Batterieelektrische Fahrzeuge erfordern infolge großer und schwerer Energiespeicher und des elektromotorischen Antriebs andere Karosseriekonzepte als die für Verbrennungsmotoren bekannten Bauweisen. Leichtbau und Crashsicherheit sind auch dabei wesentliche Zielkriterien. Für die Umsetzung eines derartigen Karosseriekonzepts verfolgte das Forschungsprojekt Alive unter Koordination der Volkswagen-Konzernforschung die Strategie eines anforderungs- und lastpfadgerechten Werkstoffeinsatzes.

Wirtschaftlich umsetzbarer Leichtbau

Im Rahmen des von der Europäischen Union geförderten Forschungsprojekts Alive (Advanced High Volume Affordable Lightweighting for Future Electric Vehicles) wurde ein Konzept für ein batterieelektrisches Fahrzeug entwickelt und aufgebaut. Priorisierte Zielsetzung des Projekts waren die Gewichtsreduzierungen der Rohkarosserie, Türen, Klappen, Fahrwerkkomponenten und Interieur-Komponenten (Sitze) von 30 bis 40 % sowie die wirtschaftliche Umsetzbarkeit der entstandenen Konzepte in einer Großserienfertigung. Zur Realisierung dieser Ziele wurden verschiedene Leichtbauwerkstoffe und Simulationsverfahren auf Basis der Finite-Elemente-Methode (FEM) weiterentwickelt, Werkstoffkennwerte aufgenommen sowie Fügetechnikmodelle erstellt. Parallel dazu wurde eine Lebenszyklusanalyse durchgeführt. Eine besondere Herausforderung in diesem Projekt bestand im Aufbau von drei Demonstrator-Karosserien, um die in den Crashsimulationen erzielten Ergebnisse an realen Fahrzeugcrashtests zu validieren. Im Alive-Projekt wurde je ein Front-, ein Pfahl- und ein Heckcrash durchgeführt.

Das Projekt wurde von 23 europäischen Partnern, darunter sieben OEMs, sieben Zulieferer sowie fünf Forschungseinrichtungen, von Oktober 2012 bis September 2016 bearbeitet.

Alive war Teil des Seam-Clusters, einem Zusammenschluss mehrerer EU-Projekte, die das übergeordnete Ziel verfolgten, fortschrittliche Fahrzeugstrukturen und moderne Werkstoffe für zukünftige Fahrzeuggenerationen, insbesondere von Elektrofahrzeugen, zu entwickeln. Die Projekte des Seam-Clusters bauen unter anderem auf den bereits erfolgreich abgeschlossenen Projekten Elva [1], SuperLight-Car [2] und SmartBatt [3] auf.

Karosseriekonzept

Die genannten Gewichtsziele sind sehr ambitioniert. Daher wurden zu ihrer Realisierung diverse Multimaterialkonzepte zusammengestellt und bilanziert. Im Ergebnis entstand ein Karosseriekonzept unter Einsatz einer Kombination von unterschiedlichen Aluminiumlegierungen, höchstfesten Stählen und Faserverbundwerkstoffen, Bild 1. Die Hauptlastpfade wurden über hochfeste Aluminium-Extrusionsprofile sowie hochfeste Stähle mit Festigkeiten bis zu 1800 MPa ausgeführt. Der Gewichtsanteil der Aluminiumlegierungen an der Rohkarosserie beträgt etwa 65 %. Das Dach sowie die Heckklappe bestehen aus faserverstärkten Kunststoffen (FVK) und metallischen Verstärkungselementen. Die Integration des Batteriekastens in die Karosserie mit dem dazugehörigen Verschaltungskonzept der Batteriemodule war ein weiterer Schwerpunkt der Entwicklung. Für die Türen wurden Leichtbaukonzepte auf Basis verschiedener im Automobilbau relevanter Aluminiumlegierungsgruppen (5000er, 6000er und 7000er) entwickelt, die eine Massenreduktion von 44 % im Vergleich zum Stand der Technik ermöglichten. Besondere Herausforderungen ergaben sich bei der Gestaltung der Lastableitung im Fall eines Frontcrashs. Diese Ableitung erfolgt mit einem deformierbaren Aluminiummotorträger über die nahezu starren Längsträger aus Stahl mit einer Festigkeit von 1800 MPa nach außen in die Aluminiumschweller. Auch dem Design der Seitenstruktur, die eine Beschädigung der Batterie im Seitencrash verhindert, musste besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

BILD 1
figure 1

Darstellung der Werkstoffverteilung des Alive-Karosseriekonzepts (© Alive)

Fügetechnik

Die fügetechnische Planung im Alive-Projekt fokussierte sich auf eine großserientaugliche Umsetzbarkeit des Konzepts mit möglichst wenigen und kostengünstigen Fügeverfahren. Dies ist insbesondere im Bereich der Werkstoffmischbau-Verbindungen eine anspruchsvolle Aufgabenstellung. In einem ersten Schritt wurden unter Berücksichtigung des Werkstoffkonzepts mehrere Fügetechniken für jede Kombinationsmöglichkeit untersucht. Dabei wurden für das Karosseriekonzept ein priorisiertes Verfahren mit Blick auf eine Serienumsetzbarkeit, ein alternatives Verfahren sowie auch ein prototypisches Verfahren inklusive der jeweils notwendigen Randbedingungen und Prozessgrenzen definiert. Tabelle 1 zeigt beispielhaft eine Auswahl an Fügetechniken für verschiedene Werkstoffkombinationen.

