Einleitung

Neben den technischen Grundlagen ist ein weiteres zentrales und gemeinsames Merkmal der digitalen Arbeitswelt, von Arbeiten 4.0 und Industrie 4.0, dass die Vielfalt der Arbeitsformen zunimmt. Dies gilt für Orts- und Zeitflexibilität genauso wie für unterschiedliche Beschäftigungsformen und Qualifikationsanforderungen. Auch die technisch-organisatorischen Arbeitssysteme weisen eine deutlich höhere Variabilität auf als herkömmliche Arbeitsstrukturen. Diese bietet einerseits Chancen für die Beschäftigten: Die Arbeit kann – im Sinne der differentiellen und dynamischen Arbeitsgestaltung – an die Beschäftigten angepasst und im Verlauf der Erwerbsbiographie verändert werden. Aber es gibt auch neue Risiken: beispielsweise eine höhere Arbeitsintensität oder auch fehlende Eingriffsmöglichkeiten in komplexen Arbeitssystemen. Für alle Beschäftigten wesentlich ist die Aneignung neuer Qualifikationen. Dies erfordert nicht nur Bemühungen in der beruflichen Erstausbildung und Weiterbildung sondern auch in der Gestaltung lernförderlicher Arbeit.

Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort

Für immer mehr Beschäftigte trägt die Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort zur Auflösung der räumlichen und zeitlichen Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben bei (Junghanns und Morschhäuser 2013). Dies muss nicht zwangsläufig negative Folgen haben, da die Nutzung moderner Technologien Chancen hinsichtlich der Work-Life Balance eröffnet, die viele nicht mehr missen wollen. Zu Recht wird gleichzeitig kritisch über die ständige Erreichbarkeit sowie Entgrenzung der Arbeit diskutiert. Die Frage des Abschalten-Könnens und der Erholungsfähigkeit wird zunehmend zum zentralen Thema unserer Zeit. Da digitale Produktions-, Distributions- und Dienstleistungsprozesse immer „online“ sein sollen, stellt sich die Frage, welchen Arbeitsrhythmus solche Systeme vorgeben und wie dieser mit den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen zusammenpassen kann. Aber auch die Unterschiede zwischen vereinbarten und tatsächlichen Arbeitszeiten, flexible Arbeitszeitformen, wie Arbeit mit Arbeitszeitkonten oder Vertrauensarbeitszeit, räumliche Mobilität und Mehrfachbeschäftigung sowie Solo-Selbstständigkeit sind Kennzeichen des Wandels der Arbeit, die eng mit der Digitalisierung verbunden sind (Pangert und Schüpbach 2013; SUGA 2012).

Durch die Möglichkeit überall „online“ gehen zu können, wird auch die räumliche Mobilität durch die Digitalisierung weiter erleichtert werden: Sie umfasst unterschiedliche Mobilitätsformen und Intensitäten (z. B. Pendeln, Dienstreisen und Entsendungen). Die BAuA betrachtet insbesondere die Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten (Ducki und Gerstenberg 2016). Anlässe für zunehmende arbeitsbedingte Mobilität sind betriebliche Netzwerkstrukturen, Dezentralisierung und Standardisierungsprozesse, oft verbunden mit Prozessen der Globalisierung, sowie eine wahrgenommene Notwendigkeit, nahe am Kunden zu agieren. Insbesondere Reorganisationen und der Aufbau von regionalen Tochterunternehmen sorgen dafür, dass Führungskräfte zunehmend standortübergreifende Führungsverantwortung erhalten. Zunehmend ergeben sich auch Reiseaktivitäten für Beschäftigte, die früher keine oder nur sehr geringer Mobilitätserfordernisse hatten.

Nicht nur für die Beschäftigten, sondern auch für betriebliche Führung und Beteiligungskonzepte stellt die erweiterte Flexibilität in der digitalen Arbeitswelt eine neue Herausforderung dar, die eine Anpassung von Verantwortungs- und Vermittlungsstrukturen erfordern kann. Hierzu ist es notwendig, Bedingungen zu identifizieren, unter denen eine flexible Arbeitsgestaltung zu Erhalt und Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit beitragen kann. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels sollten entsprechend auch Bedarfe von Beschäftigten unterschiedlichen Alters berücksichtigt und ggf. in eine lebensphasenorientierte Arbeitszeitgestaltung integriert werden. Die BAuA wird mit einer ausführlichen Arbeitszeitberichterstattung eine Wissensbasis zur Verfügung stellen und will damit zur Entwicklung konkreter Lösungen für Arbeit und Gesundheit unter Berücksichtigung betrieblicher Regulations- und individueller Selbstregulationsmöglichkeiten beitragen.

