Einleitung

Psychisch kranke Menschen, die zusätzlich an einer körperlichen Erkrankung leiden oder zuvorderst körperliche Symptome präsentieren, werden von Hausärzten und/oder auf somatischen Abteilungen in Allgemeinkrankenhäusern behandelt. So ist seit langem bekannt, dass bei ca. 25 % der hausärztlich behandelten Patienten eine psychische Störung vorliegt, entsprechende Raten psychischer Komorbidität im Allgemeinkrankenhaus sind noch höher, wobei Anpassungsstörungen, mit Alkoholproblemen verbundene Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz oder bei deliranten Störungen im Rahmen einer Demenz sowie somatoforme Störungen im Vordergrund stehen [1, 2]. Die Mehrzahl der Patienten mit psychischen Störungen sucht dabei zunächst, nicht zuletzt aufgrund eines möglicherweise jahrelangen bestehenden Vertrauensverhältnisses, den Hausarzt auf oder wird im Allgemeinkrankenhaus einem Konsiliarpsychiater vorgestellt [3, 4]. Auch wenn es bezogen auf die deutsprachigen Länder bislang erst in der Schweiz zur formalen Anerkennung der Konsiliar-Liaisonpsychiatrie als Subdisziplin des psychiatrischen Fachgebiets gekommen ist [5], so zeigt sich in allen Ländern eine vermehrte Beschäftigung mit diesem Arbeitsbereich der Psychiatrie. So wurde etwa in Deutschland von der DGPPN ein Zertifikat Konsiliar-Liaisonpsychiatrie und Psychosomatik ins Leben gerufen [6], in Österreich wurde über die erfreuliche Entwicklung der Akzeptanz von psychiatrischen Konsiliardiensten berichtet [7, 8], einschlägige Lehrbuchartikel [9, 10] und wissenschaftliche Publikationen [1113] liegen vor. Und nicht zuletzt speziell für Deutschland ist festzustellen, dass das hier eigenständige Fachgebiet Psychosomatik sich vermehrt mit konsiliar-psychosomatischen Themen beschäftigt: Für die Versorgung von Patienten mit somato-psychischen Erkrankungen hilfreiche Leitlinien wurden und werden entwickelt, z. B. die S2-Leitlinie Diabetologie [14] und die S3-Leitlinie Psychoonkologie [15]. Trotz dieser erfreulichen Entwicklungen zeigt sich, dass einzelne Bereiche, wie z. B. der Umgang mit Demenzpatienten im Allgemeinkrankenhaus, die Kooperation von Hausärzten mit Konsiliarpsychiatern und der Umgang mit (somato-) psychisch kranken Patienten in den interdisziplinären Notaufnahmen der Allgemeinkrankenhäuser noch weiterentwickelt werden sollten [16].

Delir bei Demenz – ein Paradigma für eine biopsychosoziale Erkrankung?

Die steigende Zahl hochbetagter Patienten in den Allgemeinkrankenhäusern führt zu einer Zunahme von krankheitsbedingten Verhaltensauffälligkeiten bei dieser Patientengruppe und zwingt die Krankenhäuser, sich mit „dem alten Patienten im stationären Bereich als Normalfall“ zu beschäftigen [17]. Die Angehörigenverbände haben auf diese Notwendigkeit schon lange hingewiesen [18], aber auch vonseiten der Ärzteschaft und der Krankenpflegekräfte nehmen die Initiativen zu, sich der hieraus resultierenden Problematik anzunehmen [1921]. Dennoch ist es immer noch vielfach so, dass Demenz, mit ca. 10 % eine häufige Nebendiagnose, in vielen Krankenhäusern gar nicht erfasst wird [22]. Demenzkranke Patienten verursachen nicht selten auf den Stationen Spannungen im Gesamtkollektiv der Behandelnden mit hieraus resultierenden Wünschen nach Verlegung in psychiatrische Abteilungen („auf eine geschlossene Station“), da solche Patienten „in der Somatik nicht führbar“ seien (nach unserer eigenen Erfahrung hat sich in dieser Hinsicht seit der Studie von Delius et al. 1993 [23] nicht allzu viel geändert). Wir wissen seit vielen Jahren was bei Diagnostik und Behandlung von Delirien (bei Demenz) getan werden kann, leider hat sich diesbezüglich in der klinischen Praxis noch viel zu wenig bewegt. So ist es auch wenig verwunderlich, wenn sich, überspitzt formuliert, die auf über 600 Seiten bewerteten Vorschläge in der Leitlinie zum Delir des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) pointiert zusammenfassen lassen in der simplen Aufforderung: „Dran denken! Think Delirium!“ [24]. Dieses „Dran denken!“ bedarf nun aber eines „Kümmerers“ und es liegt nahe, in dieser Rolle den Konsiliarpsychiater zu sehen, da ja gerade die Diagnostik und Therapie der im Rahmen eines Delirs üblicherweise akut verhaltensauffällig gewordenen Patienten immer schon zu seinen Hauptaufgaben gehört hat [9, 25, 26].