TABELLE 1
figure 6

Fügetechnikauswahl für verschiedene Werkstoffkombinationen (© Alive)

Aufbauend auf dem Karosseriekonzept und den fügetechnischen Vorarbeiten wurde begleitend zum Fahrzeugdesignprozess eine fügetechnische Planung durchgeführt. Die Zusammenbaureihenfolge wurde maßgeblich durch die gewählte Konstruktionslösung im Bereich der A-Säule und der Stirnwand bestimmt. Eine Herausforderung stellten die Verbindungen zwischen der Aluminiumstirnwand und dem Warmformstahl der A-Säule bezüglich der Zugänglichkeit dar. Aus diesem Grund startet der Zusammenbau im Bereich des Vorderwagens mit der Stirnwand und der inneren A-Säule. Diese Baugruppe wird anschließend mit dem zentralen Boden und mit den hinteren Längsträgern verbunden. Im weiteren Schritt wird die Karosserie durch die Bodenbauteile, den Rahmen im Fahrzeugheck und den Dachrahmen geschlossen. Anschließend werden die äußeren Strukturbauteile B-Säule und Vorderwagen hinzugefügt und abschließend die Außenhautbauteile gefügt. Bild 2 zeigt schematisiert die Zusammenbaureihenfolge der Alive-Karosserie.

BILD 2
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Zusammenbaureihenfolge der Alive-Rohkarosserie (© Alive)

Von Beginn an wurden erweiterte Simulationsmethoden erarbeitet, um einehöhere Vorhersagegenauigkeit bei der Berechnung der Karosseriesteifigkeit, Crash- und Betriebsfestigkeit zu erreichen. Aus diesem Grund wurde die Charakterisierung der Verbindungen mitbesonderer Aufmerksamkeit verfolgt.Dazu wurden Verbindungstechniken ausgewählt, die in den Bereichen hoher Belastungen liegen. Im Rahmen dieser Arbeiten wurden von den PartnernRenault, Volkswagen und Benteler Verbindungsproben für die Fügetechniken Fließformschrauben, Aluminiumpunktschweißen, MIG-Schweißen, Widerstandselementschweißen und Strukturkleben hergestellt. Dazu mussten zunächst die jeweiligen Prozessparameter definiert werden, um Versuche zurCharakterisierung der Steifigkeit, der Schwingfestigkeit und der Crashfestigkeit durchführen zu können. Bei der Charakterisierung waren die Partner derKU Leuven, das Fraunhofer LBF Darmstadt und Renault beteiligt. Beispielhaft zeigt Bild 3 die Kraftverformungsverläufe verschiedener Fügetechniken unter Zugscherbelastung. Ergänzend wurde das Versagensverhalten analysiert. Diese Ergebnisse bildeten die Basis zur Beurteilung der Eignung der Verfahren für hochbelastete Zonen und wurden als Eingangsdaten für den Aufbau der Ersatzmodelle für die Simulation verwendet.

BILD 3
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Vergleich der Kraftverformungskurven für verschiedene Verbindungsarten im Zugscherversuch (© Alive)

Durch die Erstellung von virtuellen Verbindungsersatzmodellen für die FEMund deren Daten wurde die Strukturoptimierung der Fahrzeugkarosserie bezüglich der Verbindungen unterstützt. Diese Arbeiten wurden hauptsächlich durch die Partner Renault und Volvo mit jeweils zwei verschiedenen Arten von Ersatzmodellierungen (Volumenelement und Kohäsivzonenelement) durchgeführt.

Eine besondere Aufmerksamkeit erforderten die Mischbauverbindungen im Bereich der Hauptlastpfade. Dort sind die Anbindungen des vorderen Längsträgers aus phs-ultraform 1800 anden Aluminiumschweller sowie auchdie Anbindung der B-Säule ausdem gleichen Stahlwerkstoff an denSchweller und den Aluminiumdachlängsträger zu nennen. Für diese Bereiche wurden die Verfahren Fließformschrauben für Verbindungen mit einseitiger Zugänglichkeit und Widerstandselementschweißen für Verbindungen mitzweiseitiger Zugänglichkeit jeweils in Kombination mit Strukturklebstoff priorisiert. Beide Verfahren zeichnen sich durch hohe Festigkeitskennwerte und hohe Wirtschaftlichkeit aus.