Arbeiten mit innovativen digitalen Technologien

Die technischen Entwicklungen sind Grundlage und Motor der Digitalisierung. Sie führen zu neuen Arbeitsprozessen und Formen der Mensch-Technik-Interaktion. Die BAuA untersucht neue Technologien bezüglich Chancen und Risiken für die sichere, gesunde und menschengerechte Gestaltung von Arbeit.

In Deutschland ist die industrielle Produktion nach wie vor das Fundament für wirtschaftliches Wachstum. Die tiefgreifenden Veränderungen des industriellen Sektors, die aktuell stattfinden bzw. vor uns liegen, basieren auf einer in ihrer Art und ihrem Umfang neuartigen, vernetzten industriellen Produktionssystematik. Robotertechnologien werden in der Produktion der Zukunft eine besondere Rolle spielen. Sie werden neue Formen der Interaktion zwischen Mensch und Maschine ermöglichen: die so genannte Kollaboration. Dies bedeutet, dass sich durch die zunehmende Flexibilität und „intelligente“ Funktionen der Roboter neue und veränderliche Formen der Arbeitsteilung realisieren lassen. Die Vernetzung und Selbststeuerungsfähigkeit von Maschinen und Anlagen werfen neue sicherheitstechnische Fragen auf: Klassische Schutzeinrichtungen entfallen und mehr Freiheitsgrade der Interaktion entstehen. Die Einbindung in Netze kann mit neuen sicherheitstechnischen Risiken verknüpft sein. Die industrielle Produktion wird damit wissensintensiver und sie wird sich mit Dienstleistungsangeboten – sogenannten Smart Services – verbinden. Produkte werden in diesem Sinne hybrid. Für produzierende Unternehmen lassen sich so neue Geschäftsmodelle und -prozesse denken und die Aufgabenverteilung in Wertschöpfungsketten kann neu gestaltet werden.

Neue Technologien der Mensch-Maschine-Schnittstellengestaltung haben das Potenzial, Bedien-, Bearbeitungs- und Überwachungstätigkeiten von Menschen zu erleichtern. Ein Beispiel dafür sind Datenbrillen (Head Mounted Displays, HMDs), die bei bestimmten Bedingungen geeignet sind, Nutzer mit situationsspezifischer Information bei der Bewältigung von Aufgaben zu unterstützen (Theis et al. 2016; Wille 2016). Eine „smarte“ Automatisierung, bei der sich Maschinen und Produktionsanlagen bspw. selbsttätig rekonfigurieren, ist aber auch hochkomplex und dynamisch und stellt damit oftmals höhere Anforderungen an die menschliche Informationsverarbeitung. Komplexe Arbeitssysteme müssen deshalb eine hinreichende Transparenz, Durchschaubarkeit und Erwartungskonformität aufweisen, damit die Beschäftigten die eigene Arbeitsaufgabe und deren Beitrag zur Systemfunktionalität verstehen und bei Systemschwankungen steuernd eingreifen können. Dieses erfordert eine an den späteren Arbeitsaufgaben ausgerichtete Gestaltung von Systemen und der Informationstechnik sowie ausreichende und langfristig angelegte Qualifizierungsprozesse.

Die vernetzten technischen Systeme, sei es das Laptop des Wissensarbeiters oder die smarte Maschine des Industriearbeiters, werden zudem immer mehr Informationen über ihre Nutzer und Benutzung speichern – dies ist oft zwingend mit dem flexiblen und individuellen Gebrauch der Arbeitsmittel verbunden. Sie eröffnen damit erweiterte Möglichkeiten der Leistungskontrolle und -steuerung, deren Auswirkungen auf die Beschäftigten bislang unklar sind. Sie sind aber auch ein mögliches operatives Arbeitssicherheitsrisiko und eine Herausforderung für das Datenschutzrecht und die betriebliche Handhabung von Daten (Roßnagel et al. 2012; Thüsing 2014; Thüsing et al. 2014).