Auch wenn Arbeiten zum Thema Delir aus anderen Bereichen der Medizin zunehmen [27, 28], dürfte doch Übereinkunft darin bestehen, dass Konsiliarpsychiater und Geriater über die meiste Erfahrung im Umgang mit diesem Krankheitsbild verfügen (vgl. [2931]). Abgesehen von der fachlichen Kompetenz, die jeder konsiliarisch tätige Psychiater unmittelbar beisteuern kann („Feuerwehrfunktion des Konsiliarpsychiaters“), muß es nun allerdings angesichts der zahlenmäßigen Zunahme dieses Krankheitsbildes im Allgemeinkrankenhaus darum gehen, wie dieses Wissen großflächig den auf den somatischen Stationen tätigen Berufsgruppen weitervermittelt werden kann. Hierbei ist vor allem an das (somatische) Krankenpflegepersonal zu denken, da dieses zwangsläufig rund um die Uhr z. B. Fluktuationen im Bewusstseinszustand von Patienten beobachten kann, die einen wichtigen Hinweis auf die Entwicklung eines Delirs darstellen können. Es geht um die Vermittlung klinisch-diagnostischer Kompetenzen, wobei als wichtigstes Screening-Instrument für delirante Zustände durch das Pflegepersonal die Confusion Assessment Method (CAM) vorgeschlagen wird [32].

Desweiteren ist dann vor allem die Vermittlung und Implementierung von pflegerischen Interventionen in Angriff zu nehmen, die in der Tradition des von Inouye [33] entwickelten Hospital Elderly Life Program (HELP) mit einer Reihe von Interventionen auf nicht-pharmakologischer Basis dazu führen können, Delirien zu verhindern und/oder ihre Verläufe weniger dramatisch zu gestalten. Was hiermit gemeint ist, sei an folgendem Fallbeispiel [34] verdeutlicht:

Fallbeispiel – 84jähriger Mann

  • elektive Aufnahme – ein Tag vor OP

  • sowohl am Aufnahmetag als auch am OP-Tag kein Delir

  • Implantation einer Totalendoprothese (Hüft-TEP)

  • direkt nach der OP nicht delirant

  • am ersten Tag nach der OP zunehmend delirant

→ Hinzuziehung des Delirpflegers

  • diverse Konsile (Diagnose Delir gemischter Ätiologie) und vor allem pflegerische Interventionen

Spezielle Interventionen:

A:Patient wurde mobilisiert zur

• Selbstpflege • zu den Mahlzeiten • zur Vermeidung von Weichlagerung (Antidekubitusmatratze)

B:Sensorik

• Brille • Hörgeräte • angepasste Lichtverhältnisse • persönliche Gegenstände

C:Wunschkost

• Essen als Ritual • Schluckscreening erfolgte

D:Schlafgewohnheiten

• Einreibung – basale Stimulation • warme Milch

E:kognitive Aktivierung und

F:valorierender Umgang erfolgte komplex unter Einbeziehung der Ehefrau

Erfolge:

  • keine Neuroleptika erforderlich

  • keine Weichlagerung

2 Tage später: Patient ist nicht mehr delirant

  • am 10. Tag nach der OP wird Patient in die Reha verlegt

  • Patient läuft mit Rollator.