Eine Gegenüberstellung der Maximalfestigkeiten unter Schub- und Normalbelastung aus Versuchen und den Probensimulationen für die beiden Verbindungsarten zur Realisierung von Mischbaukombinationen zeigt Bild 4.

BILD 4
figure 4

Vergleich der Festigkeiten in Versuch und Simulation für die Werkstoffkombination phs-ultraform 1800 mit EN AW6082-T6 (© Benteler)

Insgesamt konnte auf Probenebene eine sehr gute Übereinstimmung des Kraft-Deformationsverhaltens zwischen Versuch und Simulation erreicht werden. Diese Modelle konnten anschließend für die Lastpfadoptimierung und die Anpassung der Konstruktionen der Verbindungsbereiche genutzt werden. Im Rahmen des Alive-Projekts wurden diese Arbeiten nicht nur für die erläuterten Verfahren Fließformschrauben, Widerstandselementschweißen und das Kleben, sondern auch für das Widerstandspunktschweißen und das Lichtbogenschweißen von Aluminium erfolgreich durchgeführt.

Ergänzend zur Adaption bestehender Verbindungstechniken an das Karosseriekonzept wurden im Rahmen des Alive-Projekts Neuentwicklungen vorgenommen. Zum einen wurde ein Verfahren zum punktförmigen Verbinden von verzinktem Kaltformstahlblech mit Aluminium [4] und zum anderen ein Verfahren zum gießtechnischen Fügen von verschiedenen Werkstoffen im Fahrwerkbereich entwickelt [5]. Auf die Darstellung dieser Neuentwicklungen wird im Rahmen dieser Veröffentlichung jedoch verzichtet.

Abgleich der Simulationen auf Gesamtfahrzeugebene

Um die simulativ ausgelegten Konzepte zu überprüfen, wurden im Rahmen des Projekts drei Demonstrator-Karosserien aufgebaut und anschließend durch die fka für ausgewählte Lastfälle Versuche durchgeführt.

Einer der ausgewählten Lastfälle ist der Pfahlaufprall, der in Anlehnung andas Euro-NCAP-Protokoll namens Oblique Pole Side Impact Test Protocol v7.0.2 durchgeführt wurde. Bei diesem Test trifft das Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 32 km/h und einem Winkel von 75° in einer fest definierten Position auf einen starren Pfahl auf. Im Rahmen des im Alive-Projekt durchgeführten Versuchs wurde die Verzögerung des Fahrzeugs gemessen und das Verhalten durch Hochgeschwindigkeitskameras aus drei Perspektiven aufgezeichnet. Ebenfalls wurde ein Laserscanner eingesetzt, umdie Deformation nach dem Versuch zu messen. Diese Versuchsergebnisse wurden anschließend den Simulationsergebnissen gegenübergestellt. Es zeigte sich eine grundsätzlich gute Übereinstimmung des globalen Verhaltens. Auch die Intrusionswerte und die gemessenen Beschleunigungen entsprechen denen aus dem Versuch und belegen die Aussagen der Simulation.

Ebenfalls entspricht das Bruchverhalten der Komponenten im Versuch weitestgehend denen aus der Simulation. Dieses wurde in der Simulation jedoch nicht detailliert berücksichtigt. In Bild 5 ist beispielhaft ein visueller Vergleich des Aufprallbereichs dargestellt. Die auftretenden Deformationen im Versuch entsprechen denen aus der Simulation. Die gesetzten Zielwerte hinsichtlich Restsitzbreite und Schutz der Antriebsbatterie vor Deformation wurden durch die Versuchsergebnisse bestätigt.

BILD 5
figure 5

Deformationsvergleich der Simulation (links) mit dem Versuch (rechts) beim Seitenpfahlaufprall, Draufsicht Tür (© Alive)

Die anderen im Alive-Projekt durchgeführten Gesamtfahrzeugversuche zeichnen ein ähnliches Bild, sodass die virtuell ausgelegten Leichtbaukonzepte hinsichtlich der Crashsicherheit durch die Versuche bestätigt werden konnten.

Insgesamt zeigte sich in der Entwicklung des Karosseriekonzepts ein erheblicher Einfluss des Versagens von Fügeverbindungen auf die Crashsicherheit. Aus diesem Grund wurden die Zug- und Scherkräfte an kritischen Stellen bewertet und hinsichtlich der aus den Komponentenversuchen ermittelten Grenzen ausgelegt. Abschließend wurden die im Konsortium gesetzten Ziele anhand von Gesamtfahrzeugversuchen überprüft. In der Realität und in der Simulation zeigt sich die Fügetechnik als ein Schlüssel für den Erfolg eines Leichtbaukonzepts in Mischbauweise, das Ziele hinsichlich Sicherheit und Kosten erfüllen muss.