Die Erkenntnisse aus den bisherigen Forschungsprojekten der BAuA im Bereich „Ambient Intelligence“ geben bereits wichtige Hinweise auf Aspekte der menschengerechten Arbeitsgestaltung in der digitalen Arbeitswelt: Aus einer übergeordneten strategischen Perspektive bietet es sich in der aktuellen, noch frühen Phase der Digitalisierung an, das Potenzial für eine vorausschauende, gute Arbeitsgestaltung möglichst umfassend zu nutzen. Hier geht es also um Forschung zu Methoden der Gestaltung und Bewertung innovativer Arbeitssysteme, die die erste von zwei Säulen der BAuA in der strategischen Ausrichtung der Forschung zur Arbeit in der digitalen Welt und Industrie 4.0 bildet.

Diese Säule stützt sich auf die digitale Ergonomie, die virtuelle Risikoermittlung und die Modellierung von Safety und Security. Im Rahmen der digitalen Ergonomie ist eine Delphi-Studie („Digitalen Ergonomie 2025“) bereits abgeschlossen (Wischniewski 2013a). Laufende Projekte untersuchen Möglichkeiten, ergonomische Daten digital zu erfassen und zu bewerten, um diese letztlich zur flexiblen ergonomischen Gestaltung von Arbeitssystemen zu nutzen (Wischniewski 2013b). Bei der virtuellen Risikoermittlung wird geprüft, inwieweit CAD-Systeme mithilfe virtueller Modelle zur Risikobeurteilung und vor allem -minderung genutzt und wie diese gerade für kleine und mittelständische Unternehmen gestaltet werden können. Bei der Modellierung von Safety und Security meinen die Begriffe „Safety“ den Schutz des Menschen vor der Maschine und „Security“ den Schutz von IT-Systemen vor äußeren Eingriffen. Hier gilt die Einschätzung „Ohne Security keine Safety“, da bspw. sicherheitsrelevante Sensorsysteme manipuliert werden könnten. In Projekten sollen so Wirkzusammenhänge ermittelt sowie Risiken identifiziert werden, um dann Optionen der Risikominderung zu analysieren und Systeme vorausschauend sicher zu gestalten. Aus den Ergebnissen der Projekte dieser ersten Säule werden Methoden zur Beurteilung und Minderung von Risiken in der Industrie 4.0 entwickelt.

Die zweite Säule der Forschung in der BAuA fokussiert konkrete Facetten von Digitalisierung und Industrie 4.0. Projekte werden in den Bereichen der direkten Mensch-Roboter-Kollaboration und der vernetzten Systeme durchgeführt. Ein Projektbündel zur Mensch-Roboter-Kollaboration, welches grundlegende Aspekte der Robotik (ethisch, rechtlich und technisch), kognitive Grundlagen zur Teamarbeit, persuasive Robotik und industrielle Mensch-Roboter-Teams fokussiert, ist aktuell in der Anfangsphase. Im Gebiet der vernetzten Systeme steht vor allem die Gestaltung der Steuerung und Überwachung der Produktion im Vordergrund. Bezüglich der Gestaltung von solchen komplexen Prozessen werden mentale Anforderungen und benötigte technische Ressourcen analysiert (Jeschke und Adolph 2014; Jeschke et al. 2015). Zudem wird eruiert, wie mobile IT (sog. Smart Devices) den Menschen dabei kontextabhängig unterstützen kann. Zusammenfassend werden in dieser zweiten Säule also mentale Anforderungen und das Potenzial ergonomischer Gestaltung analysiert, um Prinzipien der ergonomischen Gestaltung für die Arbeit in der digitalen Welt herauszukristallisieren und womöglich weiter zu entwickeln.

Erhalt und Förderung der physischen und psychischen Gesundheit und Leistungsfähigkeit

Arbeiten in der digitalen Welt kann zur Reduzierung physischer Belastung beitragen, vor allem durch individuelle ergonomische Arbeitsgestaltung und die Optimierung der Belastung, insbesondere für älter werdende Beschäftigte. Dabei besteht jedoch auch die Gefahr, dass dem Menschen sogenannte Restarbeiten in Automatisierungslücken übertragen werden, die in aller Regel durch einseitige körperliche Belastung, monotone und dequalifizierende Aufgaben sowie zunehmende körperliche Inaktivität gekennzeichnet sein können. Hier entwickelt die BAuA in Kooperation mit Partnern aus den Bereichen Arbeitsmedizin, Ergonomie, Biomechanik, Arbeitsphysiologie und Arbeitswissenschaft Screening Methoden für die Bewertung repetitiver Arbeitsprozesse (Wischniewski et al. 2015). Weiterhin erfolgt die objektive Bestimmung von Inaktivitätsmustern im betrieblichen Setting mit dem Ziel, die Maßnahmen zur Steigerung der körperlichen Aktivität zu evaluieren und zu verbessern.

