Geschichte lasten“.Footnote 82 Götz Aly attackierte in seinem bereits erwähnten Rückblick die „revolutionsselige“ und „selbstgewisse“ Haltung: „Wenige teilen die Einsicht, dass die deutschen Achtundsechziger in hohem Maß von den Pathologien des 20. Jahrhunderts getrieben wurden und ihren Eltern, den Dreiunddreißigern, auf elende Weise ähnelten“Footnote 83. Derart eingestimmt, wurde der Leser mit den gängigen Topoi des „Achtundsechziger“-bashings konfrontiert, wie sie sonst nur von konservativer Seite zu hören waren. Neben solchen Autoren, welche die alten Schlachten aufs Neue schlagen wollten, etablierte sich indes eine vielfältige, „historisierende“ und quellengestützte – und weniger auf die Jahrestage fixierte – Forschung, die neue Erkenntnisse präsentieren konnte. Exemplarisch erwähnt seien der Versuch, die Studentenbewegung in die weitergefasste „Umbruchperiode“ der „langen sechziger Jahre“ zwischen 1958 und 1973 einzuordnenFootnote 84; kultur- und mediengeschichtliche ZugriffeFootnote 85; eine theoriegeschichtlich interessierte Neulektüre und -analyse und der um 1968 „begeistert aufgenommenen oder selbst verfassten Schriften“Footnote 86, und schließlich eine innovative Verknüpfung diskursiver und medialer Zuschreibungen, individueller Erfahrungen sowie Tabuisierungen und Enttabuisierungen am Beispiel der Pille.Footnote 87 Aber auch der explizite, mittlerweile schon gewohnte Kampf um die Deutungshoheit ging in eine neue Runde.Footnote 88 Auffällig ist, dass die „Schattenseiten“ der Bewegung um den 40. Jahrestag herum stärker ausgeleuchtet wurden. Das betraf insbesondere die personellen und ideologischen Verbindungen der 68er-Bewegung zum bundesrepublikanischen TerrorismusFootnote 89 sowie zum anderen die antisemitischen und „braunen Flecken“ der Bewegung.Footnote 90

7 „Was wird erst 2018 los sein?“

So war ein launig-ironischer Beitrag in der „FAZ“ überschrieben, in dem sich Wolfgang Schneider 2008 anlässlich einer Veranstaltung in der Berliner Akademie der Künste über am „Mythos“ arbeitende „alte Kämpfer“ mokierte. Dazu passend vertrat er die These, dass Jimi Hendrix 1968 „vermutlich wichtigere Impulse“ gegeben habe als „der Deutsche Dutschke mit seiner ewigen Aktentasche voller Theorie“.Footnote 91 Dass das 50. Jubiläum eine neue journalistisch-publizistische Welle auslösen werde, galt damals als sicher – doch diese Erwartung erfüllte sich nicht. Vielmehr fällt die Ausbeute, da sich das Jubiläumsjahr dem Ende zuneigt, recht mager aus, und wirklich neue Erkenntnisse und Deutungsversuche sind auch eher selten. Abschließend möchte ich einige Neuerscheinungen vorstellen, die jeweils für einen bestimmten Zugriff auf das Thema „1968“ beziehungsweise ein bestimmtes „Genre“ der Literatur über „1968“ stehen.

