1 Einleitung: Der „Faktor X“ in Prozessen sozialräumlichen Wandels

„Wenn es um den Erfolg von Prozessen des sozialräumlichen Wandels geht, kommt es auf die richtigen Personen an!“ – „Ohne sie laufen Verfahren ins Leere, scheitern Strategien und versagen Formen der Governance.“ Solche oder ähnliche Antworten erhalten Wissenschaftler der sozialwissenschaftlichen Raumforschung immer wieder von Praktikern, wenn es darum geht, das Wesen von erfolgreich gestalteten Prozessen sozialräumlichen Wandels zu ergründen. Diese Erkenntnis stellt jedoch eine Herausforderung für eine sozialwissenschaftliche Erforschung dieser Prozesse dar, denn je höher der Beitrag einzelner Personen gewichtet wird, desto größer ist aus der Perspektive einer sozialwissenschaftlichen Raumforschung der „Faktor X“, den wir dabei in Rechnung stellen müssen. Die Bedeutung persönlicher Qualitäten erklärt also weniger, als dass sie etwas wenig Verstandenes benennt.

Zu diesem „Faktor X“ existiert in Arbeiten, in denen zu Prozessen sozialräumlichen Wandels geforscht wird (Adams/Perrow/Carpenter 2004; Fürst/Lahner/Pollermann 2005; Lovell 2009; Sotarauta 2009; Cocks 2013; Ayres 2014; Beer/Clower 2014), eine merkwürdige Asymmetrie: Einerseits wird die Einschätzung breit geteilt, dass der persönliche Faktor wichtig sei; andererseits fehlt aber eine systematische Perzeption sozialwissenschaftlicher Theorien, mit deren Hilfe dieser persönliche Faktor erklärt werden könnte. In diese konzeptionelle Leerstelle in den Raumwissenschaften stoßen wir mit dem Begriff der „Schlüsselfigur“, die in ihren Dimensionen und ihrer Raumwirkung entfaltet werden soll.

Das erste Ziel des Beitrags ist es, konzeptionelle Befunde aus sozialwissenschaftlichen disziplinären Zusammenhängen, vor allem der Politik- und Organisationswissenschaften, der Betriebswirtschaft und der Soziologie, zusammenzutragen, in denen sozialer Wandel mit dem Wirken einzelner Personen assoziiert ist. Konkret sollen die jeweiligen sozialwissenschaftlichen Konzepte danach untersucht werden, wie sie Schlüsselfiguren definieren und wie der entscheidende Beitrag dieser Personen in Wandlungsprozessen begründet wird.

Aufbauend auf diesen Befunden werten wir anschließend die ausgewählten sozialwissenschaftlichen Konzeptionen in heuristischer Weise nach räumlichen Bezügen von Schlüsselfiguren aus. Damit ist gemeint, ob und inwiefern der Einfluss von Schlüsselfiguren auch damit erklärt wird bzw. werden kann, wie diese mit Raum umgehen oder im Raum agieren. Da die meisten dieser Theorien keine direkten Bezüge zu raumwissenschaftlichen Fragestellungen haben, geht es vor allem darum, implizite Aussagen in den theoretischen Konzepten offenzulegen und weiterzudenken.

Unsere Konzeption von Schlüsselfiguren nimmt Bezug auf die internationale Debatte um place-based oder local leadership (Stimson/Stough/Salazar 2009; Beer/Clower 2014). Wir benutzen aber diese etablierten Begriffe für die Zwecke dieses Beitrags bewusst nicht. Erstens, weil sie aus unserer Sicht zurecht dafür kritisiert werden, die Skalarität im Wirken von Schlüsselfiguren nicht zu adressieren (Ayres 2014). Zweitens, weil die Semantik des Begriffs „leadership“ einige wesentliche Vorannahmen importiert, die das Feld auf eine nicht produktive Weise eingrenzen. Wie wir zeigen werden, erfasst insbesondere die Fokussierung auf professionelle, intentionale Führung anstrebende und weithin sichtbare Personen den Gegenstand nur partiell.

Wir haben stattdessen mit dem Begriff „Schlüsselfigur“ bewusst einen Ausdruck gewählt, der in der bisherigen Debatte noch nicht besetzt ist. Im Unterschied zu gängigen sozialwissenschaftlichen Termini wie Akteur, Subjekt oder Individuum transportiert der Begriffsteil „Figur“ zudem keine konzeptionellen Vorannahmen in unsere Analyse. Um deutlich zu machen, dass uns weniger reale historische Persönlichkeiten interessieren, als vielmehr typische, wiederkehrende, gleichwohl aber personengebundene Handlungsmuster, sprechen wir auch nicht von Schlüsselpersonen. Der Wortbestandteil „Schlüssel“ soll verdeutlichen, dass wir uns für Mitgestaltende sozialräumlichen Wandels interessieren, die einen entscheidenden Unterschied ausgemacht haben (Sotarauta 2014) oder denen von Beteiligten zugesprochen wird, den Unterschied ausgemacht zu haben.

Schlüsselfigur ist zudem ein geschlechtsneutraler Begriff, der sowohl Frauen als auch Männer einschließt und genderspezifische Analysen ermöglichen soll. Bei der Rezeption etablierter Konzepte haben wir – wo machbar – uns auf genderneutrale Begriffe konzentriert (z. B. broker). Dies war nicht in allen Fällen möglich, weil die historischen Originalbegriffe nicht geschlechtsneutral verwendet worden sind (z. B. „der kulturell Fremde“), weil in vielen Fällen größtenteils männliche Personen als empirische Vorbilder bei den Konzepten Paten standen (z. B. bei entrepreneur) oder weil der männliche Genus auf die Übertragung eines an sich genderneutralen Begriffs ins Deutsche zurückzuführen ist (z. B. bei „Agent des Wandels“). Im letzteren Fall haben wir aus Gründen der Lesbarkeit die männliche Form übernommen, möchten aber darauf hinweisen, dass die weibliche Form prinzipiell mitgemeint ist. Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass die Konzeption einer Geschlechtssperspektive auf Schlüsselfiguren ein Forschungsdesiderat darstellt, allerdings eines, das jenseits des Fokus dieses Beitrags liegt.

Entsprechend der Breite der disziplinären Zugänge sind die diskutierten Konzepte in Interaktion mit sehr unterschiedlichen empirischen Feldern entstanden (z. B. Migranten im urbanen Kontext, Manager in Organisationen, Entwickler von Umwelttechnologien), deren Vergleichbarkeit diskussionswürdig ist. Wir sehen dies aber nicht nur als Nachteil, da die hier angestellten Überlegungen so ausgelegt sein sollen, dass sie empirisches Arbeiten in unterschiedlichen Feldern ermöglichen sollen. Wir verzichten – zumindest im Rahmen dieses Beitrags – zunächst darauf, Ansätze aus benachbarten Disziplinen, etwa der Entwicklungs- oder Sozialpsychologie oder der Geschichtswissenschaften, einzubeziehen. Es geht uns darum, die Erklärungskraft sozialwissenschaftlicher Ansätze auszuloten, um abschätzen zu können, welchen Mehrwert eine weitere, interdisziplinäre Öffnung der Debatte bringen kann.

Im Folgenden werden zuerst verschiedene Konzeptionen von Schlüsselfiguren erörtert (Kapitel 2), wobei die Darstellung auf der gesellschaftlichen Mikroebene beginnt und über die Meso- zur Makroebene voranschreitet. Darauf aufbauend wird die räumliche Perspektive auf Schlüsselfiguren entwickelt (Kapitel 3). Im abschließenden Kapitel 4 werden die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst und weiterer Forschungsbedarf identifiziert.