Neue Kommunikations- und Informationstechnologien sowie angestrebte Prozessoptimierungen können aber auch mit einer stärkeren Verdichtung der Arbeit einhergehen. So müssen z. B. Arbeitnehmer immer größer werdende Informationsmengen bewältigen, zunehmend mehrere Aufträge gleichzeitig bearbeiten und immer häufiger unvorhergesehene Aufgaben übernehmen. Die Ergebnisse der repräsentativen BIBB-BAuA Beschäftigtenbefragungen verdeutlichen (BIBB und BAuA 2013), dass Zeit- und Leistungsdruck sowie Arbeitsunterbrechungen mittlerweile zu den häufigsten Belastungsfaktoren gehören (Lohmann-Haislah 2012). Die Frage des Einflusses und der Bedeutung solcher Arbeitsbedingungsfaktoren auf die psychische und psychosomatische Gesundheit ist aber nicht hinreichend geklärt (Fransson et al. 2015; Baethge und Rigotti 2013). Ziel der BAuA ist daher zu untersuchen, wie Beschäftigte mit zunehmenden Informationsmengen umgehen und welche Gestaltungsmöglichkeiten in diesem Bereich bestehen.

Ergänzend hierzu können unterstützende Ressourcen hilfreich sein, damit neue technologiebedingte Anforderungen nicht zusätzlich zu einer Vergrößerung der psychischen Belastung beitragen. Hierzu zählen insbesondere die Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Beschäftigten, die einer möglichen Dequalifizierung entgegenwirken können und sich über eine flexible Aufgabengestaltung prinzipiell erweitern lassen. Wichtige Ressourcen bei der Anforderungsbewältigung sind aber auch angemessene soziale Beziehungen in der Arbeit: Direkte Interaktion und Verständigungsprozesse zwischen den beteiligten Personen können durch systemtechnische Informationsverarbeitung nicht ersetzt werden. Es müssen vielmehr die Anwendungsbereiche digitaler Automatisierung so gestaltet werden, dass ausreichende Möglichkeiten zur Kommunikation und Kooperation vorhanden sind. Dabei ist mit zu berücksichtigen, dass der Aufbau und die Pflege sozialer Beziehungen durch die wachsende berufliche Mobilität, aber auch durch den wechselnden Einsatz der Beschäftigten z. B. in verschiedenen Projektteams, erschwert sein können.

Neue digitale Technologien führen auch zu veränderten Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten der Beschäftigten bei der Aufnahme, Verarbeitung und Umsetzung von Informationen. Die BAuA untersucht in verschiedenen Projekten zur mentalen Gesundheit und kognitiven Leistungsfähigkeit, welche arbeits- und personenbezogenen Faktoren die Veränderung kognitiver Fähigkeiten im Erwerbsleben positiv beeinflussen.

Implikationen für Arbeitsschutzmaßnahmen und Strukturen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes

Mit dem Wandel der Arbeitswelt ist zu prüfen, ob und wie unser heutiges Arbeitsschutzsystem den neuen Anforderungen des Arbeitens in der digitalen Welt gerecht wird. Hierbei geht es auch darum, die Passfähigkeit von bestehenden Arbeitsschutzmaßnahmen und von Qualifikationen der Akteure des Gesundheits- und Arbeitsschutzes mit den Anforderungen durch zunehmende Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort, der Einführung neuer Technologien sowie der Entstehung neuer Beschäftigungsformen kritisch zu hinterfragen. Zu untersuchen ist etwa, ob Kompetenzen, Instrumente und Handlungsstrategien der Akteure ergänzt werden müssen und welche Qualifikationen und Instrumente beispielsweise Führungskräfte und Betriebsräte und Beschäftigte benötigen, um Arbeit in der digitalen Welt unterstützend gestalten und begleiten zu können.