Zum Genre der „Veteranenliteratur“ sind Willi Jaspers „Erinnerungen an 1968 und die deutsche ‚Kulturrevolution‘“, so der Untertitel, zu rechnen.Footnote 92 Jasper, Jahrgang 1945, studierte ab 1968 an der FU und gehörte zum Gründerkreis der maoistischen KPD/AO, später KPD. Allerdings stilisiert er sich weder zum Vorkämpfer für Liberalisierung und Demokratisierung, noch bezichtigt er sich in selbstanklägerischer Manier totalitärer Ambitionen. Wie manche andere „Achtundsechziger“ scheute er sich lange, über die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen zu berichten, „da uns die Geschichte zu peinlich war und ‚subjektive‘ Zeitzeugen als ‚geborene Feinde‘ der ‚objektiven Historiker‘ galten“ (S. 8). Inzwischen werde der „Anspruch auf Deutungshoheit weitgehend durch das Qualifikationsmerkmal bestimmt, ‚nicht dabei gewesen‘ zu sein“ (S. 10). Doch damit will sich Jasper nicht abfinden, vielmehr ist er um einen ehrlichen Rückblick bemüht. Das politische Engagement und die Haltung, die er „mit vielen Tausenden 1967 und danach teilte“, seien nicht nur „naiv“ gewesen, sondern hätten „etwas mit Empörung und politischer Moral“ zu tun gehabt (S. 39). Den Wendepunkt der Protestbewegung erblickt er in der berühmt-berüchtigten „Schlacht am Tegeler Weg“ am 4. November 1968, als Demonstrant_innen – unter ihnen auch Jasper – in das Gebäude des Landgerichts einzudringen versuchten. Zwar gelang dies nicht, doch die Bilanz – „120 verletzte Polizisten“, aber nur „22 verletzte Demonstranten“, wie der ebenfalls beteiligte Klaus Hartung rückblickend festhielt –, habe sich wie ein Sieg angefühlt. Doch dieser „Sieg“ habe zugleich „das Ende von ’68“ markiert: „An jenem Tag trat die Bewegung in eine neue Phase ein: Was als befreiender Aufbruch weg von den starren Denk- und Lebensmustern begonnen hatte, schwenkte nun in die Sackgasse von Militarisierung und Dogmatisierung ein“ (S. 95).

Das Buch erlaubt viele interessante Einblicke in das (Innen‑)Leben einer K‑Gruppe, wie überhaupt der zeitliche Schwerpunkt auf den 1970er Jahren liegt. So erfährt man beispielsweise, wie Jasper als Mitglied einer fünfköpfige Delegation der KPD im September 1977 nach China reisen und in dem eben eingeweihten Mausoleum den in einem gläsernen Sarg aufgebahrten, konservierten Leichnam Mao Zedongs, des großen Idols bewundern durfte – daher der Titel des Buchs (S. 178–183). Es bietet auch zahlreiche Anekdoten, ohne „ins Anekdotische“ abzugleiten – etwa über die maoistischen „Umtriebe“ des Malers Jörg Immendorf (S. 128–131) oder die am Ende erfolgreiche Kampagne gegen den berüchtigten Kölner Richter Victor Henry de Somoskeoy, den „Schrecken vom Apellhofplatz“ (S. 122–126). Das Buch enthält aber auch nachdenklich stimmende, berührende Passagen, zum Beispiel über bereits verstorbene Aktivisten von einst. Alles in allem: „Veteranenliteratur“ der besseren, überzeugenden Art.

