1 Einleitung

Das Wertekonstrukt breiter Bevölkerungsschichten in West-Europa folgt einer Gerechtigkeitspräferenz, die Profiteure bestimmter sozialstaatlicher Politik klar bevorzugt. Am unteren Ende der empfundenen „Deservingness“ stehen in der mehrheitlichen Auffassung Menschen mit Migrationserfahrung, eine „Out-Group“, der vielerlei Ressentiments entgegenschlagen und gegen die sich politisch höchst erfolgreich mobilisieren lässt. Gefolgt werden Menschen mit Migrationserfahrung von „den Arbeitslosen“, die potenziell mit den weit verbreiteten Vorstellungen der Leistungsgerechtigkeit kollidieren. Kranke werden als eher unverschuldet in Not geraten wahrgenommen, sodass Ihnen eine höhere Solidarität entgegengebracht wird. Am solidarischsten verhält sich die westeuropäische Gesellschaft jedoch gegenüber der Gruppe der Alten, deren Prekarisierung am wenigsten toleriert wird (van Oorschot 2006, 2000).

Würde sich Sozialpolitik an diesen vorherrschenden Präferenzen orientieren, um die wahrgenommene Verteilungssituation zu verbessern, ergäbe sich keineswegs zwangsläufig – wie ebenfalls mehrheitlich von der Bevölkerung gewünscht – eine gleichere Verteilung der materiellen Ressourcen. Denn obwohl auch Menschen in Deutschland besonders bei der Lebensstandardsicherung älterer Menschen staatlichen Handlungsbedarf sehen, zeigt sich nach aktueller Datenlage für diese Altersgruppe kein überdurchschnittliches Armutsrisiko.Footnote 1 Würde Sozialpolitik an der empirischen Bedürftigkeit ausgerichtet, müsste vielmehr die Gruppe der Arbeitslosen oder Menschen mit Migrationserfahrung im Vordergrund stehen, deren Armutsrisiken deutlich höher ausfallen.

Der vorliegende Beitrag untersucht, ob sich die Diskrepanz zwischen empfundener Deservingness sozialstaatlicher Ansprüche und tatsächlicher Bedürftigkeit der unterschiedlichen Gruppen aus einer (de)legitimierenden narrativen Erzählstruktur im durch die Medien getragenen öffentlichen Ungleichheitsdiskurs spiegelt. Gegenstand der Analyse ist das Online-Portal der auflagenstärksten deutschen Tageszeitung, der Bild-Zeitung. Diese hat mit ihren viralen Portraits einzelner Arbeitsloser, wie „Florida-Rolf“ oder „Karibik Klaus“ eine lange Tradition in der Stigmatisierung von Beziehern von Sozialhilfe beziehungsweise Hartz-IV. Zudem sieht sich die Redaktion mit Blick auf die Gruppe der Zugewanderten trotz kurzzeitiger Euphorie für die „Willkommenskultur“ latent den Vorwürfen ausgesetzt, der rechtspopulistischen AfD in die Hände zu spielen: Der vormalige Chefredakteur von Bild am Sonntag Michael Spreng bezeichnet das Blatt sogar als „Vorfeldorganisation der AfD“ (Salmen 2018). Da sich die Zeitung als „Seismograf der deutschen Befindlichkeiten“ (BILDblog 2008) versteht, der den Menschen das gibt, „was sie bewegt“ (Mediaimpact 2019a), stellt sich als Forschungsfrage, inwiefern die Bild-Zeitung die in der Gesellschaft verbreitete sozialstaatliche Wertehierarchie mit ihrer Berichterstattung begünstigt.

Aufbauend auf einer Text-Mining gestützten Sentiment-Analyse werden dazu die Narrative herausgearbeitet, mit denen sozialstaatliche Ansprüche der unterschiedlichen Gruppen auf- oder abgewertet werden. Insbesondere für die Gruppen Alte, Kranke und Arbeitslose lässt sich deutlich aufzeigen, dass die Bild-Online-Berichterstattung die vorherrschende Legitimitätshierarchie stützt und womöglich verstärken. In emotional beschriebenen Einzelfallbeispielen arbeitet sich die Zeitung an „respektierten“ Rentnern, „tapferen“ Menschen mit Behinderung und „frechen“ Arbeitslosen ab. Häufig leisten die Zuschreibungen einem Narrativ der Leistungsgerechtigkeit Vorschub und folgen der Logik „wer viel arbeitet soll auch mehr bekommen“. Im Gegensatz zur Deservingness-Präferenzordnung öffnet die Analyse eine differenzierende Perspektive auf die Gruppe der Zugewanderten. Einerseits werden Geflüchtete im betrachteten Zeitraum fast durchweg positiv und als legitim hilfebedürftig charakterisiert. Negative Artikel formulieren lediglich Kritik an der Ineffizienz der Behörden, aber nicht an den Zugewanderten selbst. Andererseits lesen sich Zuschreibungen der so titulierten „Armutsmigration“, vornehmlich aus osteuropäischen Staaten als durchweg diffamierend. Diese Gruppe von Zugewanderten wird merklich abgewertet und häufig dargestellt, als würden sie den deutschen Sozialstaat bewusst ausnutzen.

2 Die Wertehierarchie sozialstaatlicher Solidarität

Demokratisch organisierte Wohlfahrtsstaaten unterliegen einem ständigen Austarieren teils völlig konträrer Gerechtigkeitsvorstellungen unterschiedlicher Bevölkerungsschichten. Ganz grundsätzlich konkurrieren diejenigen, die für eine stärkere staatliche Umverteilung eintreten mit solchen, die sich gegen entsprechende Eingriffe stellen. Welche wohlfahrtsstaatlichen Politiken aber im Speziellen als gerecht empfunden werden, ist wesentlich komplexer – auch weil Gerechtigkeitspräferenzen nicht immer einer konsistenten Logik folgen, sondern das Ergebnis einer schwierigen Abwägung rivalisierender Präferenzmuster darstellen. So stimmen in Deutschland über 60 % der Befragten des European Social Survey (ESS) 2016 der Aussage zu, „in einer fairen Gesellschaft sollten die Einkommensunterschiede gering sein“. Gleichzeitig befürworten in derselben Umfrage mehr als die Hälfte der deutschen Umfrageteilnehmer, dass selbst „große Einkommensunterschiede aufgrund von Talent und Anstrengung akzeptabel“ sind. Selbst in den skandinavischen Ländern, deren Bevölkerung für ihre breite Zustimmung zu universalistisch organisierten und stark nivellierend wirkenden Wohlfahrtsstaaten bekannt sind, findet sich mehr Akzeptanz als Ablehnung zu Einkommensunterschieden, die sich durch Leistungsunterschiede begründen.Footnote 2

Ob sich Einkommensunterschiede auf Anstrengung zurückführen lassen oder (un)glücklichen Umständen geschuldet sind, mag in den Augen unterschiedlicher Beobachter wiederum sehr unterschiedlich beschieden werden. Aufschlussreich ist in diesem Kontext eine differenzierte Betrachtung der als legitim oder illegitim bewerteten Ansprüche verschiedener bedürftiger Gruppen. Erstaunlich stabil lässt sich eine europaweit gültige gruppenspezifische Hierarchie einer solchen Deservingness nachweisen (van Oorschot 2006). Gerade die Bedürfnisse älterer Menschen stehen in der Rangfolge weit oben und werden als besonders berechtigt bewertet. An zweiter Stelle sortieren sich die Ansprüche von Kranken sowie Menschen mit Behinderungen ein. Arbeitslosen wird bereits eine wesentlich geringere Solidarität zuteil. Noch weniger Solidarität erfahren Menschen mit Migrationserfahrung, denen im Vergleich dieser Gruppen das größte Misstrauen entgegenschlägt und die selbst bei positiver Arbeitsmarktsperformance am Ende der Wertehierarchie eingeordnet werden (Reeskens und van der Meer 2019).

Während die als niedrig empfundene Legitimität der sozialstaatlichen Ansprüche von Menschen mit Migrationserfahrung einen im Speziellen zu diskutierenden Sonderfall darstellt, lassen sich die Abstufungen zwischen älteren Menschen, Kranken sowie Arbeitslosen durchaus aus den weit verbreiteten Präferenzen für Chancen- und Leistungsgerechtigkeit ableiten. Schließlich werden Alter und Krankheit als Lebenszyklus-Risiken bewertet, denen alle in ihrem Leben mehr oder minder gleichermaßen ausgesetzt sind (Jensen 2012). Ein Sozialversicherungssystem, dass die Risiken von Altersarmut abmildert oder eine Krankenversicherung, die Gesundheitsrisiken absichert, erfährt daher klassischerweise höhere Zustimmung als eine Arbeitslosenversicherung, deren Leistungsbezieher latent im Verdacht stehen, sich nicht zur Genüge bemüht zu haben. Entsprechend bewerten auch die deutschen Befragten im ESS 2016 die „Verantwortung des Staates, den Lebensstandard der Alten zu sichern“ auf einer 11-Punkte Skala mit durchschnittlich 7,6 statistisch signifikant höher als die „Verantwortung des Staates, den Lebensstandard der Arbeitslosen zu sichern“ (durchschnittlicher Skalenwert in Höhe von 6). Insbesondere wenn angenommen wird, dass Arbeitslose das System ausnutzen und nicht unverschuldet Unterstützung beziehen, sinkt die Legitimität der Arbeitslosenhilfe in der Bevölkerung (Fong et al. 2006). Rhetorisch haben rechtspopulistische Parteien eine lange Historie darin, unabhängig von der Herkunft von Sozialleistungsbeziehern, eine solche Hierarchisierung sozialstaatlicher Ansprüche zu befeuern und sozialhilfebedürftige Gruppe zu diffamieren (Ivarsflaten 2005): Das Ausspielen vieler rechtspopulistischer Parteien von vermeintlich hart Arbeitenden gegen vermeintlich selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit nennen Koster et al. (2013) „Wohlfahrtspopulismus“.Footnote 3

Die Bedeutung selbst einer zufällig konstruierten Trennung zwischen einer mildtätigen in-Group, die für die Finanzierung des Sozialstaates aufkommt und einer vermeintlich das System ausbeutenden out-Group, lässt sich bis zu den sozialpsychologischen Experimenten in den 1970er-Jahren zurückverfolgen. In diesen Experimenten waren Teilnehmer bereit, auf Pay-Offs für die eigene Gruppe zu verzichten, um Mitglieder der out-Group zu bestrafen (Tajfel 1970; Brewer 1979; Tajfel et al. 1971). Je unterschiedlicher die beiden Gruppen empfunden werden, desto deutlicher zeigt sich die Abwertung der out-Group durch die in-Group. Ein markantes Beispiel hierfür stellt die Gruppe der Zugewanderten dar, deren empfundene ethnische, religiöse oder sozio-ökonomischen Unterschiede als ausschlaggebend für die niedrige Solidarität in wohlfahrtsstaatlichen Fragen identifiziert werden kann (Alesina et al. 2019; Helbling und Kriesi 2014; Hainmueller und Hiscox 2010). Eindrucksvoll konnten Alesina et al. (2018) zudem aufzeigen, wie verbreitet Vorurteile gegenüber dem sozio-ökonomischen Status und der Arbeitslosigkeit von Zugewanderten in Europa sind.