2 Eine Literaturanalyse zu Schlüsselfiguren – Mikro-, Meso- und Makroansätze

In diesem Kapitel wird der Fokus auf Schlüsselfiguren schrittweise geöffnet. Zuerst werden unter dem Begriff „Leadership“ Konzeptionen vorgestellt, die die Mikroebene thematisieren. Sie analysieren Schlüsselfiguren in ihrer Interaktion mit einem engeren sozialen Kontext (Kapitel 2.1). Dann wird der Sucher auf die Mesoebene gerichtet, auf der Schlüsselfiguren als Intermediäre in sozialen Netzwerken, Organisationen oder Subkulturen thematisiert werden (Kapitel 2.2). Abschließend werden Konzeptionen analysiert, die Schlüsselfiguren als Mitwirkende in Governance-Arrangements betrachten und damit auch Makrostrukturen in den Blick nehmen (Kapitel 2.3). Mithilfe dieses Vorgehens adressieren wir ein Desiderat der bisherigen Literatur, in der skalare Unterschiede im Wirken von Schlüsselfiguren noch nicht hinreichend berücksichtigt worden sind (Ayres 2014). Es ist wichtig zu betonen, dass es sich um rein analytische Unterscheidungen handelt, die sich empirisch im Handeln konkreter Personen, die grundsätzlich multiskalar eingebettet sind, nicht in Reinform beobachten lassen. Die analytische Unterscheidung erlaubt es aber, das empirisch beobachtbare Agieren als Kombination unterschiedlicher Handlungslogiken genauer zu verstehen.

2.1 Leadership

Das Konzept der „Leadership“ befasst sich mit Persönlichkeiten, die einen besonderen Einfluss auf soziale bzw. gesellschaftliche Prozesse haben. Im Unterschied zum Diskurs um local leadership (Beer/Clower 2014; Sotarauta 2014) in den Regionalwissenschaften benutzen wir den Begriff nicht als Oberbegriff für verschiedene Formen des Wirkens von Schlüsselfiguren, sondern betrachten ihn analytisch enger. Erstens betont der Begriff „Leadership“ die Momente der einseitigen Ausübung von Einfluss so stark, dass er nicht geeignet erscheint, auch stärker vermittelnde, weniger sichtbare und weniger durch professionelle Rollen ausgeübte Wirkungen auf Prozesse des Wandels einzuschließen. Zweitens thematisiert die Literatur zu Leadership aus unserer Sicht stark die soziologische Mikroebene, also die unmittelbare, häufig in physischer Kopräsenz ausgeübte Interaktion zwischen Führer und Gefolgschaft. Eine Einschränkung auf eine räumliche Ebene, die in der Literatur durch Attribute wie local (Beer/Clower 2014) oder place based (Ayres 2014) erfolgt, erscheint uns wenig zielführend, da Leadership auch beispielsweise in global agierenden Organisationen vorkommt (Alon/Higgins 2005).

Die wohl einflussreichsten und sehr grundlegenden Überlegungen zu Leadership sind von Joseph Schumpeter (1912) in seiner „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ sowie von Max Weber (1980 [1921]) im Rahmen seines Herrschaftskonzeptes vorgelegt worden. Schumpeter begreift den Unternehmer als einen „Sonderfall des sozialen Phänomens der Führerschaft“ (Schumpeter 1987 [1910]: 149). Vom durchschnittlichen Wirtschaftssubjekt unterscheidet er den Unternehmer als jene Persönlichkeit, die im Wirtschaftsleben neue Kombinationen von Produktionsfaktoren erkennt und durchsetzt. Der Schumpetersche Unternehmer teilt Merkmale mit dem, was Max Weber „Charisma“ genannt hat, nämlich eine „außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlichkeit“ (Weber 1980 [1921]: 140). In der Betriebswirtschaft sowie den Organisations- und Politikwissenschaften wird „Leadership“ ebenfalls eng mit Wandel assoziiert und die Tätigkeit des Führens oft als heroischer Akt der Führungspersönlichkeiten konzipiert (Grint 2000; Alvesson/Sveningsson 2003; Dowding 2011). Leadership steht dabei in einem Spannungsverhältnis zu Strukturen und Abläufen des Alltags und zu Beziehungen hierarchischer Kontrolle (Grint 2014). Führung befähigt sowohl dazu, Wandel innerhalb von breiter angelegten sozialen Kollektiven (etwa Unternehmen) herbeizuführen, kann aber auch Einzelne dazu zwingen, wegen ihres Willens zum Wandel bestehende Organisationen zu verlassen.

Die Erklärung für den gesteigerten Einfluss von Führungspersönlichkeiten in Prozessen des sozialen Wandels erfolgt aus der Dialektik von attributiven, also in Eigenschaften der Person liegenden, und relationalen, also in der Interaktion zwischen der Person und dem sozialen Umfeld liegenden Erklärungsmomenten. Dabei kann eine grobe ideengeschichtliche Entwicklungslinie gezeichnet werden (Grint 2000; Dowding 2011), wonach in frühen Arbeiten das Phänomen „Leadership“ noch stärker attributiv erklärt wurde, im weiteren Verlauf aber relationale Erklärungen an Gewicht gewonnen haben – einhergehend mit einer Verschiebung des Fokus von der Person des Leaders auf den Prozess der Leadership (Beer/Clower 2014).

Bereits Schumpeter und Weber sehen nicht nur die außeralltägliche Begabung der Einzelpersönlichkeit als zentral an, sondern nehmen auch das soziale Beziehungsgefüge zwischen Führungspersönlichkeit und Anhängerschaft in den Blick. Der Unternehmer sei nicht „einfach ein fähigerer Genosse oder eine Art Vorarbeiter. Auch dort wo er vornehmlich oder gar ausschließlich durch sein Beispiel wirkt […], ist nicht seine Leistung als solche, sondern der durch sie ausgeübte Einfluss auf andere das Entscheidende“ (Schumpeter 1987 [1910]: 149). Analog dazu betont Weber (1980 [1921]: 140), dass charismatische Führung sich vor allem dann entfalten kann, wenn die Fähigkeit dazu der Person durch die Anhänger zugeschrieben wird. Der Glaube der Anhänger an die außeralltägliche Begabung ist hier also entscheidend, nicht die Fähigkeiten selber. Diese Überlegungen zeigen, dass es keineswegs ausreicht, Schlüsselfiguren allein aus sich heraus erklären zu wollen, sondern dass es erforderlich ist, deren Interaktion mit ihrem Kontext (Elgie 1995) zentral zu betrachten. Dies bezieht sich vor allem auf ihre Anhänger: „Without followers there are no leaders“ (Grint 2000: 6).

2.2 Intermediäre

Der Begriff „Intermediär“ fasst Typen von Schlüsselfiguren zusammen, denen der Gedanke gemeinsam ist, dass einzelne Personen in Prozessen sozialen Wandels dann „den Unterschied ausmachen“, wenn sie eine Position „zwischen den Welten“ besetzen, aus der ihnen bestimmte, anderen nicht zugängliche Handlungsmöglichkeiten erwachsen.

Kulturelle Fremdheit ist eine Variante des Dazwischen-Seins, die auf Migration zurückzuführen ist. Nach Simmel ist der Fremde jener, „der heute kommt und morgen bleibt“ (Simmel 1992 [1908]: 509). Das Kommen bezieht sich auf die fremdartige Herkunft, das Bleiben auf eine dauerhafte Perspektive im neuen Kontext. In dieser Konstellation kommt es zu Interferenzen zwischen den kulturellen Normen und Regeln, die ein Individuum in seinem Herkunftskontext erlernt hat, und jenen, die im Aufnahmekontext gelten (Park 1928). Die meisten der Regeln, die dem Fremden vertraut sind, gelten im Aufnahmekontext nicht, oder nicht in dem bekannten Maße. Zugleich sind dem Fremden viele Regeln des Aufnahmekontexts unbekannt und müssen erst erlernt werden.