Die Entwicklung solcher Programme auf den somatischen Stationen von Allgemeinkrankenhäusern kommt langsam in Fahrt (vgl. Beispiele in Basel und Bielefeld [35, 36]): „Multicomponent-Intervention-Programme“ in der Behandlung von deliranten und dementen Patienten können erfolgreich im außeruniversitären Setting implementiert werden [3739]. Den Erfolg von pflegegestützten Interventionen zur postoperativen Delirprophylaxe konnten wir in einer eigenen Studie in unserem Krankenhaus (Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin) in der chirurgischen Abteilung belegen (Kratz et al., eingereicht zur Publikation). Die von uns erzielte Reduktion an deliranten Episoden ging einher mit einer Verringerung der Anforderung von „1:1-Betreuung“, so dass auch der ökonomische Erfolg der Studie Anlass war, nach Aufforderung durch die Geschäftsführung mit der Entwicklung eines „Delir-Demenz-Managements“ für alle somatischen Abteilungen des Krankenhauses zu beginnen. Regelmäßige Schulungen des Krankenpflegepersonals sind allerdings zwingend erforderlich um die einmal gewonnenen Kenntnisse und Fertigkeiten nicht wieder „einschlafen zu lassen“. Der Einsatz von „Delir-Krankenpflegern“, in unserer eigenen Studie von einem erfahrenen (psychiatrischen) Altenpfleger und Diplomgerontologen als Rollenmodell auf der chirurgischen Interventionsstation umgesetzt, zeigt, dass unmittelbares praktisches Lernen an einem Vorbild aus der eigenen Peer-Group sehr hilfreich bei der Umsetzung ist. Flankierende ärztliche Maßnahmen sind das Absetzen überflüssiger Medikamente oder die in den letzten Jahren zunehmend untersuchte präoperative Gabe von Neuroleptika zur Delirprophylaxe bei chirurgischen Patienten. Letztere zeigt derzeit alles in allem einen eher nur dezenten Benefit und kann nicht für einen regelhaften Einsatz bei Risikopatienten empfohlen werden [24, 40, 41].

Mit dem hier beschriebenen Vorgehen wird aber deutlich, dass die Behandlung von deliranten Patienten, abgesehen von Diagnostik und Therapie der organischen Ursachen eines Delirs, nicht nur primär biologischer Natur sein kann (Verabreichung und/oder Absetzen von Medikamenten), sondern wesentlich mit dem auf einer Station gepflegten Umgang mit dieser Klientel zu tun hat, wobei dieser Umgang, wie dargestellt, durch konsequente Orientierung an hinreichend bekannten (pflegerischen) Interventionen verbessert und durch Trainingsprogramme vermittelt werden kann [24, 42]. Je nach Temperament mag man es dabei für erfreulich oder bedauerlich halten, wenn, wie etwa in den kanadischen Leitlinien zum Umgang mit deliranten Patienten, einfache pflegerische Maßnahmen, die vielleicht zum grundsätzlichen Verhaltensrepertoires jedes mit kranken Menschen arbeitenden Professionellen oder auch Laien gehören sollten, nun im Rahmen von Leitlinien in ihrer Wichtigkeit unterstrichen werden müssen, wie das folgende Beispiel zeigt (Box 1)

Box 1 [42]

Part 1 – Back Rub

A five-minute slow-stroke back massage consisting of slow, rhythmic stroking on both sides of the spinous processes from the crown of the head to sacral area, with patient in side-lying position

Part 2 – Warm Drink

Persons choice of either herbal tea or milk

Part 3 – Relaxation Tapes

Including classical music or native sounds played on either a head set or bedside cassette tape player