Abb. 1 zeigt für verschiedene europäische Länder die von den Befragten präferierten Bedingungen, wann Zugewanderte die gleichen Rechte auf soziale Leistungen erhalten sollen, wie diejenigen, die bereits in dem Land leben: Über alle Länder hinweg gibt lediglich eine kleine Minderheit von rund 10 % aller Befragten an, dass Zugewanderte Einheimischen unmittelbar sozialstaatlich gleichgestellt werden sollten. Weitere 10 % würden Zugewanderten erst nach einem Jahr Aufenthalt im Zielland den Zugang zum Sozialstaat ermöglichen. Ganze 44 % bevorzugen eine gewisse Reziprozität und erwarten, dass Zugewanderte mindestens ein Jahr arbeiten und Steuern zahlen, bevor sie den gleichen Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen erhalten. Über ein Viertel der Umfrageteilnehmer gibt an, Zugewanderte sollten erst dann die gleichen Rechte auf sozialstaatliche Leistungen erhalten, wenn sie die nationale Staatsbürgerschaft erhalten haben. Und ein relativ geringer Anteil würde Zugewanderten Rechten auf sozialstaatlichen Leistungen sogar gänzlich verweigern. Befragte in Deutschland befürworten eine etwas schnellere Berechtigung migrantischer Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat, qualitativ stimmt das Antwortmuster jedoch mit dem der europäischen Nachbarn überein.

Abb. 1
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Hohe Sozialstaatskonditionalität für Zugewanderte. Wann sollten Zugewanderte die gleichen Rechte auf Sozialleistungen bekommen? in Prozent aller Befragten des jeweiligen Landes. Quelle: European Social Survey (2016)

Interessanterweise beschränken sich die Vorbehalte gegenüber Zugewanderten im Allgemeinen nicht auf Menschen, die den Sozialstaat per se als kritisch beurteilen. Ein vergleichbares Meinungsbild herrscht auch unter vielen Befürwortern des Bedingungslosen Grundeinkommens vor (Diermeier et al. 2020). Selbst innerhalb dieser Gruppe gilt Bedingungslosigkeit nicht bedingungslos für alle Menschen: Lediglich rund 20 % (in Deutschland knapp 30 %) der Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens stimmen einer Ausweitung des Sozialstaats auf Zugewanderte unmittelbar oder ohne weitere Auflagen nach einem Jahr zu. Paradoxerweise fordern viele Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens bei Zugewanderten ein, dass diese erst den gleichen Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen erhalten sollen, „nachdem sie mindestens ein Jahr gearbeitet und Steuern bezahlt haben.“. Verbreitete Vorbehalte gegenüber Zugewanderten zeigen sich auch darin, dass rund 70 % der Deutschen der Aussage zustimmen, dass „wir ein reiches Land sind, weil wir fleißiger und tüchtiger sind als andere“ (Vester 2017).

Ein Nachteil dieser Analysen konstituiert sich aus der Betrachtung von Immigranten als monolithischen Block. Dass die in-Group tatsächlich eine differenziertere Perspektive einnimmt als sich aus vielen Forschungsbeiträgen erahnen lässt, deckt für Deutschland etwa die Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) aus dem Jahr 2016 auf. Hier fordern 40 % der Befragten, „Kriegsflüchtlingen“ uneingeschränkten Zuzug zu gewähren; 56 % möchten den Zuzug begrenzen; lediglich knapp 4 % gänzlich unterbinden. Mit Blick auf die recht unscharfe Kategorie „Wirtschaftsmigranten“ werden hingegen deutlich härtere Restriktionen gefordert: nur 7 % der Befragten möchte dieser Migrationsgruppe eine uneingeschränkte Immigrationsperspektive bieten; 56 % fordern eine Begrenzung des Zuzugs; 37 % würden den Zuzug sogar gänzlich unterbinden.Footnote 4 „Wirtschaftsmigranten“ werden folglich wesentlich kritischer betrachtet als „Kriegsflüchtlinge“ und das, obwohl auf dem Höhepunkt der Fluchtmigration nach Deutschland die Auswirkungen von Geflüchteten auf den Wohlfahrtsstaat in derselben Befragung besonders negativ gedeutet werden: Über 65 % der Befragten betrachten „Flüchtlinge“, (eher) als Risiko für den Sozialstaat – 37 % stimmen der (eher) generelleren Aussage zu: „Ausländer belasten unser soziales Netz“. Die Antworten gilt es vor dem Hintergrund der strikten arbeitsrechtlichen Regelungen von Geflüchteten einzuordnen, die zeigen, dass manchen Anspruchsgruppen der Zugang zum sozialen Sicherheitsnetz gewährt wird, ohne zu erwarten, dass diese in gleichem Maße reziprok beitragen.

Wie Steffen Mau (2003) mit „The Moral Economy of Welfare States“ umschreibt, hat die diskutierte Deservingness-Präferenzordnung in einer Demokratie selbstredend Auswirkungen auf die institutionelle Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates. Wie sich spezifische Umverteilungspräferenzen politisch instrumentalisieren lassen, haben rechtspopulistische Parteien zuletzt nur zu deutlich gezeigt, indem sie einen „ökonomischen Nativismus“ (Otjes et al. 2018), „exklusive Solidaritäten“ (Lefkofridi und Michel 2017), „solidarischen Patriotismus“ (Kaiser 2020) oder „Wohlfartschauvinismus“ (Schumacher und van Kersbergen 2016) in den Mittelpunkt ihrer wirtschaftspolitischen Agenda rückten. Der Vorschlag des rechten AfD-Flügels, mit einer „Staatsbürgerrente“ einen Rentenbonus für Einheimische einzuführen (AfD Fraktion im Thüringer Landtag 2018), liefert ein eindrückliches Beispiel solcher Politikangebote. Tatsächlich spiegelt sich die typisch-europäische Wertehierarchie in der wohlfahrtsstaatlichen Präferenzordnung der AfD-Anhänger, welche wohlfahrtschauvinistische Ansichten mit einem klassenbasierten Wohlfahrtpopulismus kombiniert: Wohingegen Wohlfahrtsprogramme zur Armutsreduktion und Arbeitslosenhilfe stark abgelehnt werden, besteht in der AfD-Anhängerschaft gegenüber Krankenversicherung und Alterssicherung kein statistisch signifikanter Unterschied zum Bundesdurchschnitt (Goerres et al. 2018). Zudem lässt sich unter AfD-Anhängern ein besonders differenzierender Blick auf die Einwanderung nach Deutschland nachweisen: So geben in der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften 2016 über 70 % der AfD-Anhänger an, den Zuzug von „Wirtschaftsmigranten“ ganz unterbinden zu wollen; lediglich 12 stimmen der entsprechenden Aussage hingegen bezüglich „Kriegsflüchtlingen“ zu.

3 Die empirische Identifikation der Bedürftigen

Der Themenkomplex Ungleichheit wird in Deutschland kontrovers diskutiert. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos im Juli 2018 nennen beispielsweise 45 % der Befragten in Deutschland „Armut und soziale Ungleichheit“ an erster Stelle ihrer größten Sorgen und damit deutlich mehr Befragte als in den meisten anderen betrachteten Ländern (Ipsos 2018). Auch andere Befragungsdaten deuten robust darauf hin, dass die Mehrheit der Deutschen die Verteilungsverhältnisse für „eher ungerecht“ und die Einkommensunterschiede für „zu groß“ hält. In einer Umfrage zur Zukunft des Wohlfahrtsstaates der Friedrich-Ebert-Stiftung sind beispielsweise 82 % der wahlberechtigten Bevölkerung der Meinung, die soziale Ungleichheit in Deutschland sei mittlerweile zu hoch (Heinrich et al. 2016). Gemäß der Befragung von Engelhardt und Wagener (2018), in der explizit nach dem Wunsch gefragt wird, die Ungleichheit in Deutschland zu reduzieren, geben 83 % der Befragten an, dass hierzu mehr Anstrengungen unternommen werden sollten. Nur 11 % äußern sich zufrieden mit dem Status Quo und lediglich 6 % empfinden die Anstrengungen zur Ungleichheitsreduktion bereits als zu hoch.

