Hintergrund

Die durchgeführte Studie, die im vorliegenden Beitrag dargestellt wird, beschäftigt sich mit den Pflegevorstellungen von türkischen bzw. türkisch-stämmigen Migrantinnen im Alter. Die Durchführung erfolgte vor dem Hintergrund, dass ein bedeutender Anteil der Arbeitsmigrantinnen, die in den 1950er bis 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland kamen, nicht bzw. nicht dauerhaft in die Türkei zurückgekehrt ist.

Im Jahr 2013 lebten in Deutschland 1.549.808 Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft, insgesamt knapp 3 Mio. Menschen mit türkischem MigrationshintergrundFootnote 1 [5]. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine homogene Gruppe. Hinsichtlich kultureller, religiöser und ethnischer Zugehörigkeit bestehen bedeutsame interne Unterschiede. Obwohl die türkischen und türkisch-stämmigen Migrantinnen im Vergleich zur Gesamtgesellschaft jünger sind, wird auch diese Bevölkerungsgruppe zunehmend älter. Im Jahr 2013 waren 202.000 Personen mit türkischem Migrationshintergrund über 65 Jahre alt [5]. Insgesamt 567.000 in Deutschland lebende Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft sind zwischen 45 und 55 Jahre sowie 55 bis 65 Jahre alt [5]. Mit steigendem Alter nimmt generell die Pflegewahrscheinlichkeit zu, weshalb auch ältere türkische bzw. türkisch-stämmige Migrantinnen zukünftig in der Pflege einen bedeutenden Anteil darstellen werden [14, 19]. Der allgemeine Gesundheitszustand der Migrantinnen hat sich zudem mit zunehmender Aufenthaltsdauer in Deutschland verschlechtert. Während die Migrantinnen bei ihrer Ankunft in Deutschland noch gesünder als gleichaltrige Deutsche waren, setzen heute altersbedingte Gesundheitsbelastungen und Einschränkungen vielfach in jüngeren Jahren ein als bei Mitbürgerinnen ohne Migrationshintergrund ein. Daher ist in den kommenden Jahren mit einer häufigeren Inanspruchnahme des deutschen Pflegesystems zu rechnen [29]. Betrachtet man Ältere im Status einer Patientin, bildet diese Gruppe generell eine der differenziertesten Bevölkerungsgruppen in Deutschland. Deshalb muss gerade eine patientenorientierte Pflege gehäuft mit unterschiedlichsten Wünschen und Vorstellungen umgehen, speziell auch hinsichtlich der Migrantinnen [11, 25].

Wissenschaftliche Untersuchungen verweisen auf eine geringe Inanspruchnahme angebotener Pflegeleistungen durch Migrantinnen [26]. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist häufig durch sozioökonomische Benachteiligung gegenüber der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund gekennzeichnet. Dies resultiert aus einer deutlich geringeren Bildungsbeteiligung, häufigerer Erwerbslosigkeit, Beschäftigung als Arbeiterinnen und/oder nur geringfügiger Beschäftigung, schlechteren Wohnverhältnissen und schlechterem Gesundheitszustand [5]. Diese sozioökonomische Benachteiligung steht im komplexen Zusammenspiel mit mangelndem Wissen über Leistungsangebote und kulturspezifischen Wertvorstellungen von Altwerden/-sein. Damit verbunden sind ein erschwerter Zugang zu und eine verminderte Nutzung von Pflegeleistungen. Ein weiterer Grund für mangelnde Inanspruchnahme ist ein Defizit des bestehenden Versorgungssystems bezüglich spezifischer Bedürfnisse von Migrantinnen. Trotzdem gilt, dass, wie bei allen anderen Bevölkerungsgruppen, eine große interne Heterogenität auch an Bedürfnissen hinsichtlich der Pflege besteht. Die Sozialisation in mehreren kulturellen Kontexten, die Migrations- und Fremdheitserfahrung, rechtliche Bestimmungen bezüglich des Aufenthaltsstatus, sozioökonomische Benachteiligung etc. sind tendenziell Bedingungen für eine besondere Ausgangslage in der Gesundheitsversorgung [25, 27].

Yilmaz-Aslan arbeitete aus der Analyse von Interviews mit Gesundheitsmediatorinnen (bezüglich Diabetes mellitus) Herausforderungen an die Versorgung älterer Menschen mit türkischem Migrationshintergrund heraus. Zu diesen aktuellen Herausforderungen für das Gesundheitssystem zählte er subjektive Krankheitsvorstellungen, den subjektiven Umgang mit Krankheiten und Faktoren im Zusammenhang mit dem Versorgungssystem einschließlich der Arzt-Patient-Interaktion [29]. Entsprechend sind Hintergrundwissen über ein kulturspezifisches Verständnis von Krankheit für die medizinische Behandlung hilfreich und notwendig. Gleichzeitig dürfen solche generellen Erkenntnisse nicht vor individuelle Bedürfnisse gestellt werden und von einer individuellen Zuwendung ablenken.

Speziell bezüglich der Pflege existiert beispielsweise die Untersuchung der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Bremen „Interkulturelle Öffnung der Altenhilfe“ in den eigenen Einrichtungen. Als größte praktische Herausforderungen wurden sprachliche Barrieren, erhöhter Versorgungsanspruch und höhere Isolationsgefahr bei Migrantinnen aufgezeigt. Mitarbeiterinnen mit deutschem Hintergrund erwähnten Ängste und Unsicherheiten im Umgang mit Migrantinnen. Der Einsatz von Mitarbeiterinnen nichtdeutscher (zumeist türkischer) Herkunft erleichterte den Praxisalltag der Pflegeversorgung durch die Überwindung von Sprachbarrieren, Vermittlung von Wissen bezüglich des Herkunftslandes, Einbringen neuer Ideen für die Versorgung, Anregung der eigenen Reflexion und abwechslungsreicheres Arbeiten. Dadurch konnten Neugier geweckt und Ängste genommen werden. Gleichzeitig ist die Versorgung von Patientinnen mit Migrationshintergrund gerade für diese Mitarbeiterinnen nicht zwangsläufig einfacher. Beispielsweise erwarten manche Angehörige von der Pflegekraft, dass sie gleichsam die Rolle eines pflegenden Familienmitglieds mit entsprechender Verantwortung übernimmt. Andererseits können manche Pflegekräfte auch aufgrund der geringeren gesellschaftlichen Anerkennung als minderwertig betrachtet werden. Hervorgehoben wurden an verschiedenen Stellen, dass keine grundsätzlichen Unterschiede in der Versorgung von Migrantinnen und Nichtmigrantinnen bestehen, jedoch inter-/transkulturelle Kompetenz im Handeln erforderlich ist [1].