Obgleich der Fremde im Unterschied zum Wanderer nicht weitergezogen ist, hat er dennoch „die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht überwunden“ (Simmel 1992 [1908]: 509). Daraus ergeben sich Eigenschaften, die Personen aus einer Position von Fremdheit heraus häufiger erlangen, nämlich Objektivität und soziale Beweglichkeit. Die Fähigkeit zur Objektivität erlangt der Fremde dadurch, dass er aufgrund seiner andersartigen Herkunft nicht gebunden ist an die Denkgewohnheiten der Eingesessenen. Das mühsame Erlernen der kulturellen Regeln macht es notwendig, dass Selbstverständlichkeiten und implizite Annahmen vom Fremden besser erkannt werden als von Eingesessenen (Schütz 1964 [1944]). Die soziale Beweglichkeit des Fremden resultiert daraus, dass Fremde über keine langfristig gewachsenen Verbindungen verfügen.

Zum sozialen Kontext ist die Figur des Fremden durch eine eigentümliche Einheit von Nähe und Distanz verbunden. Einerseits sind Fremde Teile der Gruppe, zugleich aber bleiben sie in Stellungen, die ein Außerhalb und Gegenüber einschließen. Trotz dieser prekären und unvollständigen Integration kann der Fremde eine „Schlüsselfigur“ sein, die den entscheidenden Impuls für Entwicklungen gegeben hat, denn sie trägt Qualitäten in den Raum, die aus ihm nicht stammen können, unterhält Kontakte nach außen, die anderen Mitgliedern der aufnehmenden Gesellschaft verschlossen oder gänzlich unbekannt sind, oder hat Zugriff auf Ressourcen, die sonst nicht verfügbar wären.

Auch die Figur des Boundary Spanner (Tushman 1977) ist zwischen den Welten positioniert, nur dass hier das Dazwischen durch die Ziehung organisationaler Grenzen entsteht. Boundary spanner besetzen die Schnittstelle zwischen der Organisation und ihrer Umwelt (Grabher 1994) oder die Schnittstellen zwischen Untereinheiten der Organisation. Sie sind insofern Schlüsselfiguren für die Organisationsentwicklung, als sie eine Übersetzungs- und Vermittlungsfunktion wahrnehmen. Über sie nimmt die Organisation Impulse von außen auf (Grabher 1994), und über sie werden segmentierte Denkwelten, die sich innerhalb von komplexen Organisationen ausdifferenzieren können, miteinander verbunden. „Special boundary roles evolve in the organization’s communication network to fulfill the essential function of linking the organization’s internal network to external sources of information“ (Tushman 1977: 587). Die Vermittlung und Übersetzung von Informationen über organisationale Grenzen hinweg ist nicht allein durch die organisationale Rolle zu erklären. Vielmehr scheint es vor allem darauf anzukommen, wie Personen diese Rolle ausfüllen und inwiefern Personen die Fähigkeit besitzen, differierende Codes zu verstehen und zwischen verschiedenen Welten zu übersetzen.

Mit dem Begriff „Broker“ wird in der sozialen Netzwerkstrukturforschung eine Position benannt, deren Besonderheit ebenfalls darin besteht, zwischen verschiedenen Gruppen zu stehen. Sie besetzen in Netzwerken sogenannte strukturelle Löcher. Strukturelle Löcher tauchen auf, wenn in weiter gefassten Netzwerkstrukturen größere Teilnetzwerke existieren, die – abgesehen vom Kontakt über den Broker – voneinander getrennt sind. Diese Position zwischen ansonsten voneinander getrennten Teilnetzwerken versetzt den Broker in eine privilegierte Position, aus der heraus sich Ressourcen mobilisieren lassen, die anderen Netzwerkmitgliedern nicht zugänglich sind. Broker haben größere Chancen, auf neue Ideen zu kommen und diese von anderen als wertvoll anerkannt zu bekommen (Burt 2004).

Broker nutzen die Vorteile, die sich daraus ergeben, dass die Akteure aus den Teilnetzwerken nicht voneinander wissen. Die wechselseitige Unwissenheit bringt Broker in eine Schlüsselposition, aus der heraus ihnen exklusiver Zugang zu nichtredundanter Information ermöglicht wird. Die Schlüsselposition können sie entweder in der Rolle des lachenden Dritten („tertius gaudens“; Burt 1992: 30) zum eigenen Nutzen ausspielen. Sie erwirtschaften Gewinne, indem sie von Anbietern günstig kaufen und dann an Kaufinteressenten teurer weiterverkaufen. In komplexeren Innovations- oder Kreativitätsprozessen ist es hingegen möglich und sinnvoller, die Optionen der Rolle kooperativer auszuspielen, da hier simple Informationsunterschiede noch keinen entscheidenden Handlungsvorteil ergeben, sondern nur tiefer gehende Formen des Teilens und gemeinsamen Weiterentwickelns von Wissen. In solchen Kontexten treten Broker daher oft als verbindende Dritte („tertius iungens“; Obstfeld 2005; Long Lingo/O’Mahony 2010) auf, die Parteien, die füreinander wechselseitig von Vorteil sein können, einander vorstellen und deren Zusammenarbeit initiieren. In dieser Rolle ergeben sich vor allem kollektive Werte, die sich aus der Kooperation der zuvor voneinander getrennten Partner ergeben. Zugleich zieht der Broker auch aus seiner Vermittlerrolle einen individuellen Nutzen, wenn er an den durch Kooperation erzielten Gewinnen beteiligt wird. Im Zuge komplexerer Prozesse können sich kooperative und kompetitive Auslegungen der Brokerposition abwechseln, wie Long Lingo/O’Mahony (2010) am Beispiel der Netzwerkpraktiken von Musikproduzenten von Country-Musik in Nashville darlegen. Broker haben eine Schlüsselrolle, weil sie erstens aufgrund ihrer Vermittlungsfunktion neuartige Ideen stimulieren können, die ohne sie nicht entstanden wären, und weil sie zweitens in ihrer Spielart als „tertius iungens“ helfen, Koalitionen zu schmieden, um die guten Ideen auch umzusetzen.

2.3 Governance-Pioniere

Schon die Erörterung von Leadership hat gezeigt, dass Schlüsselfiguren auch relational zu verstehen sind, da sie nur gemeinsam mit ihrem sozialen Umfeld Wirkungen entfalten. Dieser Aspekt ist für die Literatur zu Intermediären, die vor allem in Netzwerken eine Schlüsselrolle einnehmen, ebenfalls konstitutiv. In jenen Debatten, die sich mit Schlüsselfiguren in komplexen und mehrdimensionalen Konstellationen kollektiver Handlungskoordination, mithin mit Governance, befassen, wird dieser Gedanke vollends zentral. Schlüsselfiguren in Governance-Arrangements greifen in politisch unübersichtlichen Situationen Themen auf, verknüpfen sie mit durchsetzungsfähigen Mehrheiten oder nehmen auf komplexe Handlungskontexte in einer solchen Weise entscheidenden Einfluss, dass es zu Wandlungsprozessen oder neuen Entwicklungspfaden kommt. Ihre Schlüsselfunktion besteht darin, in kollektiven Handlungsarenen Wege zu bereiten oder Governance-Modi und Politikinhalte zu verändern.