Die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften 2018 gibt Aufschluss über die gewünschte Zielrichtung der Umverteilung. 62,6 % der Befragten stimmen eher oder voll und ganz zu, dass Einkommen und Wohlstand „zu Gunsten der einfachen Leute umverteilt“ werden sollten. Nur 19,5 % stimmen dem eher oder überhaupt nicht zu. Auch wenn „einfache Leute“ nicht weiter spezifiziert wird, ist davon auszugehen, dass sich die Befragten mehrheitlich eine stärkere Unterstützung der Menschen im unteren Einkommensbereich wünschen. Dieser Befund wird durch eine telefonische Repräsentativbefragung im Frühsommer 2017 im Auftrag des Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2017) unterstützt, nach der 60 % der Befragten es für sozial gerecht halten, dass „man sich besonders um sozial Schwächere kümmert, damit sie im Leben die gleichen Chancen bekommen“.

Eine mögliche Herangehensweise materiell Bedürftige oder „sozial Schwächere“ zu identifizieren, ergibt sich durch einen Blick auf die Verteilung von Armutsrisiken oder materiellen Entbehrungen nach unterschiedlichen sozio-ökonomischen Merkmalen. Mit Blick auf die zuvor definierte Wertehierarchie werden hier materielle Entbehrungen, Armutsrisiken (auch als Armutsgefährdungs- oder Niedrigeinkommensquote bezeichnet) und große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Entwicklung nach Alter, Erwerbstatus, Behinderung und Migrations- sowie Fluchthintergrund abgebildet.Footnote 5 Wäre „finanzielle Bedürftigkeit“ das einzig ausschlaggebende Kriterium für Solidarität, müssten Arbeitslose den stärksten solidarischen Zuspruch erhalten. 64,3 % der Erwerbslosen verfügten im Jahr 2017 über ein Einkommen unterhalb der Niedrigeinkommensschwelle, 60,7 % entbehrten im Jahr 2018 mindestens drei der betrachteten neun Alltagsgüter (siehe Abb. 2). 35,1 % der Arbeitslosen machten sich im Jahr 2018 große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Entwicklung, gegenüber 7,3 % in der Gruppe der Rentner. Bei der Armutsgefährdungsquote ist der Unterschied sogar noch bedeutsamer: So liegt der Anteil von Rentnern, die als armutsgefährdet eingestuft werden bei vergleichsweise niedrigen 15 %. Wird berücksichtigt, dass es sich in der Altersgruppe der 18-bis 24-Jährigen aufgrund von Ausbildungszeiten häufig um temporäre Armutsrisiken handelt, sind weiterhin unter 18-Jährige und Zugewanderte deutlich häufiger von niedrigen Einkommen und materiellen Entbehrungen betroffen als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Aufgrund der unterschiedlichen wahrgenommenen Deservingness der verschiedenen Zuwanderungsgruppen, gilt es auch an dieser Stelle innerhalb der Kategorie zu differenzieren: Besonders prekär stellt sich die wirtschaftliche Lage bei Menschen mit Fluchthintergrund dar, die ähnliche Armutsrisiken, materielle Entbehrungen sowie große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Lage aufweisen wie die Gruppe der Arbeitslosen. Da ein Großteil der Menschen mit Fluchthintergrund erst in den vergangenen Jahren nach Deutschland immigriert ist, der Zugang zum Arbeitsmarkt teilweise restringiert ist und zusätzlich Sprachbarrieren noch immer eine vergleichsweise hohe Beschäftigungshürde darstellen, erstaunt dieser Befund kaum. Der Unterschied selbst zu den in Durchschnitt ökonomisch ebenfalls wenig privilegierten Menschen mit direktem oder indirektem Migrationshintergrund ist jedenfalls enorm. Da diese Gruppen tendenziell auch über geringere Vermögen verfügen (Schröder et al. 2020, S. 49), erhöht sich deren überdurchschnittliche finanzielle Bedürftigkeit weiter, wenn ebenfalls Vermögensbestände in die Betrachtung mit einbezogen werden. Wenn die Unterstützung sozial Schwächerer sowie die Reduktion materieller Unterschiede im Fokus der Sozialpolitik stünde, dann müsste die Solidarität für diese Gruppen am höchsten sein.

Abb. 2
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Armutsrisiken, materielle Entbehrung und große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Entwicklung nach ausgewählten sozio-ökonomischen Kriterien, Deutschland. In Prozent der jeweiligen Bevölkerung. Mit Behinderung: Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 (nach eigener Einschätzung im SOEP); MH Migrationshintergrund; FH Fluchthintergrund. Armutsgefährdungsquote/Niedrigeinkommensquote: Anteil der Bevölkerung mit einem bedarfsgewichteten Nettoeinkommen (inklusive Einkommensvorteile aus selbstgenutztem Wohneigentum) unterhalb von 60 % des Medianeinkommens. Materielle Entbehrung: Mindestens drei der neun folgenden Alltagsgüter können aus finanziellen Gründen nicht erworben werden (Selbstauskünfte der Befragten): Internetanschluss im Haushalt, mindestens einwöchige Urlaubsreise, neue Möbel, Einladung von Freunden zum Essen, Auto im Haushalt, Wohnung in kalten Monaten angenehm beheizt, keine warme Mahlzeit alle zwei Tage, abgetragene Kleidungsstücke werden durch neue ersetzt, finanzielle Rücklagen (Anmerkung: Auswahl von 12 verfügbaren Kriterien, die im SOEP abgefragt werden; die Kriterien unterscheiden sich teilweise von den verwendeten Kriterien zur Definition der materiellen Entbehrung gemäß Eurostat). Quellen: SOEP – Sozio-oekonomisches Panel (2020); eigene Berechnungen

4 Die Rolle von Narrativen in der sozialstaatlichen Wertehierarchie

Der Vergleich von tatsächlicher Bedürftigkeit unterschiedlicher Gruppen und deren Einordnung in die Deservingness-Rangordnung mag auf den ersten Blick verwundern. Die Armutsrisiken von Arbeitslosen und Menschen mit Migrationserfahrung sind vergleichsweise hoch, die sozialstaatlichen Ansprüche dieser Gruppen werden aber als am wenigsten legitim wahrgenommen. Im Vergleich zu diesen Gruppen sind Menschen im Rentenalter in Deutschland erkennbar seltener Armutsrisiken ausgesetzt. Staatliche Unterstützung für diese Gruppen findet aber breite Zustimmung.

Die hohe Zustimmung zu Kriterien der Leistungsgerechtigkeit sowie die Stigmatisierung von Arbeitslosen und Menschen mit Migrationserfahrung kann Anhaltspunkte liefern, weshalb die Deservingness-Rangfolge sich nicht an der tatsächlichen Bedürftigkeit orientiert. Offen bleibt jedoch, wie in der Gesellschaft bestimmte Ressentiments, Ideologien oder Gerechtigkeitseinstellungen tradiert werden und wie sich Meinungshoheiten im langanhaltenden öffentlichen Diskurs austarieren. In den Fokus rücken dabei die unterschiedlichen Akteure, die im öffentlichen Raum und vor allem öffentlichkeitswirksam miteinander um Deutungen ringen. Im Vordergrund steht damit weniger die Suche nach der absoluten öffentlichen Wahrheit als vielmehr das Werben für Unterstützung einer plausibel vermittelbaren Version der öffentlichen Wahrheit.

Werben unterschiedliche Akteure in der Öffentlichkeitsarena um Zustimmung, bedienen sie sich möglichst überzeugender Erzählungen, um bei ihrer Anhängerschaft an Einfluss zu gewinnen: „Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel“ beschreibt der Literaturwissenschaftlicher Albrecht Koschorke (2013, S. 19) das Ringen um Meinungsmonopole. Die Wahrheit oder wenigstens die Faktizität rücken damit in den Hintergrund: „[D]ie Erzählung herrscht, so scheint es, in ihrem Reich bindungslos und allmächtig; sie muss sich um Kongruenz und mit der äußeren Realität nicht bekümmern; sie nimmt sich die Freiheit alles und jedes zu einem Gegenstand dieser Welt zu erklären. […] Wie in einem Wirbel mischen sich darin Elemente von Wahrheit, Anschein, Hörensagen, Unwissenheit, Irrtum und Lüge“ (Koschorke 2013, S. 12). Mit Blick auf die unterschiedlichen Anspruchsgruppen im Sozialstaat stellt sich damit die Frage nach der Eloquenz und Wirkungskraft des Unterstützerkreises und inwieweit dieser es schafft in der Gesellschaft etwa mit einer plausiblen aber nicht notwendigerweise realitätsgetreuen – zumindest nicht repräsentativen – Tiefengeschichte (Hochschild 2016; Dörre 2020) seine Perspektive zu verankern. Zwar betonen sozialpsychologische Experimente in langer Tradition die Bedeutung zufällig definierter Zugehörigkeit für intra-gruppenbezogene Solidarität und inter-gruppenbezogene Ablehnung. Selbst der renommierte Ökonom Robert Shiller (2019) hat jedoch zuletzt für das Verständnis sozio-ökonomischer Konflikte auch die Bedeutung von gemeinsamen Narrativen herausgearbeitet.

Auch die vorherrschende empfundene Illegitimität sozialstaatlicher Ansprüche von Gruppen wie Menschen mit Migrationserfahrung oder auch Arbeitslosen lässt sich womöglich durch eine Analyse der Bedeutung kollektiver Erzählungen einordnen. Karl-Rudolf Korte (2002) betont etwa die Bedeutung von Sprache für die Durchsetzung von Interessen im politischen Diskurs und insbesondere den Machtverlust, der mit der Abwesenheit von Sprache einhergeht. Kann eine Gruppe ihre Interessen nicht verständlich machen, hat sie es schwer, Deutungsmacht zu erlangen. Mit Blick auf migrantische Ansprüche an den Sozialstaat lässt sich die Vermutung ableiten, sie seien in den Wertehierarchie-prägenden und identitätsstiftenden Narrativen der Bevölkerung unterrepräsentiert.