Zu guter Letzt ist darauf hinzuweisen, dass gerade die Angehörigen eines deliranten Patienten häufig einen hohen Unterstützungsbedarf haben, da sie üblicherweise von der akuten Entwicklung eines zum Teil dramatisch wirkenden Verwirrtheitszustandes völlig überrascht werden und sich sehr schnell die Angst einstellt, der Angehörige würde nunmehr „immer so durcheinander bleiben und für den Rest seines Lebens in einem Altenheim untergebracht werden müssen“. Aber auch viele Patienten erinnern sich, wenn auch bruchstückhaft, an Erlebnisse oder erschreckende Phantasien („Alpträume“) aus der von ihnen durchlebten deliranten Episode und reagieren in der Folgezeit mit Rückzug und Schweigen und der Entwicklung von Schamgefühlen oder auch Ängsten, sich überhaupt wieder in die medizinische Behandlung in einem Krankenhaus zu begeben. Diese Reaktionen sind jedem klinisch tätigen Konsiliarpsychiater und Geriater bekannt. Umso wichtiger war es, dass etwa in den NICE-Leitlinien nunmehr das aktive Thematisieren solcher Reaktionen auf ein Delir, sowohl bei Angehörigen als auch bei Patienten (und hier vor allem bei denjenigen, die bereits ein Delir durchgemacht haben), vorgeschlagen wird und aktiv durch die behandelnden (somatischen) Ärzten, die allerdings ebenfalls in Kenntnissen über delirante Zustände und möglicherweise auch in der einschlägigen Gesprächsführung mit Angehörigen und Risikopatienten geschult werden müssen, erfolgen soll ([24]; vgl. auch [21, S. 3]). Zusammengenommen dürfte sich also aus dem bisher Entwickelten ergeben, warum das Delir nicht nur „biologisch“ konzeptualisiert werden darf, sondern durchaus als ein Paradigma für eine bio-psychosoziale Störung (ohne Fragezeichen!) verstanden werden kann. Es sollte für den psychosomatisch Interessierten in diesem Zusammenhang übrigens durchaus von Interesse sein, dass George Engel, der Begründer des biopsychosozialen Paradigmas, vor beinahe sechs Jahrzehnten bereits in einer elektroenzephalographischen Studie als einer der ersten gerade den biologischen Anteil, nämlich die Störung der hirnelektrischen Aktivität bei diesem komplexen Krankheitsbild untersucht hat [43].

Die Herausforderung, die hochbetagte Patienten zunehmend für die Allgemeinkrankenhäuser darstellen, werden aber von Ärzten, Krankenpflegepersonal und Krankenhausgeschäftsführern allein nicht bewältigt werden können. Abgesehen von der wichtigen Rolle der Angehörigen auf der individuellen Ebene, wo beispielsweise auch an die Möglichkeit des „Rooming-In“ vertrauter Bezugspersonen bei einem dementen Patienten gedacht werden sollte, ist hier an die erfreuliche zunehmende Aktivität der Angehörigenverbände zu denken. So hat etwa die Deutsche Alzheimergesellschaft einen Informationsbogen entwickelt, der einem an Demenz erkrankten Patienten bei der Aufnahme ins Krankenhaus mitgegeben werden sollte, um Ärzte und Krankenpflegepersonal rasch und übersichtlich mit seinen noch vorhandenen Möglichkeiten, aber eben auch den eingeschränkten Coping-Möglichkeiten mit neuen Situationen vertraut zu machen (Abb. 1) [18].

Abb. 1
figure 1

Informationsbogen für Patienten mit einer Demenz bei Aufnahme ins Krankenhaus [18]

Schlussendlich ist Wert darauf zu legen, dass Krankenhausarchitekten und Gesundheitsplaner sich mit Aspekten der für die Versorgung dieser Klientel wichtigen Struktur- und Prozessqualität auseinandersetzen, wie dies zum Beispiel in den Handreichungen für die konsiliarpsychiatrische Praxis aus Großbritannien bereits vor mehr als 10 Jahren vorgeschlagen worden ist (Royal College of Psychiatrists [44]), oder wie dies etwa mit der expliziten Erwähnung der Notwendigkeit einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Konsiliarversorgung von Allgemeinkrankenhäusern im Krankenhausplan 2010 des Landes Berlin vorgenommen wurde [45].