Governance-Forschung bezieht sich eigentlich nicht auf individuelle, sondern auf kollektive Akteure. Kollektive Akteure sind im politikwissenschaftlichen Verständnis zum einen Gruppen von Individuen ohne Repräsentanzstrukturen, deren Präferenzen gegenüber einem Problem übereinstimmen. Es kann sich aber zum anderen auch um korporative Akteure handeln, die über eine innere Willensrepräsentation (von Prittwitz 1994) verfügen und die in der Regel nach außen und innen durch zuständige Repräsentanten vertreten werden. Organisationen als zweckgerichtete Handlungssysteme sind stets korporative Akteure. Eine Akteursqualität kann aber selbstverständlich auch bei Individuen gegeben sein. Mit institutionalisierten Rollen sind diese oftmals in Organisationen beheimatet und greifen auf deren Ressourcen zurück. Individuelle Akteure können – auch wenn dieser Aspekt in der Governance-Forschung unterrepräsentiert ist – Träger und Mitgestalter von Governance sein.Footnote 1

In diesem Sinne ergeben sich beispielsweise die Schlüsselfunktionen von sogenannten „Promotoren“ durch ihr Bewusstsein für Defizite und ihre Fähigkeit, kollektives Handeln in Organisationen der Privatwirtschaft, des öffentlichen Sektors und der Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Sie wirken mithin sowohl als individuelle Akteure als auch als Repräsentanten korporativer Akteure. Das Promotorenmodell entstammt der Betriebswirtschaftslehre. Witte (1999 [1973]: 15) bezeichnete „Personen, die einen Innovationsprozeß aktiv und intensiv fördern“ als Promotoren. Sie tendieren dazu „organisationsfeindlich“ zu sein, weil ihr Handeln auf Veränderung und Ablösung des Alten gerichtet sei.Footnote 2 Machtpromotoren seien diejenigen Personen, die einen Innovationsprozess durch ihr hierarchisches Potenzial fördern, Fachpromotoren förderten den Prozess durch objektspezifisches Wissen. Spätere Forschungen ergänzten weitere Typen: den Prozesspromotor, der über Organisationskenntnisse verfügt und Verbindungen zwischen anderen Promotoren herstellt (Hauschildt/Chakrabarti 1999 [1988]: 78), sowie den Beziehungspromotor, dessen Leistungen das Zusammenbringen von Personen, das Steuern der Interaktionsprozesse und das Fördern sozialer Bindungen seien (Gemünden/Walter 1999 [1995]: 120 f.).

In der deutschsprachigen Debatte um raumbezogene Governance wurde die Rolle von Promotoren prominent diskutiert (Fürst/Lahner/Pollermann 2005). Es existierte dabei ein Interesse an einer normativen Nutzung des Promotorenmodells für die Ex-ante-Gestaltung von Veränderungsprozessen, so bei Dommes und Herrmann (2005), die eine Verbesserung des Landschaftsmarketings anstreben, oder bei Kullmann (2003), der Schlüsselpersonen als Erfolgsfaktoren des regionalen Projektmanagements thematisiert.

Der Aspekt intra- oder interorganisationeller Veränderungsprozesse ist gleichfalls zentral für die Literatur zu „Agenten des Wandels“ oder change agents etwa in den Organisationswissenschaften, der Diffusions- und Innovationsforschung oder den interdisziplinären Forschungen zum transition management. So stellen Burger und Weinmann (2012: 15) bezogen auf Wandlungsprozesse fest, dass diese durch Einzelpersonen herbeigeführt würden, die bestehende Paradigmen hinterfragen. Dies gelte auf globaler Ebene, wenn etwa Ronald Reagan oder Margret Thatcher entscheidend für die praktische Umsetzung neoliberaler Ideen gewesen seien, aber auch auf lokaler Ebene, wo die Projekte von Bewohnern dänischer Inseln eine globale Bewegung hin zur dezentralen Einführung erneuerbarer Energien bewirkt hätten.

Es handelt sich um Akteure, die als Pioniere beim sozialen Wandel in strategischer Weise vorangehen, wobei die Entwicklung neuer Technologien und Ideen besonders bedeutsam sei (WBGU 2011: 257). Die Schlüsselfunktion von Agenten des Wandels besteht in der Formulierung überzeugender Veränderungsideen, der Vernetzung mit Mitstreitern, der Veränderung von Rahmenbedingungen kollektiven Handelns und der Schaffung neuer Institutionen (Kristof 2010), liegt aber zugleich auch in ihren außeralltäglichen individuellen Fähigkeiten begründet (Holland 2000). Die Agenten des Wandels verbreiten Innovationen, indem sie eine hergebrachte Politik hinterfragen und eine alternative Praxis schaffen. Sie fordern Einstellungs- und Verhaltensmuster heraus. Eine Orientierung an langen Fristen und die Überwindung von Verlust- und Risikoaversionen sind typisch (WBGU 2011: 257). Entscheidend ist, dass die Agenten des Wandels Nachahmer finden. In der Literatur zum transition management werden in diesem Zusammenhang die Nischen thematisiert, in denen Vorreiter (frontrunner) aktiv seien, die mit von der Norm abweichenden Strukturen arbeiten und letztlich ganze soziotechnische Regime verändern können. Letztlich bewirken sie einen radikalen und strukturellen Wandel – über zahlreiche inkrementelle Schritte (Rotmans/Loorbach 2010).

Weniger auf die Wirkung, sondern auf die Art und Weise des Wandels sind Forschungen zur Schlüsselfigur des „Pfadschöpfers“ ausgerichtet, die sich zwischen intraorganisationalem Handeln und interorganisationaler Governance bewegen; diese Forschungsperspektive ist der betriebswirtschaftlichen Organisations- und Managementforschung zuzuordnen. Ausgehend vom Pfadabhängigkeitstheorem bieten die Autoren Garud und Karnøe (2001: 7) eine erweiterte Perspektive an: die Pfadentwicklung („path creation“), welche die Aufmerksamkeit weniger auf existierende Strukturen, sondern auf die „mindful deviation“, die bewusste Abweichung von pfadabhängigen Realitäten lenkt. Nicht die Pfadabhängigkeiten selbst, sondern die Schaffung der Abhängigkeiten (in Form von Regeln, Artefakten und anderen Strukturen) durch Handeln bzw. durch die (Re-) Produktion und Aneignung solcher Strukturen in Praxen auf der Mikroebene wird betont. Ein Pfad ist zugleich Medium und Resultat des Handelns. Das Konzept der Pfadkreation trägt der Tatsache Rechnung, dass Akteure zwar in einem bestimmten vorgegebenen Rahmen, der von zahlreichen Persistenzen geprägt ist, Entscheidungen treffen, sie aber zugleich Möglichkeiten besitzen, Mechanismen der Pfadabhängigkeit zu nutzen, um strategische Entscheidungen durchsetzen zu können.

Dabei steht der entrepreneur im Blickpunkt, der intentional von existierenden Artefakten und Strukturen abstrahiert und sich dabei bewusst ist, Ineffizienzen in der Gegenwart, aber eben zugleich „neue Zukünfte“ zu schaffen. Da die Pfadschöpfer in bestehende Strukturen eingebettet operieren, handelt es sich um Akteure, die institutionelle Rollen zu erfüllen haben. Zugleich verweisen die Eigenschaften, welche die entrepreneurs zu Pfadschöpfern machen, auch auf individuelle Fähigkeiten. Sie vermögen, von bestehenden Strukturen zu abstrahieren, ein Kollektiv zu mobilisieren, experimentell zu handeln, sich in strategischer Weise auf die Geschichte zu berufen und Images der Zukunft zu entwerfen (Garud/Karnøe 2001: 6 ff.).