Hinzu kommt, dass die verfassungsrechtliche Gleichstellung von Geflüchteten und Hartz-IV-Empfängern in Deutschland nicht nur das Potenzial hat, aufgrund von nativistisch begründeten Ressentiments politisch virulent zu werden, sondern ebenso, weil sie in der Auffassung einiger dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit zuwider laufen könnte. So begründet etwa Philip Manow die Erfolge der rechtspopulistischen AfD über eine solche, empfundene Ungerechtigkeit: „Jetzt war klar, dass man im Falle der Arbeitslosigkeit nach nur einem Jahr in seiner sozialstaatlichen Absicherung faktisch den Flüchtlingen gleichgestellt wäre, und das völlig unabhängig vom Ausbildungsstand und, vorherigem Verdienst (und damit der Beitragshöhe) und der vorherigen Beitragsdauer“ (2018, S. 88). In einem Interview bezeichnete Manow Migration als „eine offene Flanke“ für „großzügige Wohlfahrtsstaaten“: „Genau so, wie eine stark von Migration geprägte Gesellschaft Probleme hat, einen generösen Wohlfahrtsstaat zu konstruieren, so hat ein Land mit sehr generösem Wohlfahrtsstaat ein Problem mit ungeregelter Zuwanderung“ (Wirtschaftswoche 2019). Tatsächlich hat auch Benedikt Kaiser, einer der wohlfahrtsstaatsaffinen Autoren der Neuen Rechten, das von Manow identifizierte Spannungsfeld erkannt, wenn er die Bedeutung des „untrennbaren Duos Solidarität und Identität im Rahmen einer anzustrebenden solidarischen Leistungsgemeinschaft“ (Kaiser 2020, S. 236) betont.

Schon lange hatte einer der Vordenker der Neuen Rechten in Deutschland, Götz Kubitschek, ganz im narratologischen Sinne von einer „Bewaffnung der Sprache“ (Stahl 2019, S. 98) geträumt. Wie der parlamentarische Arm dieser Bewegung, die rechtspopulistische AfD, diese Erzählstruktur aufnimmt arbeitet Enno Stahl (2019) in seiner Analyse populistischer Rhetorik heraus. Diese baut auf ressentimentsbehaftete und diffamierenden Bilder auf, die klarstellen sollen, dass Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung sowohl kriminell sind als auch in Deutschland wirtschaftlich Schaden anrichten. Nachdem die AfD schon in ihrer Gründungsphase unter Parteichef Lucke 2013 plakatierte „Wir sind nicht das Weltsozialamt“ (Fedders 2016, S. 165) und rhetorische Figuren wie „Armutsmigration“ (Fedders 2016, S. 165) zur Abwertung von Migranten aus Osteuropa eingeführt hatte, radikalisierte sich die Tonart der Partei im Zuge der Fluchtmigration nach Westeuropa in den Jahren 2015 und 2016 deutlich. Daran lässt auch der ehemalige AfD-Bundessprecher Alexander Gauland auf dem Parteitag der AfD-Bayern keinen Zweifel: „Wer abertausende, zum Teil hoch aggressive Analphabeten in sein Land holt und ihren Lebensunterhalt finanziert, ist nicht weltoffen, sondern dämlich“ (2018). Viele der bei Stahl (2019) angeführten Zitate offenbaren deutlich die Abwertung der sozialstaatlichen Ansprüche von Menschen mit Migrationserfahrung. Diese werden durchweg als unqualifiziert, unmotiviert und als finanzielle Last beschrieben.

Besondere Reichweite erlangen solche Erzählungen, wenn sie von Massenmedien rezipiert an ein breites Publikum weitergegeben werden. Tatsächlich ist seit längerem bekannt, dass einer narrativen Berichterstattung im Journalismus eine besondere Bedeutung zukommt (Machill et al. 2007). So wirkt eine narrative Erzählung wesentlich überzeugender als die rein statistische Darstellungen eines Sachverhalts, beispielsweise wenn es darum geht, Mitgefühl zu aktivieren (Weber et al. 2006). Dass Medien nicht nur bei der Auf- sondern auch bei der Abwertung bestimmter Gruppen eine relevante Rolle spielen hat Martin Gilens (1999) in seiner einflussreichen Untersuchung „Why Americans hate Welfare“ aufgezeigt. Gilens arbeitet die deutliche Überrepräsentation afro-amerikanischer Protagonisten in der Armutsberichterstattung US-amerikanischer Medien sowie die häufigen Berichte über Mittelmissbrauch und Verschwendung dieser Gruppen ebenso heraus, wie die wohlwollendere Beschreibung von Alters- und Arbeitsarmut, die beispielhaft durch weiße Bedürftige portraitiert wird. Als Schlussfolgerung seiner Analyse führt Gilens die Ablehnung des Wohlfahrtsstaats durch die weiße US-amerikanische Mehrheitsgesellschaft explizit auf die negativ verzerrten Erzählungen über nicht-weiße Bevölkerungsschichten zurück.

Auch der Analyse des deutschen Ungleichheits‑, Armuts- und Gerechtigkeitsdiskurses liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen Ungleichheitsthemen vor allem durch Medien wahrnehmen: Eine Untersuchung der Leitmedien Die Zeit, Spiegel und Frankfurter Allgemeine Zeitung in (West‑)Deutschland seit den 1940er-Jahren zeigt, dass sich Medienberichterstattung tendenziell an einer Verschlechterung der Realindikatorik orientiert und weniger durch eine Agendasetting-Eigendynamik angetrieben wird (Schröder und Vietze 2015). Eine vertiefende Diskursanalyse legt Smith Ochoa (2019) für den Zeitraum 2005 bis 2017 anhand der unterschiedlich positionierten überregionalen Medien Die Welt, Die Zeit und taz sowie der Reden im deutschen Bundestag vor. Er arbeitet konkurrierende Ungleichheitsnarrative heraus und bemängelt den großen Raum, den die Diskussion um korrekte Fakten und deren statistische Genese in den Berichten einnimmt, da dies den moralischen Impetus einschränke, den die Berichterstattung anhand von subjektiven Einzelfallbeispielen innehätte: „Rarely are citizens’ everyday experiences with poverty, precarity, and rent affordability discussed“ (Smith Ochoa 2019, S. 14). Diese Entkoppelung des Diskurses von alltäglichen, erlebbaren Geschichten hält der Autor für einen bedeutsamen Grund, weshalb zunehmende Ungleichheitskritik in Deutschland (noch) nicht in politischen Maßnahmen und Gesetzesvorhaben mündet.

Der bemängelte Abstraktionsgrad des Ungleichheitsdiskurse mag teilweise an den analysierten Medien liegen, die sich eine gewisse Objektivität zum Ziel gemacht haben: So zitiert etwa Die Zeit ihre ehemalige Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff: „Wir wollten dem Leser Material bieten, damit er sich selber eine Meinung bilden kann, wir wollten ihn nicht indoktrinieren“ (DIE ZEIT 2019). Am deutlichsten wird der Fokus auf die Faktendiskussion bei der FAZ: „Die Frankfurter Allgemeine Zeitung […] liefert täglich gründlich recherchierte Fakten, präzise Analysen, kluge Kommentare und diskursfähige Positionen“ (FAZ 2019). Auch Die Welt betont die Recherchetiefe ihrer journalistischen Arbeit: „DIE WELT konzentriert sich auf das, was die Stärke einer modernen Tageszeitung ausmacht: auf das geschriebene Wort. Mehr große Themen, hintergründiger recherchiert und ausführlicher kommentiert – Zeitung, wie sie heute sein muss“ (Mediaimpact 2019b).

Bislang nicht analysiert worden ist hingegen die deutsche Boulevardpresse, die durchaus einen konträren Anspruch an ihre Arbeit stellt. Deutschlands mit Abstand auflagenstärkste Tageszeitung (1,2 Mio. Exemplare; 7,9 Mio. Leser/Reichweite), die Bild-Zeitung, beschreibt ihren Anspruch wie folgt:

„Wir geben den Menschen alles, was sie bewegt. Wir denken größer. Wir geben nicht auf, bis wir finden, was die Menschen in Deutschland wirklich berührt. […]

Wir machen aus Fakten Gefühle. Informationen sind nur Informationen, bis wir sie fühlen können. Wir erzählen Tatsachen als menschliche Geschichten.

Wir sind große Bilder. Wir sprechen eine Sprache, die Bilder erzeugt. Und wir zeigen Bilder, die sprachlos machen“ (Mediaimpact 2019a).

Das, was in den bisherigen Diskursanalysen vermisst wurde, ist folglich in boulevardisierter Aufmachung in der Bild-Zeitung zu vermuten. Die geforderte Übersetzung von „Fakten in Gefühle“, sowie das Aufgreifen dessen, was „die Menschen in Deutschland berührt“, hat sich das Medium explizit auf die Fahnen geschrieben. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang zudem, inwiefern die Bild-Zeitung, die sich als „Seismograph der deutschen Befindlichkeiten versteht“ (BILDblog 2008), bei konkreten Verteilungsfragen die Wertehierarchie der Bevölkerung bedient und verstärkt. Entgegen der tatsächlichen Bedürftigkeit werden die sozialstaatlichen Ansprüche von alten und kranke Menschen als wesentlich legitimer angesehen als die von Arbeitslosen oder Zugewanderten. Analysiert werden soll nun, ob Bild-Online mit ihrer bewusst einzelfallbezogenen und emotionalen Berichterstattung Erzählungen aufspannt, die mit der in der Bevölkerung präsenten Hierarchie übereinstimmen.