Im vorliegenden Beitrag wird unter dem Begriff „inter-/transkulturelle Kompetenz“ das medizinische und pflegerische Handeln der Einzelnen in ihrem Interaktionsfeld mit der Patientin verstanden. Interkulturelle Handlungskompetenz lässt sich dann als die Fähigkeit der Einzelnen definieren, Interaktions- und Kommunikationsweisen, Wertvorstellungen, Probleme etc. von Menschen aus anderen Kulturen erfassen und anerkennen zu können sowie entsprechend darauf zu reagieren [15, 16]. Nur so kann von patientenorientierter Pflege gesprochen werden.

Um eine patientenorientierte Pflege leisten zu können, bedarf es der Verbindung von (generell) notwendiger Pflegeversorgung mit kultureller Sensibilität und mit individuellen Bedürfnissen. Für eine gute Versorgung sollte Entsprechendes vom deutschen Gesundheitssystem gewährleistet sein.

Die Interviews mit türkischen Migrantinnen aus der ersten (und teils zweiten) Einwanderergeneration sollten Aufschluss über die subjektiven Vorstellungen von der Pflege der eigenen Person im Alter geben. Da sich Erwartungen und Vorstellungen aus bereits Erfahrenem entwickeln [27], wurden diese in der durchgeführten Vorstudie im Kontext von Erfahrungen der türkischen Migrantinnen mit dem deutschen Gesundheitssystem sowie dem persönlichen Heimatbezug und Rückkehrwünschen in die Türkei betrachtet. Auf diesem Weg sollte auch dargestellt werden, welche Aspekte die Akzeptanz und Inanspruchnahme von bestehenden ambulanten bzw. stationären Pflegediensten im deutschen bzw. im türkischen Gesundheitssystem beeinflussen. Dabei ermittelte Defizite im Gesundheits- und Pflegeversorgungssystem sollen wegweisend sein für eine verbesserte Orientierung an den Bedürfnissen und Präferenzen von älteren türkischen Migrantinnen und für das weitere Forschungsvorhaben, das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF, Förderkennzeichen 01GY1313) finanziert wird. Die Patientengruppe türkischer Migrantinnen gewinnt im Zuge des demografischen Wandels insbesondere in der Primärversorgung in Deutschland zukünftig an Bedeutung, weshalb sich die Vorstudie auf diese Gruppe fokussiert [25].

Methode

Für die vorliegende Untersuchung wurde ein qualitatives Forschungsdesign gewählt, um die subjektiven Gedanken und Wünsche der Interviewpartnerinnen bestmöglich erheben zu können. Durchgeführt wurde die Vorstudie von einer leitenden Sozialwissenschaftlerin und einer türkisch-sprechenden Interviewerin.

Die interviewten Migrantinnen (n = 13; weiblich = 8, männlich = 5) wurden über die Patientenkartei von 3 Hausarztpraxen in einer baden-württembergischen Großstadt rekrutiert. Auf die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Unabhängigkeit von weiteren medizinischen Behandlungen wurde hingewiesen. Der Kontakt über Arztpraxen war notwendig, da es sich bei älteren türkischen Migrantinnen um eine „Hard-to-reach“ Gruppe handelt, die anderweitig schwierig zu erreichen ist [23]. In die Studie aufgenommen wurden Personen, die mit eigener Migrationserfahrung aus der Türkei nach Deutschland gekommen und mindestens 55 Jahre alt waren. Die Interviewpartnerinnen wiesen eine Aufenthaltsdauer in Deutschland von durchschnittlich 39,4 Jahren auf. Die Terminvereinbarung und das Interview wurden in türkischer Sprache von einer muttersprachlichen Person durchgeführt, die vor der Erhebung von der Sozialwissenschaftlerin in der Interviewführung geschult worden war.

Die Datenerhebung erfolgte mithilfe problemzentrierter Interviews nach Witzel mit Ergänzungen von Scheibelhofer [22, 28]. Diese wurden jeweils auf Tonband dokumentiert und dauerten ca. 60 min. Die Interviews fanden nach Absprache bei den Interviewpartnerinnen zu Hause statt. Es wurde darauf geachtet, dass während des Gesprächs keine andere Person im Raum war, sodass ein störungsfreies, möglichst uneingeschränktes Sprechen möglich war. Die Interviews wurden anschließend transkribiert und übersetzt.

Trotz der Offenheit des Gesprächsverlaufes ermöglicht das problemzentrierte Interview durch die Fokussierung auf eine deduktiv entwickelte Fragestellung (Problemzentrierung), die anhand eines vorab erstellten Interviewleitfadens das Gespräch strukturiert, ein fallvergleichendes Ergebnis. Die einleitend gestellte erzählgenerierende Frage eröffnet die prozesshafte Interviewführung (Prozessorientierung). Den Interviewpartnerinnen wurde dadurch zunächst der Raum geboten, den zu untersuchenden Themenbereich mit dem individuellen Erfahrungs- und Sinnhorizont zu füllen und entsprechend im Erzählen zu strukturieren. Diese narrative Interviewphase verhindert weiterhin, dass sich bereits zu Beginn des Gesprächs ein Frage-Antwort-Spiel entwickelt, das möglicherweise den Themen der Interviewten nicht genügend Erzählraum bietet. Nach- bzw. Verständnisfragen stellte die Interviewerin, als dieser erste Abschnitt beendet war, in der Phase der allgemeinen Sondierung. Anschließend konnten in einer zweiten Nachfragephase (spezifische Sondierung) von der Interviewerin anhand des Leitfadens die noch offen gebliebenen Fragen thematisiert werden. In einer abschließenden Phase wurde durch eine Zusammenfassung der Interviewten die Möglichkeit gegeben, Unklarheiten und Missverständnisse auszuräumen oder bedeutende Inhalte zu betonen. Für die Frage nach Pflegevorstellungen von älteren türkischen Migrantinnen ist ein solcher Gesprächsablauf besonders geeignet, um sensibel in der ersten Phase persönlichen Deutungen von Älterwerden und Alter im Migrationskontext generell Raum zu geben. Das Resultat der so geführten problemzentrierten Interviews beschreibt subjektive Empfindungen und Handlungen innerhalb von größeren Rahmenbedingungen [22] mit der Möglichkeit der Abstraktion auf das Kollektiv, hier der türkischen Migrantinnen. Dieses qualitative Vorgehen bei der Erhebung und Auswertung erlaubt auf diese Weise, soziale Bedürfnisse plausibel und nachvollziehbar zu machen, aber verallgemeinerbare Tendenzen herauszuarbeiten.