Ein politikwissenschaftlicher Diskussionsstrang, der für das Verständnis der Rolle von Schlüsselpersonen von Bedeutung ist, ist das Konzept der policy entrepreneurs (Mintrom 1997), das auf John W. Kingdon zurückgeht. Das Erkenntnisinteresse bezieht sich auf die Frage, wie Themen auf die Agenda einer Regierung kommen und welche Interessen, Problemdefinitionen und Lösungsvorstellungen sich durchsetzen. Als „policy entrepreneurs“ bezeichnet Kingdon „advocates who are willing to invest their resources – time, energy, reputation, money – to promote a position in return for anticipated future gain“ (Kingdon 2011 [1984]: 179 f.). Für Kingdon fließen im Politikprozess zu jeder Zeit drei „streams“: „problems“, „policies“ und „politics“. Diese fließen normalerweise unabhängig voneinander, und folgen eigenen Logiken. In bestimmten Situationen öffnen sich jedoch „policy windows“, in denen Verkopplungen der Ströme vorgenommen werden können. Eine neue Sicht auf Probleme wird dann mit einem neuen Lösungsvorschlag verbunden und mit neuen Koalitionen in den Politikprozess eingebracht. Eine zentrale Rolle für diese Kopplung spielen „policy entrepreneurs“. Entscheidend für ihre Schlüsselrolle sind EigenschaftenFootnote 3, die sich auf ihre Reputation, ihre Beziehungen und ihr Verhandlungsgeschick beziehen. Zudem sind sie „persistent“, in dem Sinne, dass sie ständige Präsenz im Politikprozess zeigen und sich langfristig engagieren.

Um policy windows erkennen und ausnutzen zu können, benötigen die policy entrepreneurs eine bestimmte Disposition. Sie haben vorbereitet zu sein, das heißt, die Ideen und Netzwerkkontakte müssen bereits entwickelt sein, bevor die Chance zu ihrer Realisierung tatsächlich eintritt. Sie müssen zudem Krisen als Möglichkeiten zum Handeln begreifen können. Kingdon (2011 [1984]: 181) benutzt hierfür das Bild des Surfers, der zum gegebenen Zeitpunkt, wenn die richtige Welle eintrifft, aufstehen und sein Surfboard reiten muss – aber eben auch das hierfür nötige Geschick zur Hand haben muss.

Spätere politikwissenschaftliche Ansätze betonen, dass es stets auf eine Vielfalt herausragender Einzelpersonen wie Ideengeber und „Überzeugungstäter“ (z. B. bestimmte Beamte, Politiker, Lobbyisten oder Wissenschaftler) mit ihren jeweils eigenen Rollen ankomme, die sich zu Koalitionen zusammenfinden (Sabatier 1993). Roberts und King (1996) differenzieren etwa zwischen „Policy-Intellektuellen“ (die neue Ideen hervorbringen), „Policy-Advokaten“ (die Ideen in Politikvorschläge umsetzen) und „Entrepreneuren“ (die Ressourcen zusammenführen, um Ideen zu implementieren).

Allen unter dem Begriff „Governance-Pioniere“ zusammengefassten Konzepten ist über die disziplinären Unterschiede hinweg gemein, dass sie die Einbettung herausragender Einzelpersonen (Promotoren, Agenten des Wandels, Pfadschöpfer und policy entrepreneurs) in Kollektive sowie in institutionelle und materielle Strukturen thematisieren. Stärker noch als Forschungen zu Leadership und zu Intermediären werden hier Schlüsselfiguren als individuelle Akteure in kollektiven Akteurskonstellationen analysiert. Ihre individuellen Attribute werden dennoch nicht negiert, sondern vielmehr häufig mit Bezug auf andere, stärker das Individuum betonende Literaturen hervorgehoben. Es herrscht die Dialektik vor, dass Governance-Pioniere einerseits über genaue Kenntnisse über ihre Akteurskonstellationen und deren handlungsleitende Institutionen verfügen müssen, um die Wirkungen ihres Handelns abschätzen und Koalitionen des Wandels schmieden zu können. Andererseits müssen sich Governance-Pioniere von denselben Kollektiven und Strukturen distanzieren, um überhaupt reflektiert Änderungen vornehmen zu können.

3 Die Räumlichkeit von Schlüsselfiguren

Kann nun der Einfluss von Schlüsselfiguren auch damit erklärt werden, wie sie mit Raum umgehen oder im Raum agieren? Die von uns analysierte Literatur bietet hierfür aufgrund des Mangels an direkten konzeptionellen Raumbezügen kaum eine Antwort. Räumliche Aspekte werden offenbar bei der sozialwissenschaftlichen Erforschung von Wandlungsprozessen, die durch Schlüsselfiguren induziert werden, systematisch unterschätzt. Um das Thema „Räumlichkeit“ dennoch handhabbar zu machen, haben sich unsere Suchbewegungen von folgenden Raumdimensionen (Kilper 2010a) leiten lassen:

  • Beziehungs- und Interaktionsräume: Dies sind eher kurzfristige Raumkonstrukte, die durch soziale Interaktion und Austauschprozesse konstituiert werden, z. B. in Netzwerken der Ökonomie oder der Zivilgesellschaft.

  • Handlungs- und Institutionenräume: Hiermit sind meist mittelfristig gültige Raumkonstrukte gemeint, die durch kollektives Handeln von Akteuren bzw. durch die räumliche Gültigkeit von Institutionen (verstanden als Regelsysteme) konstituiert werden.

  • Kultur- und Identitätsräume: Hierbei handelt es sich um langfristige Raumkonstrukte im Ergebnis intersubjektiver Raumdeutungen und ihrer Objektivierungen in Sprache, Raumbildern und Materialitäten, die jeweils grundlegend für kollektive Identitäten sein können.

Diese Dimensionen erfassen nicht das Spektrum aller möglichen Operationalisierungen von Räumlichkeit. Allerdings haben sie ihre Eignung für empirische Analysen bereits unter Beweis gestellt (vgl. Beiträge in Kilper 2010b) und bauen auf in den Raumwissenschaften geteilten Ansätzen auf, weswegen sie geeignet erscheinen, relevante Raumbezüge zu entdecken. Im Folgenden werden mit diesen Dimensionen zunächst die drei zuvor erörterten Typen von Schlüsselfiguren (Leader, Intermediär und Governance-Pionier) auf ihren Raumbezug hin interpretiert. Anschließend sollen in der Zusammenschau die dabei erkennbaren Profile herausgearbeitet und übergreifend bewertet werden.

3.1 Raumbezüge von Leadership

Leadership hat räumliche Implikationen. So produziert Leadership Beziehungs- und Interaktionsräume, die stark durch direkte und persönliche Interaktion zwischen Leader und Anhängerschaft gekennzeichnet sind. Die Notwendigkeit, den Glauben der Anhängerschaft an außeralltägliche Fähigkeiten eines charismatischen Führers durch erfolgreich bestandene Bewährungsproben immer wieder zu aktualisieren (Weber 1980 [1921]) erfordert Ko-Präsenz der Beteiligten. Diese Überlegungen legen es nahe, dass Leadership in den Raumwissenschaften als place-based (Beer/Clower 2014) zu denken sei, also sowohl in der Wirkung als auch in Bezug auf mobilisierbare Ressourcen auf ein engeres räumliches Umfeld beschränkt sei. Der Bürgermeister wäre eine typische Verkörperung dieser Form der Führung (Getimis/Hlepas 2006).

Zu Handlungs- und Institutionenräumen ist im Konzept von Leadership ein ähnlich spannungsreiches Verhältnis zu erwarten wie etwa zu etablierten Organisationen. Grundsätzlich ist Leadership sowohl innerhalb administrativer Grenzen als auch in neuen handlungsräumlichen Bezügen denkbar und möglich (z. B. in regionaler Hinsicht vgl. Sotaurata 2009). Das Handeln von Schlüsselfiguren im Sinne von Leadership baut aber weniger auf die in solchen Handlungsräumen mobilisierbaren Ressourcen und zielt seinem Wesen nach auch nicht auf eine dauerhafte Veränderung von solchen Räumen. Vielmehr dominieren „flexible institutional strategies“ (Sotarauta 2009: 896), mithin eine zeitlich befristete, an die Mission der Führungsfigur fallweise angepasste, opportunistisch selektive Nutzung territorial verankerter Institutionen und mobilisierbarer Ressourcen.