Eine Mischung aus Veteranen‑, Deutungs- und Überblicksliteratur stellt Wolfgang Kraushaars neues Werk über die 68er-Bewegung dar.Footnote 93 Kraushaar ist zweifellos der fleißigste Chronist und Historiker der Bewegung. Allein 2018 erschienen von ihm zwei weitere einschlägige Publikationen.Footnote 94 Zugleich ist er auch Zeitzeuge und damit ein einem Spannungsverhältnis zur Rolle als Historiker. 1948 geboren, nahm er im Mai 1968 erstmals an einer Demonstration – gegen die Notstandsgesetze – teil. Aufgrund seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema und der großen Zahl an Publikation fällt bei ihm das Merkmal der Wiederverwertung besonders auf: die Hälfte der Aufsätze des neuen Bandes wurde bereits andernorts abgedruckt. Wie schon in früheren Arbeiten konzentriert sich Kraushaar auf problematische Seiten der 68er-Bewegung, vor allem auf die Gewaltproblematik, die Parlamentarismuskritik, das Verhältnis zur Nation, den in den Reihen der Aktivisten virulenten Antisemitismus und die prekäre Propagierung frühkindlicher Sexualität. Und er setzt die Demontage Rudi Dutschkes, der Ikone der Bewegung, fort, indem er die „blinden Flecken“ in dessen Selbstdarstellung und Rezeption – insbesondere die grundsätzliche Bejahung „revolutionärer Gewalt“ und das Bekenntnis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten – zum wiederholten Mal betont. Das richtet sich gegen das Bild vom Pazifisten und Internationalisten Dutschke, das etwa dessen Frau Gretchen pflegt. Kraushaars Hauptanliegen ist es allerdings, „in bislang verborgene Tiefendimensionen der damaligen Bewegung vorzustoßen, und dadurch möglicherweise Teile ihres bislang vorherrschenden Verständnisses erschüttern“ und zu einer „zwingenderen Neuinterpretation“ beitragen zu können (S. 25) Sein Akzent liegt auf der politischen Dimension. Doch nicht alle Interpretationen sind wirklich neu: So findet sich beispielsweise die These von der „romantischen Revolte“ und der „Romantisierung des Politischen“ (vgl. S. 27–48) auch schon bei zeitgenössischen Kritikern wie Richard Löwenthal, und auch Dutschkes Verhältnis zum „bewaffneten Kampf“ (S. 13, 262–289) ist nicht zuletzt dank der Arbeiten Kraushaars weitgehend geklärt. Dennoch, die Aufsätze lesen sich als kluge und faktenreiche Analysen zur Achtundsechzigerbewegung. Und sie verdeutlichen, wie Kraushaar in einem Zeitungsbeitrag betonte, dass es selbst ein halbes Jahrhundert später unmöglich ist, die „Rebellion auf einen Nenner zu bringen. Jeder Versuch, für sie eine monokausale Deutung oder gar Erklärung anzubieten, dürfte ihrer Vielschichtigkeit wegen zum Scheitern verurteilt sein“.Footnote 95

Eindeutig zum Genre der Überblicksdarstellungen zählen die Arbeiten von Richard Vinen und Detlef Siegfried. VinenFootnote 96, Professor für Geschichte am King’s College London und laut Klappentext zu jung, um „1968“ selbst aktiv erlebt zu haben, versucht, gestützt überwiegend auf veröffentlichte Quellen und die einschlägige Literatur sowie einige interessante Funde aus den National Archives in London, „die Welt zu rekonstruieren, die in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren entstand und größtenteils auch wieder verging“ (S. 9). Obwohl, wie er glaubt, die „bedeutsamsten Ereignisse der Zeit … vielfach außerhalb Westeuropas und Nordamerikas“ stattfanden (S. 11), konzentriert er sich auf die USA, Frankreich, Deutschland und Großbritannien, denen er jeweils ein eigenes Kapitel widmet. Daneben enthält das Buch länderübergreifende Kapitel etwa zum Generationsverständnis der „Achtundsechziger“, zu den Universitäten, zur „sexuellen Revolution“ einschließlich Frauenemanzipation und Familie, zur Rolle der Arbeiter und der Gewerkschaften und zur Gewaltfrage. Großen Wert legt er darauf, das „Phänomen 1968 in den breiteren politischen Zusammenhang der damaligen Zeit einzuordnen“ – also zu „historisieren“, auch wenn er diesen Begriff nicht benutzt – und auch diejenigen zu berücksichtigen, welche „die Proteste bekämpften oder mit ihnen, auf welche Art auch immer, fertigzuwerden versuchten“ (S. 13). Neue Quellenfunde hat Vinen aufgrund der Anlage der Arbeit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht zu bieten. Dennoch enthält sein Text viele kluge auf veröffentlichte Quellen wie Zeitungsartikel und Autobiografien oder aus in der Bundesrepublik weniger bekannte, insbesondere französischsprachige Veröffentlichungen rekurrierende Beobachtungen. Das gilt insbesondere für die beiden Kapitel über „Niederlage oder Anpassung?“ und „Vermächtnisse“, in denen Vinen unter anderem das Verhältnis der „68er“ zum Kapitalismus problematisiert und davor warnt, „die 68er-Zeit genau deswegen zu unterschätzen, weil sie am Ehrgeiz ihrer spektakulärsten Protagonisten gemessen“ werde – nämlich „jener, die angetreten waren, die Gesellschaft neu aufzubauen“ (S. 369).