Zum problemzentrierten Interview wurden erstens ergänzend die soziodemografischen Daten der interviewten Migrantinnen mithilfe eines Kurzfragebogens erhoben (Gegenstandsorientierung). Zweitens wurde eine separate Frage nach dem persönlichen Heimatbezug gestellt. Dazu wurde eine Likert-Punkteskala, anhand derer die Interviewpartnerinnen von 1 (schwacher Bezug zur Türkei) bis 10 (starker Bezug zur Türkei) angeben konnten, wie stark sie sich der Türkei verbunden fühlen, verwendet.

Die Datenanalyse und -rekonstruktion erfolgte unter Einsatz der Software MAXQDA® gemäß der zusammenfassenden strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring. Bei der Probecodierung von 3 Interviews wurden die Genauigkeit der einzelnen Kategorien, die vorab von den Leitfragen deduktiv abgeleitet worden waren, sowie die Schärfe der Kategoriengrenzen getestet. Induktiv wurden ergänzend Kategorien hinzugefügt, die sich aus den Interviewtexten als bedeutende Inhalte hervorgetan hatten. Diese deduktiv und induktiv entwickelten Kategorien dienten bei der vollständigen Auswertung aller Interviews der inhaltlichen Strukturierung des Materials. Zur Reduzierung umfassender Textpassagen wurden diese zusammenfassend paraphrasiert und gebündelt, wodurch die wesentlichen Textinhalte erhalten bleiben und durch Abstraktion überschaubar gemacht werden [21].

Ergebnisse

Es ergaben sich folgende Analysekategorien: Heimatbezug; Rückkehr-Bleibewunsch; Gesundheitsversorgung (Erfahrungen im und Wissen über das deutsche Gesundheitssystem, Sprache, Finanzierungssystem, Religion, Primärversorger); Pflege (persönliche Pflegevorstellungen, Wissen über Pflegemöglichkeiten, Religion von Pflegepersonal, Finanzierung von Pflege); Beerdigungswunsch/Sterbevorstellung; Ängste; Qualität der Gesundheitsversorgung. Im Folgenden werden die verschiedenen Inhalte unter den Hauptthemen Heimatbezug, Erfahrungen im deutschen und türkischen Gesundheitssystem, Hausärztin und persönliche Pflegevorstellungen zusammenfassend dargestellt.

Heimatbezug

Die interviewten Migrantinnen leben, wie bereits erwähnt, seit durchschnittlich 39,4 Jahren in Deutschland, wobei der kürzeste Zeitraum 30 Jahre und der längste 51 Jahre beträgt. In dieser Zeit haben nach eigener Aussage 9 der 13 Befragten Deutschkenntnisse erworben und nutzen diese im Alltag.

Die Antworten auf die Frage, was für die Interviewpartnerinnen Heimat bedeutet, machen deutlich, dass „Heimat“ nicht als ein konkreter Ort verstanden wird, sondern sich vielmehr abstrakt aus Einflussgrößen wie Aufenthaltsdauer, Wohnverhältnissen, familiäre Bezugspersonen etc. in den beiden Ländern kreiert. In Bezug auf die Türkei und Deutschland ergab sich für beide Länder auf der Likert-Punkteskala ein durchschnittlicher Wert von 7,1 Punkten. Betrachtet man die Ergebnisse separiert für beide Länder, betrug der niedrigste angegebene Wert für Deutschland 5 Punkte und für die Türkei 3 Punkte. Zudem wurden der Türkei in dieser Kategorie 4-mal und Deutschland 3-mal 10 Punkte zugeordnet.

Dauer und Häufigkeit von Besuchen im Herkunftsland Türkei könnten ebenfalls als ein Indikator für den Heimatbezug gesehen werden. Beispielsweise verbringen 4 Interviewpartnerinnen durchschnittlich 6 Monate im Jahr in der Türkei. Dafür ist auch von Einfluss, in welchem Land welche Wohnmöglichkeiten vorhanden sind. Sechs der Befragten besitzen Wohneigentum sowohl in Deutschland als auch in der Türkei, 2 ausschließlich in der Türkei und 4 nur in Deutschland.

Neben strukturellen üben wahrscheinlich emotional-familiäre Bezugspunkte entscheidenden Einfluss auf das Heimatgefühl aus. Mindestens eines der Kinder aller Interviewpartnerinnen lebt ebenfalls in Deutschland; zudem haben 4 Personen weitere Kinder in der Türkei und 2 in einem anderen Land. Kontakt zu Verwandten sowohl in Deutschland als auch in der Türkei haben 7 der befragten Personen, in 5 Fällen ausschließlich zu Verwandten in der Türkei. Mehrheitlich gibt es Freundinnen in der Türkei und in Deutschland, bei 4 der Befragten konzentriert sich der Freundeskreis auf Deutschland, und eine Befragte gab an, nur in der Türkei freundschaftliche Kontakte zu pflegen. Die Mehrheit der freundschaftlichen Kontakte in Deutschland wurde zu anderen Personen mit türkischem Migrationshintergrund angegeben.

Die genannten Aspekte beeinflussen auch die Entscheidung, in welchem Land im Alter langfristig gelebt wird. Zehn Interviewte möchten in Deutschland leben, lediglich 2 wollen in die Türkei zurückkehren. Eine Person würde gerne auch im Alter weiterhin sowohl in Deutschland als auch in der Türkei leben. Gründe, in die Türkei zurückzukehren, sind für die türkischen interviewten Migrantinnen die Lebensqualität in Form von „Atmosphäre“, „nachbarschaftlichem Umfeld“ und „südländischem Klima“:

Ich habe vor meinem Haus (in der Türkei) einen Hektar Garten. Es ist weitläufig und gut zu leben. Hier zu leben ist wie freiwillig im Gefängnis zu sein. (Int 13,53)

Viele der Interviewten sehen in der Türkei ihre kulturelle Heimat, jedoch leben sie nach eigenen Angaben aber bereits zu lange in Deutschland, um wieder in der Türkei heimisch zu werden. Ein verbreitetes Lösungsmuster mit den 2 Bezugspunkten, Türkei als ursprüngliche Heimat – Deutschland als das zweite Heimatland, das sich durch die Kinder und die eigene Aufenthaltsdauer als Lebensmittelpunkt entwickelt hat – umzugehen, ist eine Pendelmentalität. Deutlich wird dies v. a. dadurch, dass 9 der 13 Befragten mindestens einmal im Jahr für längere Phasen in die Türkei reisen. Eine zentrale Einflussgröße ist der derzeitige Wohnort der Kinder, der sich bei der befragten Gruppe überwiegend in Deutschland befindet. Wesentliche Gründe für ein Leben in Deutschland sind folglich der familiäre Zusammenhalt, eine als vergleichsweise besser empfundene Infrastruktur und die lange Aufenthaltsdauer in Deutschland. Auch stellt nach Empfinden der Interviewpartner das gut ausgebaute deutsche Gesundheitssystem einen entscheidenden Grund dafür dar, den Alterswohnsitz primär in Deutschland zu belassen.