Kultur- und Identitätsräume spielen für Leadership eine entscheidende Rolle: „What leaders must do […], is construct an imaginary community that followers can feel part of“ (Grint 2000: 6). Derartige Identitäten wiederum greifen stark auf kulturell vermittelte Werte und Symbole zurück. Kollektive, oft kulturräumlich verankerte Identitäten werden dabei sowohl aufgegriffen als auch in strategischer Weise in Frage gestellt, um die Außeralltäglichkeit der Leadership zu manifestieren. Beweise für außeralltägliche Führungseigenschaften wirken am stärksten, wenn sie unmittelbar bezeugt werden. Daher wird die Fortführung von lokalen Traditionen ebenso wie der Bruch mit ihnen symbolisch und materiell überhöht, etwa in Form expressiver Bauwerke, avantgardistischer Kunstwerke im öffentlichen Raum oder ungewöhnlicher Landschaftsgestaltungen. Diese sollen die Überlegenheit des Ansatzes gegenüber dem etablierten Bestand exemplarisch belegen (Ibert 2003).

3.2 Raumbezüge von Intermediären

Aufgrund der Wichtigkeit, die dem „Dazwischen-Sein“ bescheinigt wird, sind dem Konzept des Intermediärs zahlreiche räumliche Implikationen eingearbeitet. Die entsprechenden Beziehungs- und Interaktionsräume sind vor allem durch die Überwindung verschiedener Formen von Distanzen gekennzeichnet. Ein erhöhtes Maß an räumlicher und sozialer Mobilität unterscheidet den Intermediär in all seinen Spielarten von anderen Beteiligten. Während kulturelle Fremdheit auf den Wechsel des permanenten Wohnorts zurückzuführen ist, sind Konzepte wie Boundary Spanning (Tushman 1977) und Brokerage (Burt 2004) mit zirkulärer Mobilität assoziiert. Durch häufiges Reisen werden Kontakte mobilisiert und strukturelle Löcher kreiert. In der Idee eines transnationalen Unternehmertums (Yeung 2009) wird diese Assoziation zwischen räumlicher Mobilität und besonderen Fähigkeiten in Prozessen sozialräumlichen Wandels in einem Konzept vereint hergestellt.

Fremdheit und Vermittlerrollen à la Boundary spanning und Brokerage sind aber nicht allein durch Wanderung im physischen Raum zu verstehen, sondern auch durch die Überwindung relationaler Distanzen zwischen verschiedenen Handlungs- und Institutionenräumen. So verbindet beispielsweise Dicken (2015: 233) die Idee der „arbitrage“ aus der Netzwerkstrukturforschung mit Praktiken der Globalisierung von Wirtschaftsprozessen, durch die die jeweiligen Vorteile und Regulierungslücken verschiedener Institutionenräume zu einem neuen, transterritorialen Handlungsraum verknüpft werden („territorial arbitrage“). Hier werden räumlich verteilte Ressourcen zum Vorteil der agierenden Unternehmen miteinander verknüpft. Intermediäre können zwischen verschiedenen Institutionenräumen vermitteln, sei es zwischen den unterschiedlichen Regeln und Erwartungshaltungen, die sich innerhalb von Unternehmensabteilungen ausdifferenzieren können, oder zwischen den Regeln, die in ihrer Wirkung auf politisch-administrative Räume begrenzt sind.

Die Arbeiten zu kultureller Fremdheit hingegen konzipieren soziale Mobilität vor dem Hintergrund von Kultur- und Identitätsräumen. Durch die Kombination mehrerer (sub-)kultureller Milieus und Wissenskulturen (Knorr-Cetina 1999) können neuartige Praktiken entstehen („boundary practices“, Wenger 1998: 114; Ibert/Müller/Stein 2014), die ohne das Momentum der kulturellen Fremdheit nicht zu verstehen sind. Die Objektivität des Fremden und seine Ungebundenheit sind als Resultate einer kulturellen Distanz trotz räumlicher Nähe zu interpretieren. Allerdings sind Intermediäre in ihrem Wirken oft darauf angewiesen, mit den Partnern persönlich zusammenzukommen. Gerade die strategischen Netzwerkkontakte eines Brokers, die in anderer Hinsicht als „distanziert“ zu betrachten sind (z. B. kognitive Distanz; Nooteboom 2001), erfordern eine intensive Pflege, was sich leichter einrichten lässt, wenn die Beteiligten sich in räumlicher Nähe zueinander befinden (Grabher/Ibert 2006). Urbane Räume, die sich durch die räumliche Konzentration unterschiedlicher (Sub-) Kulturen auszeichnen (Siebel 2015: 285 ff.), bieten begünstigende Gelegenheiten für Brokerage. Für die Raumentwicklung impliziert dieser Diskursstrang vor allem, dass eine solche nur unter der Bedingung gelingen kann, dass regionale Akteure sich nicht allein nach Innen orientieren sollten, sondern sich auf eine selbstbewusste und durchdachte Art für Impulse von außen öffnen (Grabher 1994; Müller/Brinks/Ibert et al. 2015).

3.3 Raumbezüge von Governance-Pionieren

Beziehungs- und Interaktionsräume können durchaus direkte Handlungsresultate von Governance-Pionieren sein. So weisen etwa interorganisationale Netzwerke mit Experten und Entscheidungsträgern ebenso eine räumliche Komponente auf, wie Positionen in Entscheidungsprozessen durch räumliche Bezüge von Organisationen determiniert sind. Die Figur des Beziehungspromotors (Gemünden/Walter 1999 [1995]) steht exemplarisch für das Erfordernis, auch in kollektiven Handlungskontexten Personen zusammenzubringen und soziale Bindungen zu fördern. Freilich sind Beziehungs- und Interaktionsräume nicht der primäre Gegenstand raumbezogener Governance-Pioniere. Sie sind vielmehr eine Ressource, die es bei der Ausgestaltung kollektiver Raumkonstrukte zu mobilisieren und zu nutzen gilt.

Die Konstituierung von kollektiven Handlungs- und Institutionenräumen stellt den entscheidenden Aspekt des Wirkens von Governance-Pionieren dar. Die in Kapitel 2.3 vorgestellten Konzeptionen von Governance-Pionieren sind alle dementsprechend interpretierbar: Die Rollenbilder des Promotors sind für die Analyse von Prozessen der Entwicklung von Handlungsräumen – verstanden als Management von Koordinationsaufgaben und Kooperationskultur (Fürst 2014: 454 ff.) – passend. Agenten des Wandels können, um innovatorische Nischen innerhalb von Transitionsprozessen einzurichten, Handlungs- und Institutionenräume schaffen oder rekonstruieren (Gailing/Röhring 2016). Forschungen in der Nachfolge von Garud und Karnøe zu Pfadschöpfungen haben gezeigt, dass Strategien und Handeln der Pfadschöpfer immer sowohl historisch als auch geographisch eingebettet sind (Sydow/Lerch/Staber 2010) – sowie in einen politischen und ökonomischen Handlungskontext (Dawley 2014: 98) und in eine institutionelle Landschaft, die das Handeln der Pfadschöpfer erst möglich macht (Simmie 2012: 756). Policy entrepreneurs der Raumentwicklung schaffen und restrukturieren politisch-administrative und andere kollektive Handlungsräume. Sie bewegen sich dabei auf verschiedenen Skalen der Raumentwicklung und integrieren verschiedene Sektoren, wie es Meijerink und Stiller (2013) für die Klimaanpassungspolitik dargelegt haben.