5 Empirische Untersuchung

Gegenstand der folgenden empirischen Untersuchung ist mit Bild-Online das meist besuchte Online-Portal einer deutschen Tageszeitung. Seit Start der Bild-Online Präsenz am 21. Januar 2006, wurden hier über 1,6 Mio. Artikel eingestellt, wobei ab dem Jahr 2009 eine deutlich zunehmende Artikeldichte zu verzeichnen ist. Der Betrachtungszeitraum der vorliegenden Analyse endet am 24. Oktober 2019, was nach einer Erstfilterung nach Artikelüberschriften mit Ungleichheits- oder Armutsbezug in einer Grundgesamtheit von knapp 80.000 frei zugänglichen Artikeln resultiert. Aus dieser Grundgesamtheit lassen sich anhand der Überschriften wiederrum die aus der sozialstaatlichen Wertehierarchie bekannten Kategorien (Alte, Kranke, Arbeitslose, Zugewanderte) herausfiltern. Tab. 1 gibt einen Überblick über die entsprechende Anzahl an Artikeln nach einer händischen Relevanzprüfung der Schlagzeilen und Artikelinhalte durch die Autoren. Hierbei wurden solche Artikel aussortiert, die zwar die entsprechende Schlagwörter beinhalten, aber sich inhaltlich für die zu untersuchende Fragestellung als irrelevant erweisen.

Tab. 1 Anzahl der verfügbaren und analysierten Artikel

5.1 Textanalyse: Die Bild-Zeitung als Spiegel der Wertehierarchie

Mithilfe einer quantitativen Sentiment-Analyse können aus den Texten der Artikel inklusive der Überschriften und Teaser weiterer online eingebetteter Artikel nun die Unterschiede in der Tonalität der verwendeten Wörter zwischen den Kategorien untersucht werden. Alphanumerische Zeichen, Füllwörter und andere, für die Sentiment-Analyse irrelevanten Wörter bleiben bei der Sentiment-Analyse außen vor. Die folgende Sentiment-Analyse stützt sich auf das öffentlich verfügbare Wörterbuch „SentiWS_v2.0“ der Universität Leipzig. Dieser SentimentWortschatz (kurz SentiWS) enthält Wörter, deren Wortart und die entsprechenden Flexionsvarianten mit einer positiven bis negativen Polarität auf dem Intervall [−1,1] angegeben werden. Die SentiWS-Bewertung von Wörtern ist dabei unabhängig von deren Wortart: Einen positiven oder negativ wertenden Score enthalten nicht nur Nomen und Adjektive, sondern ebenso Verben. Inklusive aller Flexionsformen enthält das Wörterbuch rund 16.000 positive und 18.000 negative Wortformen, wobei eine Polarität zwischen −1 und 0 ein negatives Wort darstellt und eine Polarität zwischen 0 und 1 ein positives Wort darstellt. Die Abstufungen innerhalb der [1,0] und [0,1] Intervalle erlauben so, für Textkorpora gewichtete Sentimentwerte zu berechnen.

Eine gewichtete Sentiment-Analyse, die für jedes Wort prüft, ob es sich im verwendeten Wörterbuch befindet und die Stärke der positiven oder negativen Polarität abgleicht, ermöglicht einen ersten kategorie-übergreifenden Vergleich, indem für jede kategorielle Unterteilung ein Gesamt-Sentimentwert des jeweiligen Textkorpus errechnet wird. Dieser ergibt sich aus der gewichteten Summe der Sentimentscores aus dem Polaritätsintervall zwischen −1 und 1. Als Grundlage der Analyse dienen die gesammelten Textkorpora der Bild-Online Artikel in den Kategorien Alte, Kranke, Arbeitslose und Zugewanderte. Bei der Interpretation der folgenden Analyse bleibt demnach zu beachten, dass der übergreifende Gesamt-Sentimentwert sich auf den aggregierten Textkorpus aller Artikel einer Kategorie bezieht. Einzelne extrem positive Darstellungen können dabei eine Vielzahl an leicht negativen Berichten überlagern und eine positive Darstellung einer Kategorie suggerieren, obwohl die Mehrzahl der Artikel die Gruppe (eher) negativ darstellt. Zwar lassen die Sentimentwerte somit keine absolute Bewertung zu, ob eine Kategorie tatsächlich positiv oder negativ porträtiert wurde, es lässt sich jedoch durchaus eine relative Hierarchisierung zwischen den Kategorien vornehmen.

Tatsächlich spiegeln die SentiWS gewichteten Gesamt-Sentimentwerte der Bild-Artikel für die Kategorien Arbeitslose (−46,4), Kranke (−18,1) sowie Alte (−6,3) die vorherrschende sozialstaatliche Wertehierarchie der Bevölkerung. Eine deutliche Abweichung stellt der Gesamt-Sentimentwert des Textkorpus Zugewanderte dar: Mit 4,7 haben die Artikel dieser Kategorie eine deutlich positivere Tonalität als die der anderen Gruppen. Eine differenzierende Betrachtung zeigt jedoch, dass besonders die Untergruppe der Geflüchteten mit einem Sentimentwert von 6,6 in positiv intonierten Artikeln portraitiert wird. Die Untergruppe der nicht geflüchteten Immigranten wird dabei mit wesentlich kritischeren Wörtern beschrieben: Der Sentimentwert von −2 liegt aber dennoch über denjenigen der anderen sozialstaatlichen Anspruchsgruppen. Die Kategorie der nicht geflüchteten Immigranten enthält allerdings nur 29 Artikel, was die Gefahr einer Verzerrung des Sentimentwertes durch einzelne extrem positive Berichte deutlich erhöht. Da das verwendete Wörterbuch mehr negative als positive Wörter besitzt, kommen negative Sentimentwerte grundsätzlich häufiger vor, was den positiven Sentimentwert der Kategorie Geflüchtete umso bemerkenswerter macht.Footnote 6

5.2 Qualitative Auswertung: Die Bild-Zeitung als narratologischer Akteur

Deutlich einschränkend muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass sich die Sentimentwerte nur mit Vorsicht interpretieren lassen. So werden bei dieser ersten, rein quantitativen Sentimentanalyse weder doppelte Verneinungen berücksichtigt noch werden Bezüge zwischen Wörtern zugeordnet. Das für sich genommen negativ konnotierte Wort „arm“ taucht in der Kategorie Arbeitslose beispielsweise im Kontext eines Hartz-IV „Aufstockers“ unter der Zuschreibung „arm trotz Arbeit“ auf. Die negative Einstufung des Wortes „arm“ bei der quantitativen Sentimentanalyse ist im Kontext der vorliegenden Analyse somit nur bedingt aussagekräftig, da der handelnde Protagonist positiv (deserving) dargestellt wird und der Artikel somit Solidarität mit der beschriebenen Gruppe weckt. Ähnliches zeigt sich bei der Darstellung von Geflüchteten. Werden diese direkt porträtiert, greift Bild-Online auf fast durchweg positiv konnotierte Wörter und Bilder zurück. Befassen sich die Artikel hingegen mit dem wirtschaftspolitischen Kontext der Fluchtmigration bieten die Autoren eine durchaus kritischere Lesart an. Dies ist etwa der Fall, wenn einer CDU-Politikerin, dem Arbeiter-Samariter-Bund, der Leipziger Aus- und Fortbildungsgesellschaft oder der gemeinnützigen Kölner Aktiengesellschaft für Wohnungsbau GAG vorgeworfen wird, einen wirtschaftlichen Vorteil aus der Unterbringung oder Weiterbildung von Geflüchteten zu ziehen. In diesen Fällen stehen jedoch nicht die Geflüchteten selbst als Protagonisten im Fokus der Kritik, sondern vielmehr andere Akteure, die sich einen unlauteren Vorteil zu verschaffen versuchen.

Die Sentiment-Analyse bietet zwar einen ersten Eindruck bezüglich der vorrangigen Tonalität der Artikel über die verschiedenen sozio-ökonomischen Gruppen. Allerdings ergibt sich in der rein quantitativen Analyse die Schwierigkeit, auf welche Protagonisten sich die negativen (oder positiven) Zuschreibungen jeweils beziehen. Negative Wörter können beispielsweise entweder den Arbeitslosen negativ beschreiben, oder beispielsweise auch den Umgang des Staates oder der Ämter mit dem Arbeitslosen – und damit eher Mitgefühl mit dessen Situation erzeugen. In Ergänzung der quantitativen Sentiment-Einordnung haben die Autoren daher sämtliche identifizierte Artikel gelesen und bewertet, ob ein positives, neutrales oder negatives Bild der jeweiligen sozio-kulturellen Gruppe gezeichnet wird.Footnote 7 Diese Einordnung erweist sich auch mit Blick auf die Protagonisten-Problematik als relevant: Zwar fällt die Darstellung von Geflüchteten fast durchweg positiv (deserving) aus, wird hingegen über die aus dem Ruder laufenden Kosten von Geflüchtetenunterkünften sowie Integrationsmaßnahmen berichtet oder korruptionsähnliche Fälle „aufgedeckt“, wo Dritte einen persönlichen Vorteil aus dem (vermeintlichen) Verwaltungschaos ziehen, zeichnet Bild-Online ein verheerendes Bild. Entsprechend werden solche mit abweichenden Protagonisten Artikel negativ (undeserving) kodiert.

Auch auf Bild-Online wird eine Vielzahl an rein beschreibenden Artikel angeboten, die Zahlen und Fakten rapportieren und kaum Wertungen enthalten. Solche Artikel mögen in der Sentimentanalyse je nach Entwicklung bestimmter Kennzahlen (steigend oder fallend) leicht positive oder negative Wertungen spiegeln, in der qualitativen Betrachtung werden diese insgesamt 371 Berichte neutral kodiert (siehe Tab. 2). Dem stehen 467 Artikel gegenüber, die sich klar einer positiven (286) oder negativen (181) Lesart zuordnen lassen. Hierbei handelt es sich einerseits um eigentlich berichtende Beiträge, die einen Sachverhalt extrem einseitig darstellen und mit unwidersprochenen (Politiker‑)Zitaten untermalt werden. Anderseits wählt Bild-Online häufig das Genre des detailliert ausgeschmückten Einzelfallbeispiels. Aus beiden Fällen erwächst kaum eine Kontroverse für die entsprechende Kodierung.

