„Wie sollte sich die Politikwissenschaft an deutschen Universitäten in den nächsten fünf Jahren in Lehre und Forschung entwickeln?“ Viele Themen wären es wert, unter dieser Frage diskutiert zu werden: Karriereanreize, Publikationsstrategien und ihre Folgen für die Wissenschaft, Begutachtungsprozesse bei Zeitschriften und Drittmitteln, Nichtpublizierbarkeit empirischer Nichtergebnisse, Probleme von wissenschaftlichen Stellen und deren Prekarität, die anhaltende Diskussion zwischen Kausalisten und Hermeneutikern oder zwischen empirisch-analytischen, postpositivistischen und dekonstruierenden Denkweisen, Big Data und Computational Social Science usw. Alledem werde ich diesen Text nicht widmen. Ich werde mit einer Beobachtung beginnen, die viele wahrscheinlich ähnlich machen, und davon ausgehend eine Vorstellung über wünschenswerte Entwicklungen formulieren.

Schauen wir auf die internationale Politikwissenschaft, dann sehen wir ein hochdifferenziertes Fach. Dass der Prozess der Ausdifferenzierung sich fortsetzen dürfte, mache ich an mindestens vier Ursachen fest:

  1. 1.

    einer sich weiter differenzierenden Welt, die auch für die Politikwissenschaft immer neue Betätigungsfelder eröffnet,

  2. 2.

    Theoriegebäuden, die sich bis in ihre epistemologischen Wurzeln unterscheiden,

  3. 3.

    einem immer feiner ziselierten Methodenapparat,

  4. 4.

    einer inneren Dynamik der Wissenschaft, die Spezialisierung fordert und massiv vorantreibt.

Das alles führt zu einer abnehmenden Fähigkeit in der Community, die Forschungsthemen von Kolleginnen und Kollegen noch zu kennen oder gar im Detail zu verstehen. Es hat außerdem das Potenzial, die praktische Relevanz und die Sichtbarkeit des Faches nach außen infrage zu stellen.

Gleichzeitig gibt es, zumindest in Deutschland, einen großen Studierendenzulauf, also ein großes Interesse am Fach, oder zumindest an der systematischen Auseinandersetzung mit Politik. Dieses Interesse trifft gegenwärtig vielerorts auf ein Studium, das vor allem auf Wissenschaft fokussiert, aber in der gelebten Gestalt nur begrenzt die Gelegenheit bietet, die großen Fragen zu bearbeiten, die unsere Zeit uns aufdrängt, und die unsere Studierenden so gern bearbeiten möchten. Dabei leben wir in einer Zeit, die das Reflektionspotenzial, das Sozialwissenschaften anbieten, dringend braucht.

Wie schaffen wir es nun, das Fach angesichts der auseinandertreibenden Kräfte zusammenzuhalten ohne dabei die Differenzierung zu verlieren? Ein Feld, das nach meiner Meinung geeignet ist, diese Integrationskraft zu entfalten, ist die Lehre. Sie kann der Tendenz zu immer feinerer inhaltlicher Differenzierung ein vereinendes Moment entgegensetzen, denn in der Lehre müssen wir die übergreifenden Grundfragen und -probleme des Faches bearbeiten, die Fragen von Macht und Herrschaft und vom Wechselspiel individueller Handlungsweisen und politischer Institutionen bei allgemeinverbindlichen Entscheidungen. In der Lehre können wir die „großen Fragen“ bearbeiten und in der Lehre treten wir als professionalisierte PolitikwissenschaftlerInnen am häufigsten mit der Außenwelt in Kontakt, auch wenn wir diese spezielle Außenwelt, unsere Studierenden, dabei immer mehr zur Innenwelt machen (oder das zumindest versuchen).

Die Lehre kann außerdem ein zentrales Mittel zur Erhaltung und Vermehrung der praktischen Relevanz des Faches sein. Wir müssen dazu zuallererst PolitikwissenschaftlerInnen ausbilden, die politikwissenschaftliche Erkenntnisse auch dann noch nachfragen, wenn sie die Universität verlassen haben. Damit das passiert, müssen sie, so meine feste Überzeugung, schon im Studium gelernt haben, dass Politikwissenschaft auch zu konkreten Problemen des Alltags sprechen kann. Vor dem Hintergrund dieser Idee geht der massive Fokus auf Wissenschaft als Beruf, den vor allem viele Masterprogramme haben, meines Erachtens fehl. Wir brauchen mehr konkrete Problem- und Anwendungsorientierung in der Lehre. Dabei können gerade auch lokale Fragen sowie Probleme örtlicher Gruppen und Organisationen zu Lernorten werden, an denen gesellschaftliche Praxis erforscht und sozialwissenschaftliche Expertise gleichzeitig entwickelt und eingebracht werden kann.Footnote 1 Das zu sagen ist keine Absage an komplexe Theorien und fortgeschrittene Methoden. Im Gegenteil: Die Klarheit des Gedankens, der Wille und die Fähigkeit, das eigene Verständnis eines Begriffes, einer Aussage oder eine Theorie zu verteidigen oder die Ergebnisse eines empirischen Projektes zu erklären, ist nicht nur gut für die lokale Gemeinschaft, diese Fähigkeiten sind auch gut für die Wissenschaft. Die Frage etwa, ob und wie man obdachlose Menschen wieder in „normale“ Wohnungen bringen kann und wie darauf Mieter und Vermieter reagieren, erfordert ein sozialwissenschaftliches Verständnis davon, was es bedeutet, ohne Obdach und ohne den Schutz der staatlichen Sozialsysteme zu sein. Es fordert zu wissen, was diese Sozialsysteme sind, woher sie kommen, wie sie funktionieren und, damit in die abstrakten Höhen der politischen Theorie vordringend, welche Vorstellungen von Gerechtigkeit und Gleichheit ihnen zugrunde liegen. Es erfordert außerdem die Fähigkeit, geeignete InterviewpartnerInnen zu finden und Gespräche so zu führen, dass dabei relevantes Wissen gewonnen werden kann. Die Studierenden brauchen also gerade für die praktische Anwendung theoretisches Wissen, die Fähigkeit, sich mit Konzepten auseinanderzusetzen und diese zu verstehen, genauso wie die Fähigkeit, empirische Methoden gezielt auszuwählen und zu nutzen. Man kann folglich sehr wohl mit Akteuren „vor Ort“ zusammenarbeiten, „community based research“ (Kapucu 2016) betreiben, und dabei gleichzeitig konzeptionell und methodisch fortgeschritten arbeiten.

Ich denke, dass die Lehre ein Ort ist, an dem das in der Forschung auseinanderstrebende Fach als Einheit agieren und sichtbar bleiben kann. Ich bin überzeugt, dass ein wichtiges Element zur Erreichung dieses Ziels die aktive Auseinandersetzung mit Problemen des geografischen Nahraumes ist. Bei dieser Auseinandersetzung können wir uns nicht nur als Reflektionsinstanz beweisen, sondern auch zeigen, dass die Gesellschaft etwas davon hat, sich eine Politikwissenschaft als Forschungsfeld und Studienfach zu leisten.