Kultur- und Identitätsräume spielen für das Wirken von Governance-Pionieren eher eine rahmende Rolle. Der Gestalter sozialräumlichen Wandels wird weder seine Einbettung noch die Einbettung der bestehenden kollektiven Governance-Formen und Institutionen in Objektivierungen in Sprache und Raumbildern sowie in materiellen und immateriellen Ausdrucksformen negieren können. Er wird überkommene Kultur und Identität in einem Raumausschnitt entweder als eine Restriktion empfinden, von der es sich im Sinne einer Rolle als Agent des Wandels zu lösen gilt. Hier bestehen dann Parallelen zur oben beschriebenen Rolle des Leaders bei der Inszenierung von Brüchen regionaler Entwicklung. Oder aber er wird sie als Ressourcen des Wandels interpretieren, die es für die Gestaltung kollektiver Handlungsformen und Regeln neu zu interpretieren und nutzen gilt. Die Nutzung und Re-Interpretation überkommener Raumbilder, -symboliken, -traditionen und -narrative ist dann eine Schlüsselfunktion für die Gestaltung neuartiger Governance-Formen (Gailing 2014: 275 ff.). Die kultur- und identitätsräumlichen Angebote stellen insgesamt einen machtvollen produktiven Rahmen für Subjektivierungen von Governance-Pionieren bereit (Gailing 2015: 47 f.). Sie stehen aber allenfalls in langfristigen Prozessen und über längere Wirkketten Governance-Pionieren als veränderbarer Gegenstand zur Verfügung.

3.4 Zusammenschau

Die Querauswertung der – oftmals impliziten – raumbezogenen Argumente in den theoretischen Konzepten zeigt, dass das Handeln von Schlüsselfiguren in zwei grundlegende Richtungen differenziert werden kann, die sich freilich empirisch nicht ausschließen. Räume sind dementsprechend entweder Gegenstand oder Ressource des Handelns von Schlüsselfiguren.

Auf der einen Seite agieren Schlüsselfiguren „in Räumen“ und können diese Räume als Gegenstände von Wandlungsprozessen verändern oder prägen. Governance-Pionieren kann es etwa gelingen, qua Reskalierung neue regionale Handlungsräume zu konstituieren oder eine bewusste Abweichung von Gewohntem einzuleiten, indem Kenntnisse zur Verstärkung von institutionellen Pfadabhängigkeiten für eine gewollte Richtung des Wandels ausgenutzt werden. Alle Typen von Schlüsselfiguren sind darüber hinaus dazu in der Lage, Beziehungs- und Interaktionsräume zu schaffen oder zu gestalten, z. B. in der Beziehung zwischen Leader und Anhängerschaft, zwischen Partnern in Netzwerken oder zwischen (kollektiven) Akteuren. Kultur- und Identitätsräume sind aufgrund ihrer Langfristigkeit erheblich schwerer bewusst und aktiv zu gestalten.Footnote 4

Auf der anderen Seite mobilisieren Schlüsselfiguren räumlich verteilte soziale, institutionelle und kulturell-symbolische Ressourcen und rekombinieren diese im Zuge von Wandlungsprozessen. Schlüsselfigur zu sein bedeutet demnach, Räume nicht einfach als „container for their interventions“ (Marvin/Guy/Medd et al. 2012: 214) zu akzeptieren, sondern sie als Gelegenheitsstrukturen zu begreifen. Die verschiedenen Typen von Schlüsselfiguren bringen in aktiver Auseinandersetzung mit Räumen und Raumstrukturen Ressourcen hervor und induzieren sozialen Wandel durch ihre Art der Mobilisierung und Kombination von Ressourcen. Die Typen von Intermediären legen es beispielsweise jeweils nahe, dass Schlüsselfiguren in der Lage sind, in ihren Beziehungsräumen das Wissen und die Unterstützung von distanzierten Beziehungen zu aktivieren und dabei räumlich verteilte Ressourcen zu mobilisieren oder in ihrer unmittelbaren Umgebung diverse Ressourcen zusammenzuführen. Zudem zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie aus Unterschieden und Widersprüchen verschiedener Institutionensysteme – territorial gebundene wie weitgehend a‑territoriale – Gelegenheiten des Wandels organisieren können. Tabelle 1 zeigt zusammenfassend Profile der Rollen von Schlüsselfigurtypen bezogen auf die beiden Denkfiguren „Raum als Gegenstand“ und „Raum als Ressource“.

Tab. 1 Raumbezogene Profile der Rollen von Schlüsselfigurtypen

4 Fazit

Eingangs sind Schlüsselfiguren definiert worden als einzelne Personen, die in komplexen Prozessen des sozialräumlichen Wandels einen entscheidenden Unterschied (Sotarauta 2014) ausmachen. Alle diskutierten Ansätze eint diese grundlegende Perspektive. Allerdings unterscheiden sich die Ansätze wesentlich in der Frage, welchen Beitrag zum Wandel den Schlüsselfiguren zugeschrieben werden kann. Wandel wird dabei mit unterschiedlichen Begriffen gefasst, etwa Transition, Kreativität, Innovation, Pfadschöpfung. In einigen Konzeptionen, wie beim kulturell Fremden, ist es die Fähigkeit zu hinterfragen oder Gegebenes vorurteilsfrei zu analysieren. Andere Konzeptionen gehen sehr viel weiter und thematisieren den persönlichen Beitrag in Prozessen der Implementation von Programmen oder sogar der Pfadkreation.

Die Konzeption der Schlüsselfigur kann dabei stets aus zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven erfolgen. Zum einen können sehr individuelle und persönliche Eigenschaften und Attribute interessieren. Gefragt wird dann: Was macht diese Person einzigartig? Warum sticht sie so hervor, dass ihr Eigenschaften einer Schlüsselfigur zugeschrieben werden können? Ist es ihr Wissen, ihre Objektivität, ihre Begeisterungsfähigkeit? In den Antworten auf diese Fragen kombinieren alle hier ausgewerteten Literaturen attributive und relationale Erklärungen miteinander.Footnote 5 Das Wirken von Schlüsselfiguren ist weder rein individuell, noch rein kontextuell zu erklären, sondern vor allem aus dem dialektischen Zusammenspiel beider zu verstehen. Es wird also sowohl eine Konzeption benötigt, die Individuen als Subjekte, mit der Fähigkeit zur Imagination und Interpretation (Grint 2000) konzipiert, die strategisch handeln und sich sozial verknüpfen, als auch ein Verständnis der räumlichen, sozialen, institutionellen und kulturellen Kontextbedingungen, unter denen die Fähigkeiten des Individuums sichtbar hervortreten und zur Entfaltung kommen.

Zum anderen geht es darum zu erforschen, wie ein Einzelner eine derart große Wirkung entfalten kann, dass dies als bahnbrechend für sozialen Wandel empfunden wird. Hinweise bieten etwa all jene Forschungsansätze, die wie die Konzeption des Pfadschöpfers auf die potenziell weitreichende Wirkung „kleiner“ Ereignisse verweisen. Konzeptionen von Leadership erklären die starke Wirkung Einzelner damit, dass diese andere mitreißen, weil sie als Vorbilder gesehen werden oder weil sie Überzeugungskraft besitzen. Die Vorstellung von Intermediären schließlich lebt davon, Ideen und handelnde Personen zusammenzubringen sowie Koalitionen zu schmieden, wo zuvor nur unverbunden voneinander agiert werden konnte. Das Wirken der Schlüsselfiguren kann also darin liegen, Impulse des Wandels zu setzen oder bestehende Impulse entscheidend zu verstärken.