Schnittstelle 1: Hausarzt und Konsiliarpsychiater

Es ist in der konsiliarpsychiatrischen Literatur von jeher beklagt worden, dass bei der Mehrzahl der im Konsildienst gesehenen Patienten vom Konsiliar angeregte weitere Behandlungsmaßnahmen, wie z. B. die Durch- oder Weiterführung einer medikamentösen antidepressiven Therapie, nur in geringem Umfang nach der Entlassung aus dem Krankenhaus umgesetzt werden [Übersicht in 46]. Eine ganze Reihe von Studien, vor allem aus dem angelsächsischen Bereich unter der Perspektive „Collaborative Care“ durchgeführt, hat versucht, Modelle für eine Verbesserung der Kommunikation an dieser Schnittstelle zu entwickeln. Auch wenn die Ergebnisse insgesamt eher ermutigend sind, so hat eine „Übersetzung“ in den klinischen Alltag der Regelversorgung nur selten stattgefunden (ein erfreuliches Beispiel ist etwa das auf der Website IMPACT vorgestellte Modell aus Oregon/USA [47]). Es spricht jedoch nichts dagegen, auch außerhalb von Modellprojekten entsprechend den jeweiligen Gegebenheiten vor Ort bereits jetzt den einen oder anderen Versuch zu starten, die Zusammenarbeit von im Allgemeinkrankenhaus tätigen Konsiliarpsychiatern und Hausärzten zu verbessern.

So haben wir im Rahmen einer Studie über die Kooperation unseres eigenen Konsildienstes mit den Hausärzten des von uns versorgten Berliner Bezirks Lichtenberg unter anderem gefragt, welche Form der Übermittlung psychiatrischer Empfehlungen von den Hausärzten bevorzugt werden. Die Antwort war eindeutig: 70 % wünschten sich den Anruf des Konsiliarpsychiaters zum Zwecke einer kurzen Fallbesprechung [48]. Wir konnten darüber hinaus zeigen, dass die Konkordanz der Hausärzte mit der Empfehlung zur Weiterführung einer antidepressiven Medikation deutlich höher war, wenn ein Telefonat mit dem Konsiliarpsychiater stattgefunden hatte und nicht lediglich eine Empfehlung im Entlassungsbrief notiert worden war. Ebenfalls zeigte sich, dass bei depressiv-verstimmten Patienten in einer telefonisch durchgeführten Nachuntersuchung 6 Wochen nach Entlassung (auf der Grundlage der Hospital Anxiety and Depression Scale [HADS]) die von den Hausärzten nach einem Anruf wie vorgeschlagen weiterbehandelnden depressiven Patienten ein besseres Outcome aufwiesen als die Vergleichsgruppen [48].

Auch für den Einsatz gerontopsychiatrischer Liaisondienste außerhalb des Allgemeinkrankenhauses, also im Bereich der Heimversorgung und generell der ambulanten Versorgung gibt es zunehmend Hinweise, auch im deutschsprachigen Raum, dass hierdurch zum einen vorzeitige Heimunterbringungen und unnötige Krankenhauseinweisungen vermieden werden können; zusätzlich scheint es zu einer deutlichen Verbesserung von Verhaltensauffälligkeiten von demenzkranken Menschen, die in diesen Settings leben, zu kommen, was wiederum mit einer Verbesserung der Situation der Angehörigen und der professionell Pflegenden einhergeht [49, 50].