Deutsches und türkisches Gesundheitssystem

Assoziationen und Erfahrungen

Einen grundsätzlichen Vergleich des deutschen mit dem türkischen Gesundheitssystem lehnten die Interviewpartnerinnen weitgehend ab, da sie aufgrund ihrer überwiegenden Aufenthaltsdauer in Deutschland die heutige türkische Gesundheitsversorgung kaum bis nicht nutzten, folglich nicht beurteilen könnten. Da jedoch die deutsche Gesundheitsversorgung als ein zentraler Grund genannt wurde, um im Alter in Deutschland zu bleiben, stellt sich die Frage, inwiefern sich die beiden Gesundheitssysteme aus Patientenperspektive voneinander unterscheiden.

Die Personen, die von hier zurück sind, sind nicht zufrieden. Als Erstes wollen sie wegen der Gesundheit nicht zurück. (Int 12,90)

Bei Vergleichen zwischen türkischer und deutscher Gesundheitsversorgung konnten sich die Interviewpartnerinnen – wenn – nur auf länger zurückliegende Erfahrungen oder Berichte von Bekannten beziehen:

Bessere Pflege im Krankenhaus, vielleicht ist es jetzt in der Türkei auch gut, das weiß ich nicht, ich habe es mit früher verglichen. … Jetzt höre ich immer von Freunden, dass alle sehr zufrieden sind. (Int 21,30;53)

Ein entscheidender Vorteil für die Befragten ist die Verständigung in ihrer Muttersprache Türkisch. Gute Versorgungsleistungen erbringen in der Türkei ihrer Meinung nach überwiegend private Ärztinnen, die aber mit höheren Kosten verbunden und damit nicht für alle zugänglich sind:

In der Türkei. Du weißt, wenn Du Geld hast, ist alles leicht. (Int 14,80)

Dieses Zitat verweist auf eine soziale Ungleichheit im Versorgungssystem, die durch den sozioökonomischen Status bedingt ist – sowohl in der Türkei als auch in Deutschland – und mit einer strukturellen sozialen Ungleichheit bezüglich des Versorgungszugangs gekoppelt ist.

Ein struktureller Versorgungsaspekt ist das Vorhandensein von Krankenhäusern nahe dem Wohnort. Nur dann weiten sich sozioökonomische Nachteile nicht noch mehr aus, beispielsweise durch unbezahlbare Transportkosten. Ein weiterer struktureller Ungleichheitsfaktor, der zum Tragen kommt, ist die nichtflächendeckende fachärztliche Versorgung. Dies betrifft im Speziellen die allgemeinmedizinische Versorgung.

Die Ärztinnen in den türkischen Krankenhäusern wurden auf der persönlichen Ebene tendenziell als „sehr nett“ (Int 13,126; Int 15,85; Int 23,165) erfahren, wenn auch einzeln als stärker hierarchisch agierend (Int 18,108) und überlastet (Int 14,182) erlebt. Die Interviewpartnerinnen beschrieben auch einen Mangel an einer weiterführenden Begleitung von ihnen als Patientinnen, wenn sie dann Zugang zum Krankenhaus hatten:

Es ist auch so, wenn Du hier im Krankenhaus bist, kümmern sich die Krankenschwestern um Dich. In der Türkei machen sie das nicht. Ich frage mich, was sie antworten werden, wenn Allah sie darüber befragt. Wenn jemand von der Familie da ist, kümmert er sich um den Patienten, sonst kümmert sich keiner um ihn. (Int 17,196)

Die Erfahrung, dass nach einer medizinischen Behandlung in der Türkei Verwandte für die Pflege zuständig sind, macht nachvollziehbarer, warum auch in Deutschland häufige Besuche im Krankenhaus und Begleitung von kranken Angehörigen für viele türkische Migrantinnen selbstverständlich und wichtig sind. In Deutschland wird dies von Ärztinnen teilweise bemängelt, da sich für sie dadurch ein größerer Zeitaufwand ergibt und die Privatsphäre für den Patienten bzw. in Untersuchungssituationen darunter leidet. Dies zeigte sich sowohl in einer Studie mit der Methode Brainwriting und ist in der Literatur beschrieben [10, 17].

Es bestand bei den Interviewpartnerinnen kaum Wissen über Pflegemöglichkeiten und Rechte von zu pflegenden älteren Personen in Deutschland und der Türkei. Fraglich ist, ob die Wahrnehmung einer schlechter organisierten Versorgungsinfrastruktur in der Türkei aus Informationsdefiziten entsteht. Die Entscheidung, aufgrund der (vermeintlich) besseren Gesundheitsversorgung in Deutschland zu bleiben, basierte ebenfalls auf wagen Informationen über die aktuelle Versorgungslage in der Türkei. Die positiven Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung in Deutschland schienen zu überwiegen, selbst wenn teilweise gravierende Mängel von den (älteren) Migrantinnen genannt wurden.

Beispielsweise empfanden die Befragten auch in Deutschland lange Wartezeiten, weiterhin eine unzureichende Aufklärung über Gesundheitsprobleme bzw. die Symptome sowie eine mangelnde oder unzureichende Diagnose durch die Ärztin als problematisch:

Sie sagen nicht, Du hast dieses und dieses Problem. Du musst operiert werden und das muss gewechselt werden. Sagen sie nicht. Sagen mir ja nichts, haben mich ein Jahr leiden lassen und erst dann was gesagt. (Int 15,78)

Das Zitat der Betroffenen verdeutlicht, dass ihr nicht in verständlicher Weise Informationen über ihre Beschwerden vermittelt werden konnten. Für eine gelungene Arzt-Patient-Beziehung sind grundsätzlich kommunikative und inter-/transkulturelle Fähigkeiten unerlässliche Kompetenzen, gerade in der Primärversorgung.

Studien belegen, dass sich Patientinnen in Deutschland überwiegend eine partizipative Entscheidungsfindung wünschen, d. h. aufgrund einer „gleichberechtigten, aktiven Beteiligung von Patient und Arzt auf Basis geteilter Informationen zu einer gemeinsam verantworteten Übereinkunft“ [20] bezüglich nachfolgender medizinischer Behandlung zu kommen. Loh et al. [20] weisen auch darauf hin, dass sie keine diesbezüglichen Unterschiede zwischen Deutschen und Nichtdeutschen festgestellt haben. Eine partizipative Entscheidungsfindung und damit eine möglicherweise erfolgreichere Therapieumsetzung können nur erfolgen, wenn alle benötigten Informationen über Krankheitsbild und Behandlungsmöglichkeiten kommuniziert werden [3].