Personen werden zu Schlüsselfiguren, ohne dass sie dies intendiert haben müssen. Der Fremde, der eigentlich nur seine persönliche Situation der Fremdheit bewältigen muss, dabei aber Momente des Wandels in die Aufnahmegesellschaften hineinträgt, handelt deutlich weniger intentional als hochgradig strategische Figuren wie der policy entrepreneur oder der Agent des Wandels, die ihr Wirken von langer Hand vorbereiten und die sehr reflektiert und bewusst in komplexe Veränderungsprozesse intervenieren. In allen Fällen ist eine doppelte Konstruktion der Personen „als“ Schlüsselfiguren anzuerkennen: einerseits im sozialen Feld über Zuschreibungen und Handeln, Institutionalisierungen, Organisationsregeln und andererseits durch den Sozialwissenschaftler, der Personen vor dem Hintergrund seiner Forschungsziele oder normativen Einsichten „als“ Schlüsselperson ex-post auffasst. Auch hier gilt: Es sind oftmals erst die Fremdzuschreibungen, die aus einem Handelnden einen Leader oder einen „Intermediär“ machen; Broker, die „strukturelle Löcher“ besetzen, agieren intuitiv, kennen aber nicht die Netzwerkstrukturen, in denen ihre Schlüsselrolle durch eine markante Position analytisch fassbar wird. Es sind die Akteure im Umfeld der Schlüsselfiguren sowie auch die sie untersuchenden Wissenschaftler, die aus solchen Individuen erst „Schlüsselfiguren“ im Sinne dieses Artikels machen.

Zusammenfassend können drei zentrale Dimensionen unserer Beschäftigung mit Schlüsselfiguren im sozialräumlichen Wandel festgehalten werden:

  1. 1.

    Skalarität: Wir haben in diesem Beitrag das Wirken von Schlüsselfiguren zunächst nach verschiedenen Skalen aufgeschlüsselt betrachtet, wobei jeweils andere Merkmale in den Vordergrund treten. Während auf der Mikroebene die direkte Interaktion zwischen Leader und Anhängerschaft im Vordergrund steht, geht es auf der Mesoebene interpersonellen Handelns in Netzwerken stärker um die Fähigkeit der Vermittlung, Übersetzung, Interpretation von Unterschieden und die Mobilisierung von verteilten Ressourcen. Auf der Makroebene schließlich spielen die zuvor genannten Aspekte immer noch eine Rolle. Hinzu kommen allerdings die strategische Gestaltung von Politikinhalten und Institutionen sowie die Initiierung kollektiver Wandlungsprozesse. Wichtig ist zu verstehen, dass eine skalensensible Betrachtung des Handelns von Schlüsselfiguren keine Kurzschlüsse auf die Räumlichkeit zulässt. So muss „Leadership“ keinesfalls lokal sein, und Governance-Pioniere können umgekehrt äußerst komplexe Handlungskoordinationen auf einer lokalen Ebene gestalten.

  2. 2.

    Räumlichkeit: Hinsichtlich der räumlichen Dimension hat sich die Betrachtung nach Beziehungs- und Interaktionsräumen, Handlungs- und Institutionenräumen sowie Kultur- und Identitätsräumen bewährt. Es konnte gelingen, spezifische Profile der Rollen von Schlüsselfiguren im Umgang mit diesen Raumkonstrukten herauszuarbeiten. Dabei wurde eine zweite Unterscheidung relevant: jene zwischen Raum als Gegenstand von Wandel und Raum als Ressource von Wandlungsprozessen. Das Verständnis für die Rolle von Schlüsselfiguren im sozialräumlichen Wandel dürfte zunehmen, wenn nicht nur danach gefragt wird, welche Raumkonstrukte durch das Wirken der Schlüsselfiguren entstehen, sondern zugleich auf die Fähigkeit und Möglichkeit dieser hervorgehobenen Personen fokussiert wird, räumlich verteilte Ressourcen zu mobilisieren. Dennoch wird insgesamt deutlich, dass bei den Typen und theoretischen Konzeptionen Raum noch keine zentrale Kategorie darstellt.

  3. 3.

    Zeitlichkeit: Im Gegensatz dazu werden Zeitlichkeiten sehr viel prominenter thematisiert, wenn etwa das kurzfristige Ergreifen von Gelegenheiten und das Schaffen von entscheidenden Momenten (des Erkennens, des Eingreifens) erklärt wird vor dem Hintergrund langfristig angelegter, strategischer Vorbereitung. Des Weiteren werden unterschiedliche zeitliche Reichweiten des Wandels unterstellt. Die Schaffung von Entwicklungspfaden oder das Nutzen von policy windows verweisen darauf. Eine Querauswertung aller Typen legt nahe, dass ein und dieselbe Schlüsselfigur kaum in umfassenden Formen des Wandels, etwa eines Wandels ganzer soziotechnischer Systeme, immer auf dieselbe Art und Weise wirken kann. Vielmehr durchlaufen Prozesse des Wandels unterschiedliche Stadien, in denen Schlüsselfiguren unterschiedlich wichtig sind, aber auch unterschiedliche Typen von Schlüsselfiguren mehr oder weniger produktiv im Sinne eines Wandels wirken. Beispielsweise hilft die Fähigkeit, bestehende Sichtweisen auf die Welt in Frage zu stellen, in frühen Phasen von Prozessen des Wandels, in denen Routinen und Gewohnheiten dominieren. Zugleich ist diese Fähigkeit weniger hilfreich, wenn es darum geht, Ressourcen zu mobilisieren, um eine neue Entwicklungsidee praktisch zu implementieren oder in den Rang von territorial wirksamen Programmen zu heben. Dies impliziert, dass Schlüsselfiguren zwar bestimmte Phasen des Wandels beflügeln, dieselben Personen aber in anderen Phasen eine untergeordnete oder sogar eine hinderliche Rolle spielen können. Zudem verweist dies auf die Möglichkeit, dass in einem umfassenderen Wandlungsprozess, verschiedene Schlüsselfiguren in verschiedenen Stadien wirken und sich mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Begrenzungen komplementär ergänzen können. In umfassenderen Prozessen des Wandels kann es also nicht nur entscheidend sein, eine Schlüsselfigur zu finden, sondern auch eine bereits gefundene Schlüsselfigur im weiteren Verlauf des Prozesses durch eine Schlüsselfigur mit anderen Qualitäten zu ersetzen.

Die drei in diesem Kapitel diskutierten analytischen Dimensionen – Skalen, Raum und Zeit – sind zugleich als Forschungsdesiderate für die Analyse von Schlüsselfiguren im sozialräumlichen Wandel aufzufassen. Von besonderem Interesse dürften dabei Verknüpfungen zwischen den drei Dimensionen sein: Welche Rollen und Vorgehensweisen von Schlüsselfiguren zeigen sich hinsichtlich der Phasen des Wandels, hinsichtlich der Mobilisierung räumlicher Ressourcen sowie hinsichtlich der Wirkungen auf Raumkonstrukte? Welche Rolle spielen Raum als Gegenstand und Raum als Ressource in zeitlichen Phasen eines durch eine Schlüsselfigur induzierten sozialräumlichen Wandels? Welche skalaren Veränderungen werden vorgenommen? Wie ergänzen oder behindern sich skalare und räumliche Perspektiven? All diese Fragen sind empirisch zu bearbeiten, um die in diesem Beitrag skizzierten Überlegungen zu untersetzen, zu detaillieren oder zu widerlegen.

Auch sollte die Begrenzung unserer Studie auf sozialwissenschaftliche Konzeptionen überwunden werden. Der Begriff „Figur“ verdeutlicht, dass es sich hier primär um idealtypisierende Überlegungen handelt. Empirisch können selbstverständlich immer nur reale Personen untersucht werden (Bernt 2015; Müller 2015). Neben eine Erforschung von überindividuell typischen Verhaltensmustern, wie sie hier unter dem Begriff der Schlüsselfiguren erfolgt ist, könnte auch eine Forschung zu historisch konkreten Schlüsselpersonen treten. Derartige Forschungen würden stärker die Spezifika der biographischen Sozialisation, des historischen Kontexts und der Psychologie der Persönlichkeit herausarbeiten. Diese angedeutete Forschungsrichtung wird sicher darauf angewiesen sein, sich interdisziplinär zu öffnen und stärker als dies im Rahmen dieses Beitrags möglich war, beispielsweise Erkenntnisse der historischen Biographieforschung und der sozialpsychologischen Persönlichkeitsforschung rezipieren müssen.