Schnittstelle 2: Rettungsstelle

In einer kürzlich publizierten Studie über die Inanspruchnahme der Rettungsstelle der medizinischen Universität Graz [51] konnte gezeigt werden, dass – unter biopsychosozialer Perspektive – 14,4 % der untersuchten Patienten zusätzlich zu ihren körperlichen Erkrankungen hinsichtlich einer Reihe von psychosozialen Charakteristika als sehr belastet eingestuft werden konnten. Im Vergleich zu den anderen Patienten hatten sie deutlich öfter in den vergangenen 12 Monaten die Notaufnahme aufgesucht, ihre psychosozialen Probleme waren aber überwiegend nicht dokumentiert worden. Diejenigen wiederum, die eine psychosoziale Intervention erhielten, konnte nicht sicher sein, dass die gemachten Empfehlungen auch adäquat an die weiterbehandelnden Ärzte außerhalb des Krankenhauses kommuniziert wurden [51]. Die Autoren regen an, dass es hilfreich seien könnte, das Pflegepersonal in Rettungsstellen mit der Berücksichtigung und Erhebung psychosozialer Probleme vertraut zu machen, was insbesondere bei der Gruppe der sogenannten „Frequent Utilizer“ ins Auge gefasst werden sollte. Da sich überhaupt Patienten mit psychischen Problemen häufig in Rettungsstellen vorstellen und der Umgang mit ihnen durch das meist nicht spezifisch geschulte Notaufnahmepersonal schwierig ist, sollten auch hier Modelle für eine Verbesserung der Versorgung in Angriff genommen werden. So haben wir, angeregt von entsprechenden Erfahrungen in den englischsprachigen Ländern, vor einigen Jahren in der Rettungsstelle unseres Krankenhauses einen von psychiatrischem Pflegepersonal geführten Psychiatrischen Konsiliardienst eingerichtet. Eine erste Auswertung unserer Erfahrung hat gezeigt, dass dies zu einer Zunahme auf Seiten des somatischen Pflegepersonals der Rettungsstelle an Zufriedenheit und Sicherheit im Umgang und zur Entwicklung von Fertigkeiten in der Versorgung psychisch erkrankter Patienten geführt hat. Offenbar hat auch hier das „Lernen am Rollenmodell einer (psychiatrisch versierten) Pflegekraft“ für das Pflegepersonal der Notaufnahme eine wichtige Rolle gespielt. Die Akzeptanz der niedergelassenen Nervenärzte, Psychiater und Hausärzte mit der Einrichtung dieser krankenpflegegestützten Variante unseres Konsildienstes war gut [52]. Die Einführung dieses Modells wurde durch eine Re-Allokation vorhandener personeller Ressourcen ermöglichst und war nicht mit zusätzlichen (Personal-)Kosten verbunden.

Berufspolitische Aspekte in der Konsiliarpsychiatrie

Die Union Européenne des Médecins Spécialistes (UEMS) hat in einem Statement zur Konsiliar-Liaisonpsychiatrie in Europa [53] folgendes empfohlen (Box 2):

Box 2

Empfehlungen zur Konsiliar-Liaisonpsychiatrie, (Auszüge):

  • Konsiliar-Liaisonpsychiatrie (CL-Psychiatrie) ist ein wichtiger Bestandteil der Psychiatrie und sollte entsprechend gefördert werden.

  • Die Anerkennung der CL-Psychiatrie als Subspezialisierung oder Zusatzbezeichnung innerhalb der Psychiatrie mit eigenen Ausbildungsprogrammen und Zertifizierungen sollte gefördert werden.

  • Angesichts der Zunahme von hochbetagten Patienten mit psychischer Komorbidität im medizinischen Versorgungssystem sollen die Ausbildungsprogramme für Konsiliar-Liaisonpsychiater auch Perspektiven der geriatrischen Psychiatrie umfassen.

  • Leitlinien für die Ausbildung in CL-Psychiatrie sollten definiert werden, ebenso wie die Erfordernisse um Fort- und Weiterbildungskurse in CL-Psychiatrie akkreditieren zu können.

Es ist zu wünschen, dass die nationalen psychiatrischen Organisationen diese Empfehlungen beherzigen.

Ein Vorschlag zur Definition von Praxis, Prozessen und Kompetenzen für Konsiliar-Liaisonpsychiater und Psychosomatiker wurde im Rahmen eines Konsensusstatements der European Association for Consultation Liaison Psychiatry and Psychosomatics (EACLPP) gemeinsam mit der US-amerikanischen Organisation der Konsiliar-Liaisonpsychiater, der Academy of Psychosomatic Medicine (APM), entwickelt [54] und kann allen, die am Aufbau eines CL-Dienstes interessiert sind als Handreichung empfohlen werden. Ein Diskussionsvorschlag, wie sich die in Europa teilweise separat entwickelt habenden Traditionen von Psychiatrie und Psychosomatik im Feld der Konsiliar-Liaisontätigkeit zusammenfinden können, wurde ebenfalls vorgelegt [55, 56].