An dieser Stelle soll noch auf einen weiteren Punkt aufmerksam gemacht werden. Nicht immer kann jede gesundheitliche Belastung direkt und eindeutig diagnostiziert und, aufgrund von kulturellen Werten, direkt kommuniziert werden – beispielsweise, welche Person eine Krebsdiagnose vermittelt oder ob diese übermittelt wird.

Der Wunsch, als gleichberechtigter Mitmensch anerkannt und entsprechend behandelt zu werden, war offensichtlich Kern der Ablehnungserfahrung und des Gefühls, nicht gleichwertig wahrgenommen zu werden:

… die Krankenschwester. Sie ist gegangen und ich habe geklingelt. Sie hat es mir hingelegt und gesagt, mach es selber. Sie ist gekommen und hat gesagt, was gibt es. Rede respektvoll, habe ich gesagt, ich bin auch ein Mensch. (Int 15,182)

Das Gefühl von Diskriminierung resultierte insbesondere, wenn mangelnde Information mit abschätzigem zwischenmenschlichem Verhalten seitens des medizinischen Personals verbunden war:

Ich will kein fremdes Blut. Das kann Aids haben. Das gibt es nicht in Deutschland, meinten sie. Doch gibt es. Bin ich blind oder schwerhörig? Sie haben es in den Nachrichten gezeigt. Der Herr Doktor, wollte sich das nicht gefallen lassen. So was gibt es in Deutschland nicht. Das gibt es nur bei Eurem Land, sagen sie noch. (Int 23,141)

Primärversorgung

Für Pflegeversorgung im Alter kann eine Vertrauensperson im Gesundheitswesen, die sowohl die gesundheitliche als auch die soziale Situation kennt, hilfreich sein. Die häufig langjährige Behandlung durch eine Allgemeinmedizinerin bietet dafür einen guten Ansatzpunkt.

Die allgemeinmedizinische Versorgung in Deutschland, die in dieser Art in der Türkei bislang nicht etabliert ist, wurde von den älteren türkischen Migrantinnen geschätzt. In der Mehrzahl hatten die Patientinnen sehr großes Vertrauen in ihre Hausärztin. Eine gute Hausärztin wird von den Interviewpartnerinnen durch eine persönliche Beziehung zur Patientin, Einfühlsamkeit, verständnisvolle Aufmerksamkeit und, dass sie sich Zeit nimmt, charakterisiert. Religion und Geschlecht spielen gegenüber Erfahrung und Kompetenz eine unwesentliche Rolle bei der Auswahl der Allgemeinmedizinerin, was auch andere Untersuchungen bestätigen [3]. Dies wurde ebenso explizit für die allgemeinmedizinische Versorgung im Pflegefall so genannt.

Nur bei speziellen gynäkologischen Anliegen war das Geschlecht der Behandlerin tendenziell von Einfluss.

Bei Krankenhausaufenthalten wurde es aber als positiv und qualitativ wichtig angesehen, wenn religiöse Vorschriften bezüglich Beten oder Essen respektiert werden und das entsprechende Verständnis dafür seitens des medizinischen Personals vorhanden ist. Im Rahmen längerer Aufenthalte in der Türkei gehen die Befragten – aufgrund des bislang nichtetablierten Hausarztsystems – bei gesundheitlichen Beschwerden direkt ins Krankenhaus, wo ihnen eine persönliche Beziehung zu den behandelnden Ärztinnen fehlt. Weiterhin kritisierten sie die teilweise höheren Kosten, die durch dieses System entstehen. Medikamente, die sie benötigten, ließen sie sich präventiv von der Hausärztin in Deutschland verschreiben, nahmen sie entweder selbst mit in die Türkei oder ließen sie sich beispielsweise von den Kindern bei Besuchen mitbringen. Hierfür wurde auch Misstrauen gegenüber den in der Türkei produzierten deutschen Markenmedikamenten als Grund genannt.

Persönliche Pflegevorstellungen

Der Wunsch, so lange und selbstständig wie möglich zu Hause leben zu können, dominierte die Vorstellung von Pflege im Alter nicht nur bei Migrantinnen. Im Fall einer eintretenden Pflegebedürftigkeit im Alter wünschen sich die interviewten Migrantinnen, dass ihre Kinder bzw. Familienangehörige sich um sie kümmern. Das bedeutet für sie nicht zwangsläufig, die komplette Pflegeleistung zu übernehmen, da sie ihre Kinder und Angehörigen mit ihren eigenen Familien und beruflichen Aktivitäten beschäftigt sahen. Die befragten Migrantinnen wollen daher keine Hilfe von ihnen beanspruchen, die eine finanzielle oder zeitliche Belastung darstellen könnte.

Ich habe mir vorgestellt, wenn ich nicht kann, also. Ich habe meine Pflegeversicherung. Irgendwo in ein Altenheim gehen oder irgendwo von dem Verein oder [unvollendet; Anm. der Autoren]. Von meiner Pflegeversicherung gepflegt werden. Nicht über meine Kinder lassen. Meine Kinder haben auch ihre Kinder und die gehen auch arbeiten. Die haben auch keine Zeit, also. Wenn ich meine Pflegeversicherung habe. Ich will über meine Pflegeversicherung.

Interviewer (I): Okay, Familie ist für Sie, kommt dann nicht infrage?

Befragte (B): Doch, Familie kommt infrage. Meine Kinder müssen sich natürlich auch um mich kümmern, aber, wenn nicht, die sind alle berufstätig, haben keine Zeit, aber, während ihrer Freizeit, ich erwarte von meinen Kindern, die sollen sich auch um mich kümmern, besuchen und. Jede Eltern erwartet von seinen Kindern sowas. … Zu Hause will ich zuerst gepflegt werden. Mein Zuhause, von z. B.: der Diakonie jemand kommt ab und zu, also. Und dann schon zu Hause. Aber, wenn nichts machen kann und sowas, also zu Hause nicht geht. Wenn zu Hause geht, ich will in meinem Zuhause bleiben. (Int11, 57–59; 76–77)

Erwünscht wurden aber z. B. regelmäßige Besuche, wie das obige Zitat verdeutlicht. In anderen, selteneren Fällen wurde eine klare Erwartungshaltung an die Angehörigen bezüglich der Pflege geäußert. Da es v. a. bedeutsam erscheint, das vertraute, persönliche Umfeld zu erhalten, ist die Möglichkeit, zu Hause von einer fremden Person gepflegt zu werden, für mehr als die Hälfte der Befragten eine denkbare Option, wohingegen Pflegeheime, unabhängig davon, ob in Deutschland oder der Türkei, auf stärkere Ablehnung stoßen. In Interviews, bei denen die Wichtigkeit, den Kindern nicht zur Belastung zu werden, betont wurde, wird auch das Pflegeheim als eine Option genannt.