SiegfriedFootnote 97, Jahrgang 1958, also im engeren Sinne ebenfalls kein „68er“, annonciert sein wunderbar bebildertes Buch als „Kondensat“ seiner bisherigen Forschungen zum Thema, aber mehr noch als „Teil einer unabgeschlossenen Arbeit, die frühere Erkenntnisse aufgreift, weiterführt, teilweise modifiziert und ergänzt um Tiefenlotungen in Feldern“, die er „noch nicht intensiver bearbeitet hatte“ (S. 12). Die „68er“ deutet er im Einklang mit der mittlerweile vorherrschenden Auffassung weniger als Auslöser bestimmter soziokultureller Tendenzen wie der Betonung von „Mitsprache und Kritik statt autoritärer Anordnungen“, „Transparenz“, „Umsturz von Hierarchien“ oder Demokratisierung, vielmehr „bauten sie auf ihnen auf, politisierten und radikalisierten sie“ (S. 8). Im Unterschied zu Autoren wie Kraushaar gewichtet er die kulturellen Seiten von „1968“ deutlich stärker als die politischen. Außerdem ordnet er die Bewegung in einen weiteren zeitlichen Kontext ein, den er auf die Jahre 1958 bis 1973 datiert. Und schließlich bettet er die Geschichte der Jugendrevolte der BRD in ihren internationalen Bezugsrahmen ein.

Zunächst schildert Siegfried die in der Jugend spätestens seit Mitte der 1960er Jahre weitverbreitete Sehnsucht nach einem „Alltag jenseits der Konventionen und des Konsums“, einer „Lust auf Horizonterweiterung durch Reisen“ und einem gewissen „Spaß an der Provokation“. „1968“ sei nicht nur durch politische Forderungen geprägt gewesen, sondern „viel grundsätzlicher noch durch das Ideal eines anderen Lebens“ (S. 28). Ausführlich beleuchtet er die Gammler‑, Provo- und Drogenszene und die ersten Kommunen, die sich anfangs durchaus als politisches Projekt verstanden, und die Reiselust vieler Jugendlicher, die sich deutlich vom Massentourismus abgrenzten. Im Anschluss untersucht er die Hoffnungen und Frustrationen, die mit der „sexuellen Revolution“ verbunden waren, die kommerzialisierte „Aufklärungs- und Sexwelle“ und die Anfänge der Sexualerziehung an Schulen. Viel Raum nehmen auch „Popkultur und Counterculture“, die Folklore-Festivals auf der Burg Waldeck und die Essener Songtage, der vorübergehende Boom der „Underground-Musik“ und die Avantgarde-Kunst einer Limpe Fuchs und Valie Export ein. Vergleicht man die Teilnehmerzahlen von Popfestivals – 500.000 im Jahr 1970 – und politischen Protestaktionen – 60.000 im selben Jahr – dann kann man sich über das unterschiedliche Mobilisierungspotential keine Illusionen machen (S. 234). Von traditionellerem Zuschnitt sind die Kapitel über die politischen Bewegungen vom SDS über die APO bis zur Schüler_innen- und Lehrlingsbewegung sowie über den Internationalismus der Studentenbewegung. Im eher resümierenden Kapitel über das „rote Jahrzehnt“ (Gerd Koenen) kritisiert Siegfried diese Metapher als „einseitig“, weil sie „den Effekt der Jugendrevolte auf ihre radikalsten Ausläufer“ reduziere: „Die 1970er Jahre hatten eine ganz eigene Signatur, die nicht einfarbig auszumalen ist, sondern eher in wechselnden Nuancen schillert“ (S. 231). Fast schon pathetisch fällt dann das Fazit aus: Ungeachtet einer gewissen „Naivität“ und „Selbstbezogenheit“ – entscheidend sei mit Blick auf die Langzeitwirkung von „1968“ gewesen, dass „weltweit Menschen gegen Nationalismus, Neokolonialismus, Rassismus und Krieg“ und „für eine Aktualisierung der kritischen Vernunft und der Solidarität auf die Barrikaden gingen“ (S. 248).