Beispiele für Aus- und Weiterbildungscurricula sind das Weiterbildungsprogramm des Schweizerischen Instituts für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) [57, 58], das Zertifikat Konsiliar-Liaisonpsychiatrie und Psychosomatik der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) [59], vgl. auch Niklewski et al. [60] sowie das Trainingscurriculum der European Association of Consultation-Liaison Psychiatry and Psychosomatics (EACLPP) [61].

Es sei, wegen des beschränkten Platzes leider nur verkürzt, aber auch darauf hingewiesen, dass im manchmal kritischen und dramatischen Feld der Begegnung von biologischer und somatischer Medizin im Allgemeinkrankenhaus bei den konsiliar-psychiatrisch und -psychotherapeutisch Tätigen die Selbsterfahrung und Selbstreflexion ihrer Aktivitäten unbedingt gefordert und Hilfe bei deren Vermittlung geleistet werden sollte. Gerade hier ist die Berücksichtigung psychodynamischer Perspektiven unabdingbar und der Konsilbereich weist hierin eine lange und fruchtbare Tradition auf [62, 63].

Zusammenfassung und Ausblick

In einer großen europäischen konsiliarpsychiatrischen Studie wurde Anfang der `90iger Jahre festgestellt, dass allenfalls ca. 5 % der dokumentierten CL-Dienste im Sinne eine Liaisonmodells arbeiteten, also mit vertraglich vereinbarter regelhafter Integration in ein somatisches Team in einem speziellen somatischen Behandlungsbereich (für einen Überblick vgl. Diefenbacher [64]). Eine ähnlich groß angelegte Studie ist seither nicht mehr durchgeführt worden; aus der klinischen Erfahrung ergibt sich aber, dass zumindest die Häufigkeit von Liaisonprojekten zugenommen hat, wie es sich etwa an der Integration von psychologischer Kompetenz in Brustzentren zeigt, aber auch in der Entwicklung von Schmerzambulanzen, Palliativbehandlung oder, wie weiter oben ausgeführt, in den Bereichen Rettungsstelle, Kooperation mit Hausärzten und Versorgung von hochbetagten Menschen mit Demenzerkrankungen. Die beim klassischen „Feuerwehr-Modell“ der Konsiliarpsychiatrie notwendig vorhandene Arztzentrierung scheint dabei etwas abzunehmen, wie die Integration von Medizinpsychologen, psychiatrischen Krankenpflegekräften oder auch Sozialarbeitern in etwas breiter aufgestellte, wenn auch vorerst nur locker als funktionelle Gesamtheit definierte konsiliarpsychiatrische Teams zeigt. Die konsiliarpsychiatrisch tätigen Ärzte sollten sich hier nicht scheuen, aktiv auf die genannten nicht-ärztlichen Berufsgruppen zuzugehen und dabei von den in den angelsächsischen Ländern gemachten Erfahrungen zu profitieren, die belegen, dass durch solche interdisziplinären Kooperationen ohne Qualitätsverlust eine größere Effizienz in der Versorgung von somato-psychisch kranken Menschen erzielt werden kann (vgl. [44]). So sollte bei der Planung der ambulanten Weiterversorgung von hochbetagten Patienten mit Demenzerkrankungen, falls nicht ohnehin vorgesehen, vom Konsiliarpsychiater aktiv die Zusammenarbeit mit den Sozialdiensten im Allgemeinkrankenhaus gesucht werden, um überflüssige Parallelbehandlungen bzw. – betreuungen zu vermeiden, Synergieeffekte zu fördern und möglicherweise sogar Krankenhausverweildauern zu verkürzen (Diefenbacher, Publikation in Vorbereitung).

Jede Analyse und Weiterentwicklung der Versorgung von somato-psychisch kranken Patienten im Konsildienst, die häufig einen höheren und komplexen Behandlungs- und Betreuungsbedarf aufweisen, muss, neben den ökonomischen Gesichtspunkten, deren Betrachtung aber alleine nicht ausreichend ist [65], weitere Perspektiven umfassen: Patientenperspektive, Angehörigenperspektive, die Perspektive der Mitarbeiter und schließlich auch die Perspektive der Krankenhausträger, die lernen müssen, dass eine aktiv gestaltete Versorgung dieser komplex kranken Klientel letztlich die Attraktivität des eigenen Krankenhauses nur steigern kann.

