1 Einleitung

Die in der Wissenschaft gängige Unterscheidung zwischen internationaler, grenzüberschreitender und intranationaler Migration (z. B. Glick Schiller/Basch/Blanc-Szanton 1992; Faist 2000; Ehrkamp/Leitner 2006) mündet in einer Reproduktion umgrenzter räumlicher Container (Hannerz 1996: 6). Nationale Grenzen sind dabei die Repräsentanten der Nationalstaatlichkeit, die Grenzen der Nationen sowie die Grenze ihrer verwaltungsrechtlichen, politischen und fiskalischen Einflussbereiche. Ihre unterschiedliche Porosität ist Ausdruck unterschiedlicher Grenz- und Migrationsregime. Diese Regime können sich durch unterschiedliche „Steuerung in der Abwehr und Kontrolle von Zuwanderung und Zuwanderern [äußern]…. Denn die Steuerungsversuche auf internationale Migration müssen unweigerlich im Zusammenhang damit gesehen werden, inwieweit – erstens – jeder originär anspruchsberechtigte Bürger an den für ihn verbürgten Rechten unbeeinträchtigt partizipieren kann, und – zweitens – inwiefern der Nationalstaat weiterhin die exklusive, nach außen geschlossene Bürgergemeinschaft vereint halten kann“ (Geiger 2011: 30).

Das Schengen-Abkommen 1992 hat die Grenzen der unterzeichnenden Staaten für die Freizügigkeit von Personen, Gütern, Waren und Dienstleistungen durchlässiger gemacht. Durch die Auflösung politisch manifestierter Barrieren entwickelten sich Grenzregime zwischen den Schengen-Staaten zu transnationalen sozialen Räumen (Pries 1996: 460), deren Bewohner am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben zweier Nationalstaaten teilhaben können. „Atypische Grenzgänger“ (Wille o. J.), die im Gegensatz zu „typischen“ Grenzgängern im benachbarten Ausland wohnen und in ihre „Heimatregion“ zum Arbeitsplatz pendeln, sind ein Phänomen, das durchaus als eine Erscheinung dieser transnationalen sozialen Räume gesehen werden kann. In diesem Beitrag wird am Beispiel des deutsch-luxemburgischen und des deutsch-polnischen Grenzraumes nachgezeichnet, inwieweit „atypische Grenzgänger“ Bestandteile dieser Grenzregime sind, wie sich Transnationalität in diesen Regionen widerspiegelt und welche raumwirksamen Implikationen transnationale Lebensentwürfe an der deutsch-luxemburgischen und der deutsch-polnischen Grenze haben. Dabei wird zunächst auf das Konzept der Transmigration als eine Wanderungsform, die „vom Betroffenen selbst […] unabgeschlossen“ gehalten wird (Gogolin/Pries 2004: 6), eingegangen. Nach einer Beschreibung des methodischen Ansatzes, der für die Untersuchung der Fallbeispiele Perl (Saarland) und Löcknitz-Penkun (Mecklenburg-Vorpommern) die Grundlage bildet, folgt die Beschreibung der Fallbeispiele, ehe im Fazit die transnationalen sozialen Räume in den beiden Fallregionen dargestellt und auf ihre raumplanerische Bedeutung hin verglichen werden.

2 Konzept der Transmigration

Für das Konzept der Transmigration spielen das Überwinden, die Konstruierung und das Kontextualisieren von Staatsgrenzen eine bedeutende Rolle. Nationale Grenzen sind dabei „active and polymorphous social constructions which are the outcome of people’s need to make differences“ (Gielis 2009: 598). Grenzen können deterritorialisiert in Form von Linien und reterritorialisiert als Objekte oder als wahrgenommene Reproduktionen (z. B. Stereotypen) konstruiert werden (Strüver 2003). Simmel beschreibt dies folgendermaßen: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (Simmel 2006/1908: 23). Dabei verändern Grenzen ihre Bedeutung und ihre Durchlässigkeit. Linde-Laursen (2010: 3) bezeichnet dies als „bordering“, das „must be regarded as a dynamic cultural process, always changing in response to historic developments and constantly being transformed by and transforming the social, cultural, and political contexts of the very nature of the limit“. Grenzen sind daher vor allem sozial konstruiert, weniger physisch gegeben (Gielis 2009: 606). Politische Grenzen gelten als komplexe Systeme, die ihre Rolle und Funktion sowie ihre Lage verändern können, wodurch Lebenswelten dann Grenzen überwinden müssen, die vorher nicht existierten. Außerdem werden nationalstaatliche Grenzen durch Prozesse und Diskurse sowie „boundary-producing practices“ (Paasi 2011: 13) gebildet und reproduziert.