Tab. 2 Überblick Tonalität nach qualitativer Bewertung der analysierten Artikel

Tab. 2 gibt auch einen Überblick über die Anzahl von positiv und negativ kodierten Artikeln sowie deren Verhältnis für die unterschiedlichen Anspruchsgruppen. In der Gesamtschau werden die Ergebnisse der quantitativen Sentimentanalyse größtenteils reproduziert. Der Wertehierarchie entsprechend wird die Gruppe der Alten als besonders bedürftig dargestellt; finden sich im sozialstaatlichen Kontext doch knapp neun Mal so viele positiv wie negativ konnotierte Berichte. Mit weitem Abstand folgen Kranke sowie Geflüchtete, bei denen auf einen negativen rund zwei positive Artikel kommen. Umgekehrt stellt sich das Verhältnis bei den Arbeitslosen dar, wo mehr als doppelt so viele negative intonierte Beiträge angeboten werden. Im Gegensatz zur Sentimentanalyse reiht sich jedoch die Gruppe der nicht geflüchteten Immigranten ganz am Ende der Bild-Online Deservingness Hierarchie ein. Im Fokus stehen dabei Zugewanderte aus Osteuropa, die fünf Mal so häufig negativ wie positiv porträtiert werden. Unterschiede zur Sentimentanalyse können sich aus der Gleichgewichtung der Artikel in der qualitativen Analyse ergeben. Im Gegensatz zur Sentimentanalyse, wo die gesammelten Textkorpora auf ihre Wertung geprüft werden, fließt hier jeder Artikel unabhängig von seiner Länge oder der Schärfe der Tonalität separat in die Auswertung ein. Die eindeutige Intonierung der Artikel vereinfacht dieses Vorgehen.

Diese recht eindeutige Kategorisierung der einzelnen Gruppen und Subgruppen in Übereinstimmung mit der Wertehierarchie motiviert den Blick auf übergeordnete Narrative, die Bild-Online seinen Lesern anbietet, die Solidarität mit den Alten, Kranken sowie Geflüchteten wecken, und Ansprüche von Arbeitslosen sowie nicht geflüchteten Immigranten eher abwerten. Anlehnend an Gibbs (2012) wird im Folgenden die narrative Erzählstruktur mit Blick auf Gemeinsamkeiten, häufig verwendete Metaphern sowie Mustern in Einzelfallbeschreibungen analysiert. Ziel ist es, herauszuarbeiten, ob Bild-Online seine Leser mit gruppenspezifischer Rhetorik und Erzählungen von sozialstaatlicher (Un‑)Deservingness beeinflusst.

5.2.1 Die „respektierten“ Alten

Die Berichterstattung über die finanzielle Situation der Älteren passt insofern zur Sentiment-Analyse, dass – insbesondere wenn man die Artikel mit beschreibender und eher wertfreier Berichterstattung außen vor lässt – 85 % der Berichte eindrücklich auf die schwierige Lage der Älteren hindeutet und das Mitgefühl der Leser für die Situation Älterer zu aktivieren versucht. Lediglich neunzehn der 255 näher betrachteten Artikel zeichnen ein eher positives Bild der (materiellen) Lebenssituation der Älteren. Diese bedienen entweder Botschaften wie „den Rentnern geht es so gut wie nie“ oder sie spielen über die „Gekniffenen“ (die jüngere Generation) auf einen möglichen Generationenkonflikt bei der Finanzierung der Renten an.

Gegenüber den wenigen Artikeln, die eher eine positive Lebenssituation der Älteren beschreiben, gibt es ganze 167 Berichte, welche auf die steigende Altersarmut aufmerksam machen. Mehrheitlich lässt sich die Berichterstattung in eher beschreibende Artikel einsortieren, die jedoch eine implizite oder explizite Wertung in dem Sinne enthalten, dass „die Situation immer schlimmer“ wird. Neben den eher beschreibenden Artikeln gibt es eine Vielzahl an detaillierten Geschichten über die Schicksale armer älterer Menschen. Die Protagonisten werden mit Klarnamen portraitiert. Die emotionale Sprache deckt sich mit dem postulierten Ziel, „aus Fakten Gefühle“ zu machen, indem „Tatsachen als menschliche Geschichten“ erzählt werden. Praktisch alle Beschreibungen lassen sich unter ein Narrativ in Richtung „Jahrzehntelang geschuftet und trotzdem reicht die Rente nicht!“ fassen: „45 Jahre ehrliche Arbeit“. „Und trotzdem muss [die Rentnerin] (70) jeden Cent umdrehen: ‚Ich gehe oft zur ‚Tafel‘, kaufe Kosmetik bei Aldi‘. Bei Douglas war sie noch nie. [Die Rentnerin] weinte, die Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie von ihrem Schicksal erzählte. ‚Dabei würde ich gerne wissen, wie es da aussieht und wie es da riecht‘“.

Zunehmend spielen bei den Artikeln auch die steigenden Wohnkosten eine Rolle, beispielsweise bei einer Witwe, die „33 Jahre geschuftet hat“ und der nach einer „saftigen Mieterhöhung“ droht, aus ihrer vertrauten Umgebung wegziehen zu müssen. Da sich dem Artikel ebenfalls entnehmen lässt, dass es sich um eine 100 qm Wohnung in Großstadtlage handelt, ist die Situation normativ möglicherweise nicht so einfach zu beurteilen.

Bei der Beschreibung der Schicksale geht es mehrheitlich um Frauen, die „jahrzehntelang jeden Morgen zur Arbeit“ gegangen sind, nebenher oder zwischenzeitlich Kinder großgezogen haben, nun „bei der Tafel um Nahrung bitten müssen“ und sich für ihre Situation „schämen“. Teilweise sind die Beschreibungen der Schicksale in die Diskussion aktueller Rentenreformvorschläge eingebunden: Bei der Grundrente „gehe [es] um Respekt vor der Lebensleistung“.

Wenn das Wort „Altersarmut“ verwendet wird, handelt es sich in der überwiegenden Mehrheit der identifizierten Berichte weniger um die Beschreibung der aktuellen Situation als um die „drohende Altersarmut“, zu erwartende „Mager-Renten“, „massive Rentenlücken“ und Beschreibungen der großen Sorge, „im Alter nicht mit dem Geld auszukommen“. In einer zukunftsgerichteten Version zahlen die Artikel für die jetzige Erwerbsbevölkerung im niedrigen Lohnbereich und mit geringen Rentenanwartschaften auf ein ähnliches Narrativ ein wie die obigen Artikel, im Sinne, „wer arbeitet, sollte (später) mehr bekommen als bei der Grundsicherung“. Selten wird ein möglicher Generationenkonflikt zwischen der jetzigen und künftigen Finanzierung der Renten thematisiert,Footnote 8 sondern eher die aktuelle Situation mit einer zukünftigen Verschlechterung verbunden, wie beispielsweise in einem Artikel, der die steigende Zahl älterer Menschen bei Tafeln mit der Prognose „Altersarmut wird uns überrollen“ verbindet.

5.2.2 Die „tapferen“ Kranken

Die wenigen Artikel, die nach vorgenommener Filterung die Kategorie Kranke im Sozialstaat abbilden sind entsprechend dem positiven Gesamt-Sentimentwert mehr als doppelt so häufig positiv wie negativ intoniert und fügen sich in die europäische sozialstaatliche Wertehierarchie. Besonders eindrücklich lesen sich die unter dem Slogan „Bild-Kämpft“ veröffentlichten Artikel, die darstellen wie sich die Bild-Redaktion (erfolgreich) für erkrankte Leser einsetzt. Für einen Krebskranken (61) der „kraftraubend mit der Krankenkasse kämpft“ wurde ebenso die zwischenzeitlich unterbrochene Fortzahlung des Krankengeldes erwirkt wie für die „verzweifelte“ Herzinfarktpatientin Nicole E. (45), die zudem ihren Urlaubsanspruch zurückerhält. Auch Karin (60) und Michael H. (66) wurden die über 3000 € für ihre „Traumreise“, die sie aufgrund einer Verletzung nicht antreten konnten, erstattet. Ähnlich intoniert ist die Geschichte über die „tapfere Marie“, die deutsche Meisterin im Paratriathlon, die ein Förderbudget beantragt, um Sportmanagement studieren zu können. Der Landkreis wies die Kosten-Aufstellung zurück und „forderte weitere Bedarfs-Nachweise. WEGEN 20 EURO!“. Die Familie bezeichnet sich selbst als „finanziell und mental“ am Ende. Erst als die Bild-Redaktion sich einschaltet, zeigt sich der Landkreis-Sprecher einsichtig. Die emotionalen Artikel zielen auf Mitgefühl und Solidarität mit den Protagonisten ab und untermauern die Legitimation der Ansprüche.

Hierzu passt auch, dass negativ intonierte Artikel sich nicht auf die Erkrankten selbst als Protagonisten beziehen, sondern vielmehr deren Vulnerabilität beschreiben. So wird beispielsweise eine Anklage beschrieben, nach der ein Vater seinen Sohn um 170.000 € Hilfsgelder „betrügt“, indem er die gezahlten Mittel für sich selbst „kassiert“. Artikel, in denen Kranke selbst unanständiges Verhalten vorgeworfen oder auf illegitime Ansprüche hingewiesen wird, gibt es praktisch keine. Eine Ausnahme stellt „der BILD-Bericht über Gefälligkeits-Krankschreibungen von völlig Gesunden“ dar. Interessanterweise richtet sich jedoch selbst hier die Kritik weniger an diejenigen, die „krankgefeiert [haben], ohne krank gewesen zu sein“. An den Pranger gestellt werden eher die Ärzte: „In neun von zehn Fällen reichte es für eine Krankschreibung aus, dem Arzt ganz offen zu sagen: ‚Ich will blaumachen!‘“

5.2.3 Die „frechen“ Arbeitslosen

Wie der niedrige Gesamt-Sentimentwert bereits andeutet, identifiziert auch die qualitative Auswertung in der Kategorie Arbeitslose mehr als doppelt so viele negative wie positive Artikel. Arbeitslose werden als „Sozialschmarotzer“, „Hartz IV-Schnarcher“, „Hartz-IV Abzocker“, „Hartz-IV-Betrüger“ oder als inkompetent beschrieben („Können Hartz-IV-Empfänger nicht mit Geld umgehen?“). Plakativ für den faulen Arbeitslosen greift die Redaktion regelmäßig auf die Kategorie „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ zurück. Dieser bezieht „seit 36 Jahren Stütze“ und wird mit den Worten zitiert „Wer arbeitet, ist doch dumm“. Deutlich wird eine Linie zwischen der hart arbeitenden Bevölkerung und den müßigen, untätigen Leistungsempfängern gezogen. Immer wieder werden Forderungen rezipiert, die Hartz-IV-Empfängern vorwerfen, diese würden nicht ausreichend zur Gesellschaft beitragen: Besser sollten diese auf „Häufchen-Streife“ (Hundekot beseitigen) gehen, „Schnee schippen“ oder sich als „Ein-Euro-Flut-Schrubber“ (bei Überflutungen) einbringen.