Bei der Betrachtung der Patienten-, Angehörigen- und Mitarbeiterperspektive wiederum ist dem wachsenden Anteil von Migranten Rechnung zu tragen [66]. Auch hier können auf lokaler Ebene entsprechend den vorhandenen Gegebenheiten ohne großen Aufwand Projekte entwickelt werden, die zu einer Verbesserung der Versorgung dieser Klientel beitragen können. So haben wir im Berliner Bezirk Lichtenberg, in dem eine verhältnismäßig hohe Zahl vietnamesischer Migranten lebt, eine psychiatrische Ambulanz für Patienten mit vietnamesischem Migrationshintergrund eingerichtet, die sich rasch eines regen Zulaufs erfreut hat [67]. Aus den bisherigen Erfahrungen dieser Ambulanz zeigt sich, dass niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten, verbunden mit einem kultur- und sprachkompetenten Angebot, Wege aufzeigen, verschiedene theoretische Therapieansätze zu integrieren (Kleinman et al. [68]). Eine spannende Frage der nächsten Jahre wird sein, ob und in wieweit durch die von diesen Patienten und ihren Angehörigen mitgebrachten Erklärungsmodelle und Konzepte über körperliche und seelische Krankheit, die ja häufig nicht der in unseren Ländern immer noch vorherrschenden Dichotomie von Körper und Seele entsprechen, auch zu einer Veränderung unserer traditionellen Konzepte von „Psychosomatik“ führen. In einer kanadischen kulturvergleichenden Erhebung zu „asiatischen“ und „westlichen“ Erklärungsmodellen psychischer Störungen, konnte bereits gezeigt werden, dass vietnamesische Migrantinnen westlichen Erklärungsmodellen wie „Stress“ oder dichotomen körperlich physiologischen Ursachen weniger zustimmen und eher holistische bzw. integrative Konzepte von psychischer Gesundheit wählen. Eine geringe Übereinstimmung von professionell psychiatrischen und persönlichen kulturabhängigen Erklärungsmodellen kann die Inanspruchnahme psychiatrischer Hilfe vermindern [69, 70].

In jedem Falle tut ein sektorübergreifendes Denken und Arbeiten sowohl in der klinischen Praxis wie auch bei der Entwicklung von Konzepten not: psychiatrisch-psychotherapeutische Abteilungen im Allgemeinkrankenhaus müssen sich substantieller als dies bislang geschieht, den Problemen stellen, die sich durch den engen Kontakt mit körperlich kranken und psychisch komorbiden Patienten ergeben und können sich nicht auf die Rolle eines „Miniaturirrenasyls“ beschränken [12, 71]. Aber auch die Krankenhäuser insgesamt müssen sich der Zusammenarbeit mit Patienten- und Angehörigenverbänden öffnen und sich als Teil der Gemeinde verstehen, für deren medizinische Versorgung sie zuständig sind. Dies wird sich in den kommenden Jahren besonders am Beispiel des Umgangs mit hochbetagten Menschen mit Demenzerkrankungen zeigen, insofern die mancherorts langsam aber zunehmend aus dem Boden sprießenden Ansätze von „Demenzfreundlichen Kommunen“ nur dann richtig erfolgreich sein werden, wenn sich die zuständigen Krankenhäuser als „Demenzsensible Krankenhäuser innerhalb einer demenzfreundlichen Kommune“ verstehen. Die Rolle des Konsiliarpsychiaters hierbei kann sein, Perspektiven-Verschränkungen zu fördern: Hausarzt-, Rettungsstelle-, demenzsensibles Krankenhaus sind gerade für diese Klientel Schnittstellen von entscheidender Bedeutung, wo der Konsiliarpsychiater seine Position „als Wanderer zwischen den somato-psychischen Welten“ und Agent der Psychiatrie außerhalb der psychiatrischen Versorgung [16] vorteilhaft wird einbringen können.