„Transnationalism as a concept was most likely first coined by Bourne (1916) as a critique of the classic conceptualisation of international migration. […] For him transnationalism thus implied something of an in-betweenness, the timespace between the culture of origin and the culture at the migration destination“ (Ernste/van Houtum/Zoomers 2009: 578). Transnationale Aktivität kann von Entscheidungsträgern wie Regierungsvertretern, Wirtschaftsmächten, multinationalen Unternehmen, aber auch durch Individualpersonen ausgeübt werden – sowohl von oben nach unten (top-down) als auch von unten nach oben (bottom-up) (Portes 1999: 464; Portes/Guarnizo/Landolt 1999: 221).

Durch diese transnationale Aktivität unterscheidet sich Transmigration von anderen Formen der Migration: der Emigration als Auswanderung nach dem ius sanguinis-PrinzipFootnote 1, der Immigration als Zuzug, der Re-Migration als Rückzug oder der saisonalen Migration, die zeitlich befristet ist (z. B. Castles/Miller 2009; Nienaber/Frys 2012: 75), um an dieser Stelle nur einige andere Formen der Migration zu nennen. Transmigration zeichnet sich dadurch aus, „dass der Wechsel zwischen verschiedenen Lebensorten in unterschiedlichen Ländern kein singulärer Vorgang ist, sondern zu einem Normalzustand wird, indem sich der alltagsweltliche Sozialraum der Transmigranten pluri-lokal über Ländergrenzen hinweg zwischen verschiedenen Orten aufspannt“ (Gogolin/Pries 2004: 13). Bei der Transmigration werden mindestens zwei Staaten im Lebensalltag eingeschlossen, in denen „people play an active role in shaping transnational space“ (Ernste/van Houtum/Zoomers 2009: 582). In Ergänzung dieser Definition können mindestens zwei, bei einigen Migranten aber auch mehr Nationalstaaten im Lebensalltag verbunden werden. Dabei muss die transnationale Aktivität ein Schlüsselcharakteristikum der Migranten darstellen (Castles/Miller 2009: 32). Van Houtum und Gielis (2006: 195) sprechen von „elastic migration“, die durch Verbindungen beiderseits der Grenze, durch Arbeit, Familie, soziales Umfeld bestimmt werden. Urry (2007) geht über die Migration hinaus zu einem Mobilitätsparadigma, mit dem jegliche Form der Mobilität (einschließlich der internationalen Migration) und mobiler Praktiken Charakteristika der heutigen Gesellschaft darstellen.

Gielis (2009: 606) sieht Grenzen als „experience“ und Transmigration als „awareness of living in-between which migrants get when national spheres meet each other in their everyday life“ (Gielis 2009: 604). Dieses Erfahren oder Erleben von Grenze kann durch Dritte gegeben sein (z. B. fiskale Grenzen, Einwanderungsgesetze, Grenze des Handynetzes), aber auch durch die Migranten selbst entstehen (z. B. mentale bzw. kulturelle Grenzen). Dieses Erfahren geschieht sowohl im Herkunfts- als auch im Zielgebiet (Gielis 2009: 603). Obwohl die Grenzen vor allem innerhalb der EU und des sogenannten Schengen-Raumes an institutioneller Bedeutung verlieren, ist ihre Bedeutung im Alltagsleben der Migranten nach wie vor gegeben und kann sogar wichtiger Bestandteil grenzüberschreitender Identitätsbildung sein (vgl. Madsen/van Naerssen 2003). Transnationale Praktiken und Lebenswelten können die Sicht in der soziokulturellen Heimat, die Bedeutung von Identitäten, Grenzen und Ordnungen im politischen Kontext verändern sowie zu institutionellen Veränderungen grenzüberschreitender Entwicklung führen. Damit kann transnationale Aktivität auch das lokale Umfeld, das selbst keine Transnationalität lebt, umwandeln (Vertovec 2004: 971 und 976). „The […] cross-border social spaces that are being formed are serving to define, more and more, the social worlds of those involved. Such networks, once established, are themselves serving as facilitators of new waves of migration, of return, moving on and re-return. Indeed, the growing complexity of contemporary international migration pathways, nodes, moorings and way-stations as well as their global reach, is without precedence“ (Conway/Potter 2009: 1).