Ähnlich aburteilend fasst eine Bild-Kolumne die Positionierung der Zeitung gegenüber „Hartz-Betrug“ zusammen: „ein Schlag ins Gesicht für jeden ehrlichen Bürger, der morgens um sechs Uhr aufsteht, um zur Arbeit zu fahren!“. Die Vermischung der Themen Sozialleistungsbezug und Kriminalität sind dabei unverkennbar. Besonders negativ liest sich der Artikel, in dem eine „Hartz-IV-Betrügerin“, die „Serbin Natascha M. (30)“, als „Rauschgift Dealerin“ Geld „hinzu“ verdient. Über eine Hartz-IV Empfängerin, die ein Vermögen von 37.000 nicht deklariert hatte, wird geurteilt: „Vorsorge fürs Alter, dreist aus Steuergeldern finanziert“. Auch gibt es zahlreiche Artikel über kriminelle Hartz-IV Bezieher, die mit „illegalen Gruppensex Parties“, als „Puff-Chef“ oder „Zuhälter“ sowie in der organisierten Kriminalität nebenbei Geld verdienen.

Positive Berichte lassen sich in der Kategorie Arbeitslose mit 44 von 315 Artikeln durchaus als Rarität einordnen. Zwar wird die Debatte um die vom Verfassungsgericht angemahnte Erhöhung der Hartz-IV Sätze rezipiert, wobei durchaus auch Forderungen nach einer Verlängerung des Arbeitslosengeldes aufgegriffen werden. Diese Artikel verharren aber zumeist auf der politikbeschreibenden Ebene und argumentieren nicht anhand der sonst so prominenten emotionalen Einzelfallbeispiele. Auch in der Frage, ob Hartz-IV-Empfänger ein Weihnachtsgeld bekommen sollen, wird sichtlich die Gegenseite gestützt, die die entsprechende Forderung abtut und für „völlig naiv“ oder „völligen Quatsch“ hält.

Positiv besetzte, emotional beschriebene Einzelfallbeispiele erzählen insbesondere von hart arbeitenden Hinzuverdienern, die sich trotz niedrigem Mehrverdienst abmühen: „Viele arbeiten, obwohl es sich fast gar nicht lohnt. Sie sind Aufstocker“. Aufstocker schuften „wie die Kölnerin Simone L. (39)“ für einen Zuverdienst von „nur 2,25 € pro Stunde“, müssen dafür vermeintlich aber vor dem Amt „nicht für jeden Pfennig Rechenschaft ablegen“. In diese Erzählung passt auch die Geschichte von „Udo, dem rollenden Wirtschaftswunder“, einem ehemaligen Arbeitslosen, der sich auch von 600 erfolglosen Bewerbungen nicht hat unterkriegen lassen und sich nun erfolgreich selbstständig gemacht hat.

Artikel über Arbeitslose, in denen deren Situation als mitgefühlserregend oder ungerecht beschrieben wird – immerhin liegt die Armutsgefährdungsquote bei 64,3 % – fehlen praktisch gänzlich. Konsequent in diese Richtung gehen die Artikel nur dann, wenn über Hartz-IV-Bezug in Familien mit Kindern berichtet wird („Ich habe keine 251 € fürs Kind“) – dies gilt auch dann, wenn die Artikel vornehmlich Statistiken beschreiben („Die traurige Wahrheit über Armut in Deutschland – 1,7 Mio. Kinder leben von Hartz IV!“).

5.2.4 Die „hochmotivierten“ Geflüchteten und „kassierenden“ „Armutsmigranten“

Bereits die Analyse der Gesamt-Sentimentwerte hat darauf hingedeutet, dass die Berichterstattung der Bild-Zeitung über Zugewanderte im Kontext des Sozialstaats positiver ausfällt als für andere Gruppen und nicht die vermutete Deservingness-Hierarchie widerspiegelt. Dieser Befund ist insofern nachzuvollziehen, da sich die Bild-Berichterstattung im Beobachtungszeitraum in 191 der 220 Artikel mit dem Thema Flüchtlingsmigration auseinandergesetzt hat. Insbesondere die „Willkommenskultur“ in den Jahren 2015 und 2016 wurde durch die Zeitung maßgeblich und medienwirksam mitgetragen: Zu ihrer 25-Jahre-Wiedervereinigungsausgabe titelte sie beispielsweise: „Fluchtpunkt Deutschland – 25 Jahre nach der Wiedervereinigung stehen wir vor einer neuen epochalen Aufgabe. Weil das heutige Deutschland weltoffen, freundlich und hilfsbereit ist“.

In der Unterkategorie Geflüchtete findet sich eine hohe Anzahl an positiv intonierten Berichten, die beispielsweise nachzeichnen, wie Geflüchtete verlorengegangene Portemonnaies und Schecks zurückgebracht haben. Zwischen Juli 2015 und September 2017 sind eine Reihe von Artikeln veröffentlicht, die zum Verwechseln ähnliche Geschichten wiedergeben. Betont wird dabei sowohl die prekäre Lage der aufrichtigen Finder als auch der „Respekt vor soviel Ehrlichkeit“, den die Handlungen dem Leser abnötigen – auch da einige Geflüchtete explizit auf einen Finderlohn verzichten. Durch eine Charakterisierung der Protagonisten als „Kriegsflüchtlinge“, die etwa aus der „Hölle von Homs“ stammen, wird dieser Eindruck noch verstärkt. Wohlwollend und vielfältig beschreibt die Bild-Zeitung auch private Spender oder das Engagement der Wirtschaft für eine verbesserte Integration von Geflüchteten. Unter dem Titel „Wie Flüchtlinge unsere Wirtschaft retten“ werden Geflüchtete als „meist jung und hochmotiviert“ beschrieben.

Dass auch der Bild-Redaktion ihre Rolle im öffentlichen Migrationsdiskurs um Geflüchtete durchaus bewusst ist, zeigt das Beispiel eines Bams-Artikels über eine „zehnköpfige Flüchtlingsfamilie“, die vermeintlich monatlich 7300 € „kassiert“. Nachdem dieser klar negativ wertende Artikel in den sozialen Medien für Furore gesorgt hatte, wurde er rückwirkend umtituliert in „Bekam Flüchtlingsfamilie 7300 € im Monat?“. Zudem wurden zwei weitere, einordnende Meldungen veröffentlicht, die einerseits beschreiben, dass die tatsächliche Auszahlung an die Familie lediglich knapp 3000 € betrug und die sich darüber hinaus entschieden gegen „Hetzer im Netz“ wenden, deren strafrechtliche Verfolgung klar beschrieben und befürwortet wird.

Der Großteil der 30 negativ intonierten Artikel richtet sich zudem nicht gegen die Gruppe der Geflüchteten selbst, sondern vielmehr um Kostenverschwendung beispielsweise bei der Errichtung von Unterkünften („100.000 € für Luxus-Plumpsklos“), die nach der Flüchtlingsmigration der Jahre 2015 und 2016 leer stehen („Stadt beheizt leere Flüchtlingszelte“). Auch der Ärger um die notwendig gewordene Verlegung eines Fußballplatzes aus „Schallschutzgründen“ („Stadt verballert 350.000 € für Bolzplatz-Irrsinn“) richtet sich mehr gegen die Behörden als gegen Geflüchtete. Ähnlich liest sich der Artikel über einen „jungen Syrer“, der „mit Erlaubnis des Regierungspräsidiums Kassel mit einem Taxi von Neustadt über Kassel nach Darmstadt [gefahren ist] – für 400 €!“. Artikel, die Geflüchtete negativ oder als „undeserving“ portraitieren, gibt es wenige.

Wesentlich kritischer fällt die Berichterstattung in unserer Auswahl gegenüber nicht geflüchteten Zugewanderten aus. In den 29 Artikeln werden fast ausschließlich Zugewanderte aus osteuropäischen Ländern wie Bulgarien und Rumänien oder dem Balkan portraitiert. Ganze 22 Berichte aus dieser Unterkategorie lassen sich als eindeutig negativ einordnen. Die Protagonisten werden hier pauschal als „Armutszuwanderer“ titulieret. Besonders negativ intoniert sind zudem Artikel, die sich mit „Sozialmissbrauch“ beschäftigen („Organisierter Betrug bei unserem Kindergeld“). Hierzu greift die Zeitung auf Einzelfallbeispiele wie den Bulgaren „Ricky“ zurück, der aufgrund der hohen Sozialleistungen befindet: „Deshalb ist Deutschland für mich das beste Land“. „Die Politik tut nichts! Gar nichts!“ ist eine „bittere [Bild-]Wahrheit“ zu diesem Themenkomplex. Befüttert werden die Artikel mit den Zitaten etablierter Politiker wie dem damaligen SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, der wie folgt zitiert wird: „Es gebe in manchen deutschen Großstädten ganze Straßenzüge mit Schrottimmobilien, in denen Migranten nur aus einem Grund wohnten:‚Weil sie für ihre Kinder, die gar nicht in Deutschland leben, Kindergeld auf deutschem Niveau beziehen‘.“ In einem weiteren Artikel sinniert der Bayerische Innenminister Joachim Herrmann über die sozialstaatlichen Ansprüche von Immigranten aus dem Balkan: „Wir müssen uns fragen, ob sich der deutsche Sozialstaat die jetzige Großzügigkeit noch leisten kann?“ Weitere Artikel, die Betrugsfälle von Aufenthaltstiteln thematisieren, reihen sich mit einer ähnlich saloppen Sprache in die obigen Beschreibungen ein: So wird der Gemüsehändler Mehmet T., dem vorgeworfen wird, sich für illegale Aufenthaltsgenehmigungen oder Einbürgerungsurkunden bezahlt gelassen zu haben, nur „der freundliche Gurken-Mehmet“ genannt.