Ich habe nicht vor, eine Belastung für meine Kinder zu sein. Gott bewahre davor. Aber, wenn mein Mann vorher stirbt und ich alleine bin. Es gibt ja Einrichtungen, wo ältere Menschen leben. Du lebst dort, bist aber immer unter Kontrolle. Das ist sehr schön. Da würde ich leben wollen, wenn ich pflegebedürftig bin und nicht alleine leben kann. … Ich möchte keine Belastung sein für sie. Das ist wirklich sehr schwer. Meine Mutter war 5 Jahre bettlägerig, es ist sehr schwer für die Menschen drum rum und auch für den Kranken. Es ist sehr schwer, einen bettlägerigen Menschen zu pflegen. (Int 21,110;146)

Offen thematisiert wurden Fragen zukünftiger Pflege innerhalb der eigenen Familie in den wenigsten Fällen. Es wurde geäußert, dass Nachfragen, ob die Kinder bzw. Angehörigen zur Pflege bereit wären, fälschlicherweise als Misstrauen ihnen gegenüber verstanden werden könnte. Die Vorstellung von Pflegebedürftigkeit und das Angewiesensein auf Hilfe wirkten unangenehm und waren auch für die Interviewpartnerinnen mit generellen Ängsten verbunden:

Wenn es mir schlecht geht, wie wird es sein? Wer wird mich betreuen (nach mir schauen)? Haben meine Kinder Zeit dazu? Wer wird sich um mich kümmern? Solche Ängste kommen psychologisch. Soll ich zurück in meine Heimat, hast kein Vertrauen in die Türkei? Wie wird es werden? Man denkt so manchmal. (Int 12,123)

Wissen über ambulante und stationäre Pflegemöglichkeiten generell und speziell die Finanzierung solcher, die für sie ein zentraler Punkt scheint, bestand nur vage:

B: Ich kenne mich damit nicht so gut aus, ob es Hilfe vom Staat gibt in der Türkei. Aber, mit der Unterstützung der Kinder. Und wenn die ältere Person Rente bekommt, damit. Und wenn die Kinder unterstützen, da kenne ich Personen in der Türkei, die das so machen.

I: In der Türkei also. Und in Deutschland?

B: In Deutschland, weiß ich nicht. Nur meine Tante. Sie wollte nicht ins Altenheim, die Kinder haben Sie daheim betreut. Und in schlechten Zeiten, kam eine Krankenschwester nach Hause. So halt. (Int 12,64–66)

Auch dieser Punkt erschwerte den Interviewpartnerinnen die Abschätzung über für sie persönlich infrage kommende Pflegeleistungen und verzerrt insofern möglicherweise die Untersuchungsergebnisse [27]. Grundsätzlich bestehen auch Informationsdefizite, welche Versorgungs- und Pflegeleistungen, sowohl der Primär- als auch der weiteren Behandlung, möglich wären. Dennoch schätzten die Befragten tendenziell die Bedingungen in Deutschland positiv ein:

Wenn Sie ein Pflegefall sind, wird man sich sowieso um Sie kümmern. Die lassen uns ja nicht allein. Sie bringen Dich ins Krankenhaus, auf jeden Fall kümmern sie sich um Dich. (Int 17,238)

Diskussion

An unterschiedlichen Aspekten der Untersuchung wird deutlich, was für die interviewten Migrantinnen der Kernaspekt einer qualitativ guten Gesundheits- und Pflegeversorgung ist, nämlich als „ganzer Mensch“ mit entsprechenden Rechten und Möglichkeiten zur Selbst- und Mitbestimmung behandelt zu werden. Dies wird auch in anderen Untersuchungen, deren Zielgruppe keinen Migrationshintergrund aufweist, als wichtigstes Kriterium genannt [12]. Die befragten Migrantinnen fühlen sich selbst nicht als „andere Patientinnen“ und wollen auch nicht per se, ausschließlich als solche behandelt werden. Eine Sonderbehandlung, die den Interviewpartnerinnen von manchen Ärztinnen pauschal aufgrund von Herkunft, Sprache oder Religion zugeschrieben wird, lehnten sie ab – was auch in der Fachliteratur von anderen Autorinnen bereits aufgezeigt wird [3, 9, 13]. Gleichwohl fordern sie, dass ihren individuellen Wünschen und Bedarfen Gehör geschenkt wird – auch wenn diese von vermeintlich homogenen Ansprüchen einer Gruppe „deutscher“ Patientinnen abweichen sollten oder sie aufgrund sprachlicher Schwächen möglicherweise undeutlicher formuliert werden. An dieser Stelle zeigt sich die Notwendigkeit der situationsbedingten Interaktion nach Domenig [6], die eine angepasste Behandlung, speziell auf die Situation der sich begegnenden Personen, erfordert. Bolten betont, dass interkulturelle Kompetenz nicht situations- und kulturunabhängig, also vermeintlich universal anwendbar sein kann [2]. Das verweist erneut darauf, dass im medizinischen Behandlungsprozess zwischenmenschliche, nicht pauschal aufgrund eines Herkunftslandes bezogene Aspekte ausschlaggebend zur Bedürfnis- und Erwartungsbefriedigung auch im Pflegekontext sind.

Strumpen analysiert in ihrer Studie zu Versorgungserwartungen von in Pendelmigration lebenden älteren türkisch-stämmigen Migrantinnen die Unterschiede zwischen Erwartungen bezüglich krankheitsbedingter und altersbedingter Pflege. Im Fall einer krankheitsbedingten Pflegeversorgung werden externe Akteure eines institutionalisierten Gesundheitssystems bevorzugt. Altersbedingte Beschwerden hingegen sollen im familiären Rahmen versorgt werden. Hierbei ist jeweils die subjektive Interpretation, ob der Pflegebedarf krankheits- oder altersbedingt verursacht ist, entscheidend dafür, an wen sich die Pflegeerwartung richtet [24]. Die Erwartung unserer Interviewpartnerinnen, z. B. von den Kindern regelmäßig besucht zu werden, auch bei möglicherweise institutionalisierter Pflege durch außerfamiliäre Personen, schließt hieran an. Bei der institutionalisierten Pflege verweisen genannte Merkmale einer qualitativ hochwertigen Pflege auf gleiche Kriterien, wie die, die bereits in der Literatur als Merkmale guter Pflege und (allgemeinmedizinischer) Versorgung identifiziert werden: Personenorientierung, wertschätzende, persönliche, vertrauensvolle Beziehung, offene Kommunikation, ausreichend Zeit und Transparenz im Behandlungs-/Pflegeprozess [27].