Armin Nassehis Studie mit dem paradox anmutenden Titel „Gab es 1968?“ zählt zur Deutungsliteratur.Footnote 98 Nassehi ist Soziologe und Jahrgang 1960, also ebenfalls kein „Achtundsechziger“. Die Chiffre „1968“ steht für ihn, ganz im Einklang mit dem Mainstream der Forschung, vor allem für eine „Liberalisierung der Kultur“, eine „Pluralisierung sozialmoralischer Orientierungen“, eine „stärkere Beteiligung zuvor marginalisierter Gruppen und sozialen Aufstieg“, „Demokratisierungserfahrungen“ und „Individualisierung“. Sein Ziel ist es, die „gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen nachzuzeichnen, die ‚1968‘ hervorgebracht und ermöglicht haben, und den Folgen auf den Grund zu gehen, die diese Veränderungen nach sich gezogen haben“ (S. 8). Nach einer Klärung der Begrifflichkeiten wendet er sich der interessanten Unterscheidung zwischen dem „explizit Linken“, also der „sichtbaren Seite der 68er“, den revoltenhaften oder revolutionären Aspekten der Bewegung, und dem „implizit Linke(n), das die gesellschaftliche Realität radikal umgekrempelt hat“ (S. 9). In den folgenden Kapiteln widmet er sich wichtigen „Erbschaften“ von „1968“, nämlich der „Dauerreflexion“, der „Dauermoralisierung“, der „Dauerberieselung“, insbesondere in Form der Popmusik, und der „Dauerpose“. Letztere, das „Posing“, begreift er als „einfachere Form der Identititätsbewirtschaftung“, die „am Ende die Erbschaft von ‚1968‘ mit dem stärksten kulturellen impact“ sei (S. 195). Alles in allem liefert Nassehis Studie zahlreiche Denkanstöße und originelle Perspektiven auf „1968“ – allerdings verliert er sein eigentliches Thema, nämlich die Erkundung der gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen für „1968“, gegen Ende etwas aus dem Blick.

Zum Schluss zwei Veröffentlichungen, die neue Quellen präsentieren: Bernd FeuchtnerFootnote 99 hat den Deutschunterricht, den er im Jahr 1968 an einem bayerischen Gymnasium als Schüler erlebte, „lückenlos protokolliert“ (S. 57). Ursprünglich war eine Veröffentlichung der Protokolle im Rowohlt-Verlag geplant gewesen, doch scheiterte die Publikation Anfang der 1970er Jahre unter anderem an der „fehlenden wissenschaftlichen Aufarbeitung“ (S. 58). In der Tat lohnt sich die Lektüre „ein halbes Jahrhundert später … wieder“ (S. 59), denn zum einen zeigen die Protokolle, dass die „68er“ keineswegs, wie manche ihrer Kritiker gerne behaupten‚ „offene Türen einrannten“, das heißt, dass Lehrstoff und Interpretationen dringend einer Reform bedurften; zum anderen zeigen sie, dass zumindest an dieser Schule der „revolutionäre Geist“ weit davon entfernt war, Wurzeln zu schlagen.