Deutlich seriöser lesen sich die prägnanten Berichte, in denen Positivbeispiele angeführt werden. Diese betonen die Bedeutung von Immigranten für die deutsche Wirtschaft und zur Linderung des Fachkräfteengpasses und stellen beispielsweise Zugewanderte vor, deren Unternehmen einen Wirtschaftspreis gewonnen hat. Auf einen dieser nüchtern positiven Artikel kommen jedoch fast fünf negative Artikel, die Ansprüche nicht geflüchteter Ausländer pauschal abwerten.

6 Zusammenfassung und Diskussion

Befragungsdaten offenbaren eine Diskrepanz zwischen der empfundenen Legitimität sozialstaatlicher Ansprüche bedürftiger Gruppen und dem Ausmaß deren tatsächlicher Bedürftigkeit. So werden Arbeitslose und Menschen mit Migrationserfahrung ganz im Sinne eines rechten „Wohlfahrtspopulismus“ (Koster et al. 2013), dem auch breite Teile der AfD anhängen (Stahl 2019), als wesentlich weniger „deserving“ empfunden – obwohl sie eine deutlich höhere Armutsgefährdung aufweisen – als Rentner oder erwerbstätige Bevölkerungsgruppen (Goerres et al. 2018).

Der vorliegende Artikel geht der Frage nach, inwiefern diese Entkoppelung von Bedürftigkeit und wahrgenommener Legitimität durch die Verwendung einer zwar subjektivierenden aber doch konsistenten Erzählstruktur im öffentlichen Diskurs verstärkt wird. Eine quantitative Sentiment-Analyse von 838 Bild-Online Artikeln mit Ungleichheits- oder Armutsbezug zeigt, dass Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung die Wertehierarchie des Sozialstaates für die Gruppen Alte, Kranke und Arbeitslose in ihren Texten weitgehend widerspiegelt und so ihrer selbsterklärten Rolle als „Seismograf der deutschen Befindlichkeiten“ (BILDblog 2008) gerecht wird. Eine bemerkenswerte Ambivalenz zeigt sich bei der Analyse von Artikeln, die sozialstaatliche Fragen im Kontext der Zuwanderung nach Deutschland diskutieren. In Zeiten der starken Fluchtmigration thematisiert der Großteil dieser Artikel Geflüchtete und deren Situation, Verhalten und Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft und den Wohlfahrtsstaat. Auf den ersten Blick mag es der Wertehierarchie zu widersprechen scheinen, dass Berichte über Geflüchtete besonders positiv intoniert sind und die Protagonisten als durchweg legitim bedürftig portraitiert werden. Es ist daher bedeutsam zu erwähnen, dass (Kriegs‑)Geflüchtete eine besondere Gruppe innerhalb der Wertehierarchie darstellen. Obwohl die breite Mehrzahl der deutschen diese Zuwanderungsgruppe als Risiko für den Sozialstaat betrachtet und Restriktionen bei der Beschäftigungsaufnahme sowie Vorrangprüfungen die Erwerbschancen deutlich mindern, wird die Zuwanderung von Geflüchteten doch wesentlich stärker begrüßt als die von „Wirtschaftsmigranten“, die – wenn aus der EU stammend – unmittelbar einer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Artikel über letztere Gruppe nutzen eine wesentlich kritischere Wortwahl als solche, die Geflüchtete im Sozialstaat portraitieren. Der Vorwurf, die Bild-Zeitung sei eine „Vorfeldorganisation der AfD“ (Salmen 2018), die etwa durchweg wohlfahrtschauvinistische Narrative in die Bevölkerung trägt, lässt sich auf Basis der analysierten Artikel mit Blick auf die Gruppe der Geflüchteten im Beobachtungszeitraum zwar nicht bestätigen. Hinsichtlich (Langzeit‑)Arbeitsloser sowie Immigranten aus Osteuropa hingegen werden die weit über die AfD-Anhängerschaft geteilten abwertenden Narrativ hingegen potenziell verstärkt.

Die qualitative Textanalyse bestätigt viele Befunde der Sentimentanalyse und zeigt, dass die Bild-Zeitung deutlich ihrem Anspruch folgt, aus Fakten Gefühle zu machen, einzelfallbezogen und hoch emotionalisierend. Mit Blick auf bestimmte Themenfelder stellt zumindest die Bild-Zeitung ein Gegenbeispiel dar, dass die mediale Berichterstattung zu Armut und Prekariat an emotionalen Einzelfallbeispielen vermissen ließe (Smith Ochoa 2019). Beinahe durchweg stärkt sie dabei ein Narrativ der Leistungsgerechtigkeit, nach dem diejenigen, die sich anstrengen, „mehr“ haben (sollten) als diejenigen, die sich augenscheinlich nicht anstrengen – letztere werden hingegen schnell despektierlich als „freche“ „Sozialschmarotzer“ abgetan. Altersarmut wird gerade dann in besonderem Maße als ungerecht dargestellt, wenn die Betroffenen viele Jahre „hart“ gearbeitet haben. Als besonders interessant erweist sich die ambivalente Art und Weise wie über Zugewanderte berichtet wird. Auf der einen Seite stehen die Geflüchteten, die trotz hoher individueller wie institutioneller Hürden zur Erwerbsintegration als „hochmotiviert“ und „ehrlich“ dargestellt werden. Insbesondere die Einzelfallbeschreibungen dieser Artikel sind fast durchweg positiv intoniert; Kritik wird praktisch exklusiv gegenüber Dritten oder den entstehenden Kosten formuliert. Auf der anderen Seite werden „Armutsmigranten“ wohlfahrtschauvinistisch diffamiert, die vermeintlich nach Deutschland kommen, um sozialstaatliche Leistungen „auszunutzen“. Im betrachteten Zeitraum konzentrieren sich dieserart negative Berichte auf Zugewanderte aus Bulgarien und Rumänien, die ganz am unteren Ende der Bild-Online Wertehierarchie eingeordnet werden. Die qualitative Auswertung deckt somit noch deutlichere Unterschiede in der Deservingness Darstellung von geflüchteten und nicht geflüchteten Migranten auf. Besonders abwertend werden Immigranten aus Osteuropa portraitiert, wobei allerdings auf die grundsätzlich geringe Anzahl an Artikeln verwiesen werden muss. Dabei knüpft die Bild-Zeitung in der Stigmatisierung von Arbeitslosen an die bekannten Kampagnen gegen „Florida-Rolf“ im Jahr 2003 und Karibik-Klaus im Jahr 2006 an. Weder die Umsetzung der Agenda-Reformen noch der historische Abbau der Arbeitslosigkeit haben etwas an den eher abwertenden Erzählungen gegenüber Arbeitslosen verändert. Die Bild-Zeitung bleibt ihrer „wohlfahrtspopulistischen“ (Koster et al. 2013) Erzählung mit Blick auf vermeintlich selbstverschuldete arbeitslose Menschen treu. Offen für die weitere Forschung bleibt, ob die sehr emotionalen und einzelfallbezogenen Darstellungen möglicherweise die empirisch beobachteten substanziellen Überschätzungen der Arbeitslosigkeit (Diermeier und Niehues 2019) und die Fehleinschätzungen von Armutsrisiken über den Lebenszyklus begünstigen.Footnote 9 Eindeutig zeigt sich – mit der erklärbaren Ausnahme der Geflüchteten – wie die Bild-Berichterstattung der verbreitete Wertehierarchie ein Sprachrohr bietet.

Die Politik steht mit der auch durch die Bild-Zeitung geförderten Stimmung in der Bevölkerung vor einer großen Herausforderung, läuft sie doch Gefahr, politische Vorhaben zu begünstigen, durch die einige vulnerable Gruppen noch weiter abgehängt werden könnten. Die Narrative fördern vor allem Vorstöße, die Leistungsgerechtigkeit und Alterssicherung kombinieren und unterstreichen damit die Popularität aktueller sozialpolitischer Alterssicherungsreformen wie beispielsweise der Mütterrente, der Rente mit 63 sowie der Grundrente. Mit dem Versprechen „wer hart arbeitet soll mehr haben“ lässt sich auch die Umsetzung des Mindestlohns sowie Diskussionen um die Verlängerung des Arbeitslosengelds I begründen – sozialpolitisch motivierte Reformen und Reformvorschläge, die Menschen in Arbeit gegenüber Arbeitslosen belohnen. Die in den Debatten dominierenden Narrative sowie die damit einhergehenden Reformen gehen zum einen mit dem Risiko einher, eine „fleißige“ in-Group von einer „faulen“ out-Group abzuspalten, die damit einer noch größeren Stigmatisierung ausgesetzt wird. Da die genannten Reformen nicht vorrangig am Kriterium der Bedürftigkeit ausgerichtet sind, eignen sie sich ebenso nur bedingt, um zielgenau Niedrigeinkommensrisiken und soziale Unterschiede zu reduzieren.