Kritik am Konzept der Transmigration besteht in der Präzisierung der Art, Intensität und Bedeutung transnationaler Verbindungen (Mahler 1998). Faist (2000: 190 und 218) plädiert daher für den Begriff „transnational social spaces“, der das Verhältnis zwischen Herkunfts- und Ankunftsregion bei der Transmigration besser zu erfassen vermag. „Als aktive soziale Akteure bilden Transmigranten neue kulturelle Muster und Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung heraus. Im Gegensatz zu klassischen Immigranten oder Einwanderern, die sich über mehrere Generationen in die Aufnahmegesellschaft assimilieren bzw. integrieren oder aber als Rückkehrer dauerhaft in die Herkunftsregion zurückkehren, positionieren sich Transmigranten in beiden (oder allgemein: mehreren) Regionen und Plätzen“ (Gogolin/Pries 2004: 14). Dieser Beitrag wird im Folgenden auf die räumlichen Implikationen, die dieses Alltagshandeln mit sich bringt, eingehen.

3 Methodik

2011 fand eine telefonische Befragung aller Einwohnermeldeämter der grenznahen Gemeinden Deutschlands zu aktuellen Daten der Ausländerzahlen und Nationalitäten der in der jeweiligen Gemeinde lebenden Ausländer statt. Dabei fielen die Gemeinden Perl im Saarland und das Amt Löcknitz-Penkun in Mecklenburg-Vorpommern durch einen sehr hohen Anteil an ausländischen Staatsangehörigen aus dem direkten Nachbarland auf, bedingt durch die Nähe zu den stark wachsenden Wirtschaftsstandorten Luxemburg und Stettin.

Daraufhin fanden 30 Interviews in der Gemeinde Perl und 40 Interviews im Amt Löcknitz-Penkun mit grenzüberschreitenden Migranten (Luxemburgern bzw. Polen) sowie Vertretern öffentlicher Einrichtungen, Interessen- und Unternehmerverbänden statt. Die differierende Interviewzahl ergab sich dabei durch die unterschiedlichen Projektzusammenhänge, in die die Interviews eingebettet waren.Footnote 2

Im Fall der Gemeinde Perl wurden aus den Daten des Einwohnermeldeamtes luxemburgische Staatsangehörige unterschiedlichen Alters, Dauer des Wohnaufenthaltes in Perl (über acht Jahre bis zu unter einem Jahr) sowie Geschlecht im Rahmen einer Zufallsstichprobe ausgewählt und befragt. Dabei wurden nur luxemburgische Staatsangehörige berücksichtigt, die älter als 18 Jahre sowie keine Anstaltsinsassen waren. Im Amt Löcknitz-Penkun erfolgte die Befragung der polnischen Zuwanderer auf Grundlage des Schneeballverfahrens, das sich aufgrund der Dichte der sozialen Vernetzungen als adäquater Ansatz zur Identifizierung geeigneter Interviewpartner erwies. Das Verhältnis von befragten Migranten zu öffentlichen Akteuren lag im Fall Löcknitz-Penkun bei 50:50. Die Auswahl der befragten öffentlichen Einrichtungen, Interessen- und Unternehmerverbände erfolgte auf Grundlage ihrer Nähe zur Migrationsthematik in der jeweiligen Region. So war es in der Region Uecker-Randow wichtig, nicht nur mit Vertretern der lokalen Behörden zu sprechen, sondern auch Akteure aus dem Bildungsbereich, die Industrie- und Handelskammer (aufgrund ihrer deutsch-polnischen Aktivitäten) sowie die Kommunalgemeinschaft „Europaregion Pomerania“ einzubeziehen.