Christina von Hodenberg kann nicht nur neue Quellen präsentieren, sondern auch neue Befunde.Footnote 100 Die Autorin, Professorin für Europäische Geschichte an der Queen Mary University in London und zum Zeitpunkt der Revolte ein „Kleinkind“ (S. 17), hat Hunderte Tonbänder mit über 200 Gesprächsaufzeichnungen mit über 60-jährigen Männern und Frauen ausgewertet, die im Rahmen der „Bonner Längsschnittstudie des Alters“ zwischen 1964 und 1985 entstanden, dazu weitere Interviews mit 180 Männern und Frauen im „mittleren Erwachsenenalter“ aus den Jahren 1967 und 1968 und 16 Interviews mit ehemaligen Bonner Studenten, die sich 1967 und 1968 politisch engagiert hatten. Auf diese Weise, so die Autorin, erschließt das Buch „eine Begegnung der Generationen in den Jahren um 1968 auf drei Ebenen“: Junge Psychologen treffen mit Versuchsteilnehmern der mittleren und alten Generation zusammen. Mithilfe dieses Quellenkorpus’ möchte sie das „von den Zeitzeugen gewobene Netz der Mythen“ verlassen und „qualitativ andere Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Wurzeln und Wirkungen von Achtundsechzig gewinnen“ (S. 18). Viele der sattsam bekannten Ereignisse, etwa der Schahbesuch in Bonn und Berlin, und viele der ausgiebig erörterten Themen, etwa die Frage nach dem Verhältnis von Kriegskindern und Nazieltern oder nach der Rolle der Frauen, erscheinen in einem neuen Licht. So kann sie beispielsweise zeigen, dass der in der Literatur häufig beschworene Vater-Sohn-Konflikt um die „braune Vergangenheit“ wohl doch nicht so häufig vorkam; viele der befragten Bonner Studenten bemühten sich sogar um die „nachträgliche Rechtfertigung der Eltern“ (S. 56). Auch die Vermutung, dass der weitverbreitete Slogan „Trau keinem über 30“ mit der Realität nicht viel zu tun hatte, wird durch die Interviews gestützt. Das Verhältnis der Generationen war offensichtlich „weit entspannter“ (S. 100) als dieser Spruch andeutete.

Besonderes Augenmerk legt die Autorin darauf, die Rolle der Frauen neu zu bewerten: „Achtundsechzig war weiblich“, stellt sie kategorisch fest (S. 104). Die vorherrschende Geringschätzung des Beitrags einzelner Protagonistinnen der Frauenbewegung erklärt sie nicht zuletzt mit dem „Tunnelblick der Massenmedien auf Leitfiguren wie Dutschke oder Cohn-Bendit“, der zur Folge gehabt habe, „dass der feministische Aufbruch der späten sechziger Jahre von den Zeitgenossen wie von den Historikern unterschätzt blieb“ (S. 146). Deshalb verwundert es nicht, dass von Hodenberg abschließend kritisiert, dass „weibliche Problemlagen und weibliche Akteure des Protests“ von den Zeitgenossen als „unerheblich ausgeblendet“ wurden (S. 188). Der „gegen patriarchalische Normen gerichtete Aktivismus der Frauen“ sei jedenfalls „entscheidend“ gewesen für die „historische Wirkung von Achtundsechzig“. Das bedeute, „dass wir die Revolte vor allem als einen Geschlechterkonflikt und nicht als einen Generationenkonflikt verstehen sollten“ (S. 190). Auch wenn man diese These nicht teilt – Christina von Hodenbergs innovative Studie bietet reichlich Stoff zur Überprüfung gängiger Erzählungen über „1968“.

Die Rekonstruktion der journalistischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit den „runden Jubiläen“ dürfte gezeigt haben, dass die Ambivalenzen der Bewegung das hervorstechende Merkmal der Aufarbeitung sind. Diese Erkenntnis hat sich im Laufe der Jahrzehnte sogar noch verstärkt. Auch haben sich die Unterschiede in der Bewertung zwischen der journalistisch-publizistischen und der wissenschaftlichen Arena – ebenso wie zwischen dem „linken“ und „rechten“, dem liberalen und dem konservativen Lager – allmählich verringert und abgeschliffen. Ob die Bewegung eher „Motor“ einer „Fundamentalliberalisierung“ oder eines „Werteverfalls“ in der Bundesrepublik war: die entsprechenden Antworten lassen sich nicht einfach bestimmten politischen Lagern zurechnen – übrigens auch nicht bestimmten Alterskohorten. Erst mit einem neuerlichen Generationswechsel werde der Streit um die Deutung der Ereignisse abflauen, prognostizierte Ingrid Gilcher-Holtey schon vor 15 Jahren, denn: „auch die Achtundsechziger bleiben nicht ‚forever young‘“Footnote 101. Bis dahin sind neue Erkenntnisse vermutlich eher von Forscher_innen zu erwarten, die sich neuen Feldern wie der ArbeitsweltFootnote 102 oder dem Mittelmeerraum und dem Nahen und Mittleren OstenFootnote 103 zuwenden, also das politische und das eurozentrische Narrativ hinter sich lassen.