Die um die kulturelle Perspektive erweiterte wissenschaftliche Diskussion über interkulturelle Pflege/Gesundheitsversorgung dreht sich vielfach um die Bestimmung des Begriffs „Kultur“ und jeweils daran festzumachende Eigenheiten. Für Domenig ist nicht das Bestimmen von kulturspezifischen Merkmalen und ein darauf basierendes spezifisch auf eine (vermeintlich homogene) kulturelle Gruppe zugeschnittenes Pflegekonzept für transkulturelleFootnote 2 Kompetenz als Teil von professioneller Pflege entscheidend. Sie schlägt eine situationsgerechte Pflege vor, wobei die Interaktion zwischen der pflegenden und der gepflegten Person im Mittelpunkt steht. Individuelle Lebenserfahrungen und -welten auf beiden Seiten treffen folglich in der Pflege aufeinander, weshalb nach Domenig Selbstreflexion (also das Wissen über die eigene Lebenswelt, einschließlich Werte-/Normensystem) grundlegend für ein möglichst wertneutrales Verstehen anderer Lebenswelten und das Hineinversetzen in andere Personen ist. Auf diesen (selbst-)reflexiven Prozess weist Kronenthaler ganz grundsätzlich in Interaktionssituationen hin. Sie verdeutlicht weiter die Brisanz dieses Reflexionsprozesses in kritischen Situationen – wozu Pflegesituationen häufig zählen [16]. Jegliche Form der Pflege bedarf eines Einlassens auf die zu pflegende Person und einer respektvollen, partnerschaftlichen Abstimmung des Behandlungsprozesses auf deren individuelle Bedürfnisse – unabhängig davon, wo die Person geboren ist, mit welcher Sprache und in welcher Kultur sie aufgewachsen ist oder wo sie überwiegend gelebt hat. Andernfalls besteht die Gefahr von Stereotypisierung und einer daraus resultierenden, nichtindividuumsorientierten Versorgung. Der Wunsch unserer Interviewpartnerinnen, nicht als „andere“, nur einer homogenisierten türkischen Kultur zugeordneten, Patientin behandelt zu werden, entspricht dem. Campinha-Bacote beschreibt kulturelle Kompetenz auch als einen fortlaufenden Prozess, da die Fähigkeit, empathisch und unterstützend auf Patientinnen einzugehen, immer wieder erarbeitet werden muss – durch das Erkennen der eigenen Voreingenommenheit und Vorurteile [4].

Ergänzt werden muss die persönliche Reflexion nach Domenig durch das Sammeln von Erfahrungen im Umgang mit Migrantinnen und die Aneignung von Hintergrundwissen, auch theoretischer Art über Kultur, Migration, Grund- und Menschenrechte, Rassismus, Diskriminierung, medizinethnologische Konzepte, Kommunikation etc. Narrative Empathie ist laut Domenig eine dritte Säule der Interaktionsfähigkeit in der transkulturellen Pflege. Interesse, Neugier und Nichtwahrung von Distanz bedeuten, empathische Nähe herzustellen, was aber nicht aus Lehrbüchern erlernt werden kann [68, 17, 18]. Dies deckt sich mit dem Wunsch der Interviewpartnerinnen bezüglich der Respektierung der Gebets- und Essensregeln. Da Migrantinnen aus der Türkei häufig Muslime sind, wäre es hilfreich für das Pflegepersonal, grundlegendes Wissen über z. B. Ernährungsgewohnheiten im Islam zu haben. Wie aber u. a. unsere Interviews gezeigt haben, ist dies nicht immer der Fall (eine Interviewpartnerin war beispielsweise Christin). Deshalb darf nicht automatisch bei türkischen Patientinnen davon ausgegangen werden, dass alle dieselben Essensvorschriften einhalten. Auch unter den muslimischen Interviewpartnerinnen wurde nicht einheitlich religiöse Aspekte als wichtig in der Gesundheitsversorgung angesprochen, was verdeutlicht, wie unterschiedlich die Bedeutung im individuellen Lebenskontext sein kann.

Die Interviewergebnisse rund um den Aspekt „Heimat“ verdeutlichen einen weiterhin starken persönlichen Bezug zur Türkei der befragten Migrantinnen; in der Regel gelten sowohl die Türkei als auch Deutschland als Heimat. Diese aktiv gewählte, transnational ausgerichtete Orientierung sowohl auf die Türkei als auch auf Deutschland bedeutet für die Pflegeversorgung, dass für die älteren türkischen Interviewpartnerinnen eine Inanspruchnahme von Pflegeleistungen in beiden Ländern infrage kommt [24].

Die angesprochene notwendige Abstimmung auf die „spezifischen“ Bedürfnisse meint folglich, dass erschwerte Zugangs-/Nutzungsbedingungen für Migrantinnen berücksichtigt werden, ohne dass eine Konstruktion von grundsätzlicher Andersartigkeit entsteht. Es lassen sich ebenso wenig universale Handlungsempfehlungen für die Pflege von türkischen bzw. türkisch-stämmigen Migrantinnen im Alter wie für alle anderen Patientengruppen ableiten. Spezialwissen und Handlungskompetenz können bestimmte Situationen erleichtern. Jedoch ist es – auch in der medizinischen und pflegerischen Versorgung – weder möglich noch nötig, jede kulturelle Tradition, jede Sprache und jedes kulturelle Detail zu kennen. Selbstreflexion darüber, wie eigene Vorstellungen und Erfahrungen bezüglich der Kultur, der das Gegenüber zugeordnet wird, die eigene Haltung und das Handeln bestimmen, ist die Grundlage für eine menschliche, individuumszentrierte Begegnung: „Kultursensible Pflege ist immer auf den Einzelnen bezogen und erschließt in der Begegnung nicht die Kultur, sondern das Individuelle des Einzelnen“ [1]. Empathische Nähe, wie von Domenig vorgeschlagen, kann in der pflegerischen Praxis erleichternd wirken.

Im Gesundheitssystem und in der (Pflege-)Versorgung in Deutschland sind türkische bzw. türkisch-stämmige Migrantinnen im Alter ein alltäglicher Teil der zu versorgenden Bevölkerungsgruppen. Trotz teilweise negativer, diskriminierender Erfahrungen schafft vielfach die langjährige, persönlich-vertrauensvolle Beziehung zu einer Hausärztin eine größere Vertrautheit des deutschen Gesundheitssystems und höhere Qualitätsbewertung desselben. Dies steht aber nicht im Widerspruch zu Aussagen eines stärkeren Wohlfühlens in der Türkei – ähnlich wie der Trennung zwischen institutionalisierter und familiärer Pflege. Insgesamt scheint sich so auch das Vertrauen in eine qualitativ gute, von der Krankenkasse übernommene Pflege im Alter zu generieren – auch wenn wenig konkretes Vorwissen über Altersversorgungsstrukturen besteht. Zu diskutieren ist an dieser Stelle, inwiefern ein Mangel an Wissen über das türkische Gesundheitssystem bzw. kontinuierliche, aktuelle Erfahrungen damit dazu beitragen, dass eine Rückkehr in die Türkei nicht oder nicht ernsthaft angestrebt wird. Dahinter könnte, gemäß einigen Aussagen von Interviewpartnerinnen, auch die Angst stehen, dass die Pflegeversorgung finanziell und qualitativ in der Türkei für sie nicht gesichert ist. Insofern wäre eine gezielte und umfassende Informationsvermittlung seitens deutscher Krankenkassen zur Übertragung ihrer Leistungen in die Türkei die Basis für eine höhere Entscheidungsfreiheit. Ähnlich kann fehlendes Wissen über z. B. türkisch-sprachiges Pflegepersonal in stationären Pflegeeinrichtungen, das Vorhandensein von Gebetsräumen, die auch für Muslime nutzbar sind, wählbare Menüs etc. die stationäre Pflege als undenkbarere oder schlechtere Option erscheinen lassen. Unwissenheit, Missverständnisse und Unklarheiten könnten in so einem Fall evtl. leichter behoben werden.

Grenzen der Studie

Eine Einschränkung unserer Studie ist die nichtumfassende Erhebung des Einflusses von sozioökonomischen, gender- und kulturspezifischen sowie bildungsbezogenen Aspekten innerhalb der türkischen bzw. türkisch-stämmigen Bevölkerungsgruppe je nach Herkunftsregion und religiösen Ausprägungen (beispielsweise Aleviten, Kurden, Schiiten, Sunniten, Christen etc.).

Aufschlussreich wäre weiterhin – gerade weil die Ergebnisse vor Augen führen, dass die Pflegevorstellungen wenige „kulturspezifische“ Erwartungen beinhalten – auch die Untersuchung mit einer „Vergleichsgruppe“ gebürtiger deutscher bzw. anderer Migrantinnen der gleichen Altersgruppe, der dieselben Interviewfragen gestellt würden. Ebenfalls fehlt in unserer Untersuchung bislang die Perspektive der behandelnden Ärztinnen, die für ein umfassendes Bild der Versorgungssituation, Stärken und Hindernissen aufseiten des Versorgungssystems aus professioneller Perspektive, die Erfahrung mit den Patientinnen bedeutend sind. Weiterhin ist die Perspektive der Kinder einzubinden, auf die vielfach die Pflegeerwartung projiziert wird.

Die Rekrutierung der Interviewpartnerinnen über 3 Hausarztpraxen ist als ein Schwachpunkt zu betrachten: Die Einwilligung für die Studienteilnahme könnte nur bei positiven Erfahrungen mit der jeweiligen Hausärztin bzw. dem deutschen Gesundheitssystem gegeben worden sein, was insgesamt die Ergebnisse verzerrt. Auch ist in Betracht zu ziehen, dass diese deutschen Hausärztinnen möglicherweise nur eine bestimmte Klientel an türkischen bzw. türkisch-stämmigen Migrantinnen behandeln, sodass keine maximale Variabilität erreicht werden konnte. Eine Rekrutierung über türkisch sprechende Hausärztinnen hätte möglicherweise das Spektrum erweitert, was wir in unserer Untersuchung ebenfalls nicht berücksichtigt haben. Das Einzugsgebiet der Studie liegt in räumlicher Nähe zu einem industriellen Großunternehmen, das als eines der Ersten zahlreiche Gastarbeiterinnen beschäftigte. Daher ist davon auszugehen, dass es sich bei den Interviewpartnerinnen um eine Gruppe mit verhältnismäßig ähnlichen sozioökonomischen, sozialen, religiösen und kulturellen Hintergründen handelt. Die Gesprächsprotokolle der Interviewerin verwiesen auf eine deutlich höhere soziökonomische Zugehörigkeit der Patientinnen eines vermittelnden Hausarztes im Vergleich zu der Patientengruppen eines anderen Hausarztes.

Einfluss auf die Interviewergebnisse haben darüber hinaus die Durchführung durch eine türkisch-stämmige Interviewerin aufgrund beispielsweise des Auftretens mit oder ohne Kopfbedeckung, der regionalen Herkunft der Person und der damit wechselseitigen Vorurteile oder Erwartungen. Beispielsweise verweist das Nichttragen eines Kopftuchs auf eine wahrscheinliche Zugehörigkeit der Interviewpartnerinnen zur Volksgruppe der Alevitinnen. Sunniten tragen in der Regel ein Kopftuch. Insofern wird die Interviewsituation beeinflusst und muss als interveniert analysiert werden.

Schlussfolgerung

Die Interviewpartnerinnen wünschen sich eine menschliche, bedürfnisorientierte Pflege im Alter, die sie nicht zu „anderen“ Patientinnen macht. Ein personenzentrierter, empathisch-respektvoller Umgang mit Patientinnen ist zentraler Bestandteil guter medizinischer Versorgungsleistungen [9]. Um diese effektiv und effizient im deutschen Gesundheits- und Pflegesystem zu gestalten und dabei Zufriedenheit auf allen Seiten zu erzielen, bedarf es der Anwendung von gleichen medizinischen Versorgungsstandards auf alle zu behandelnden Personen – einschließlich (älterer) Migrantinnen. Seitens der Pflegedienste und -heime ist folglich ein stärkeres Zugehen auf diese Klientel zur Darstellung der eigenen Angebote eine Möglichkeit dies aufzulösen. Für pflegende Angehörige sollten, auch fremdsprachige, Unterstützungs- und Beratungsangebote niedrigschwellig vorhanden sein.

Fazit für die Praxis

Die erforderlichen Versorgungsstrukturen in der Pflege, die eine gleichberechtige Behandlung und Versorgung garantieren, müssen gleichzeitig flexibel auf gender-, sozial- und kulturspezifische Bedürfnisse reagieren können. Dies benötigt auch eine kritisch-reflexive Haltung der behandelnden/pflegenden Person über die eigene kulturelle und soziale Prägung. Diese Haltung zielgerichtet in der medizinischen Ausbildung zu entwickeln, würde der Versorgung aller Patientengruppen zugutekommen.