Übergeordnetes Ziel der Befragungen war es, den lebensweltlichen Alltag der Transmigranten in den von ihnen ausgewählten Wohnstandorten abzubilden. Für die Beantwortung dieser Forschungsfrage erschienen biographische Forschungsansätze als sinnvollerer Forschungsweg als rein statistisch erfassbare, standardisierte Methoden. Als methodisches Instrument bot sich das Leitfadeninterview (oder leitfadengestütztes Experteninterview) an, da es dem Interviewer die Möglichkeit bietet, theoretische Vorüberlegungen zu berücksichtigen und dem Befragten zugleich ausreichend Freiräume für eigene Antwortformulierungen gewährt (vgl. Gläser/Laudel 2006). Schon 1993 verdeutlichten Halfacree und Boyle die Bedeutung biographischer Forschungen zur Migration auf dem Level von Individuen anstelle eines ‚empirical outcomes‘ (Halfacree 1993).

4 Fallstudien

4.1 Gemeinde Perl

Die saarländische Gemeinde Perl liegt im Landkreis Merzig-Wadern, im Dreiländereck Deutschland, Frankreich und Luxemburg sowie in der grenzüberschreitenden Me-tropolregion „Großregion SaarLorLux“. Im Westen grenzt Perl unter anderem an die luxemburgische Gemeinde Schengen – bekannt durch die dort unterzeichneten Schengen-Abkommen über offene europäische Grenzen. Perl liegt an der Bundesautobahn A 8, die in die luxemburgische A 13 übergeht und eine gute Verkehrsanbindung an die 35 km entfernte Stadt Luxemburg darstellt. Die Gemeinde Perl setzt sich aus insgesamt 14 Ortsteilen zusammen (vgl. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Gemeinde Perl mit den Ortsteilen und die Lage im Saarland. (Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Daten des Ministeriums für Inneres und Sport des Saarlandes (2002) und nach Auskunft der Gemeinde Perl (Stand der Daten: 31.12.2008))

Die Großregion SaarLorLux hat das größte europäische Grenzgängeraufkommen. 25 % der Grenzgänger in der EU-27, die in einem anderen Land arbeiten, als sie wohnen, leben und arbeiten in dieser Großregion. 73 % davon arbeiten in Luxemburg (Wille 2012: 33).

Demographische Situation in der Gemeinde Perl und im Landkreis Merzig-Wadern


Die Bevölkerungsentwicklung stellt sich im Landkreis Merzig-Wadern sehr unterschiedlich dar (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Bevölkerungsentwicklung der Gemeinden im Landkreis Merzig-Wadern 1990–2010. (Quelle: Eigene Zusammenstellung und Berechnung basierend auf der Auskunft des Statistischen Amtes Saarland (2012))

Die Einwohnerzahl der Gemeinde Perl stieg zwischen 1990 und 2010 mit 25,8 % sehr stark an. Ein erneutes Bevölkerungswachstum um 2,3 % auf 7.771 Einwohner war zwischen 2010 und 2011 zu verzeichnen (Auskunft des Statistischen Amtes Saarland 2012). Für das Jahr 2030 prognostiziert die Bertelsmann-Stiftung einen Anstieg um 26,3 % im Vergleich zum Jahr 2009, weshalb Perl auch von der Bertelsmann-Stiftung dem Gemeindetyp „Prosperierende Städte und Gemeinden im ländlichen Raum“ zugeordnet wird. Für den gesamten Landkreis Merzig-Wadern wird zeitgleich eine Bevölkerungsentwicklung um − 4,1 % und für das Saarland sogar um − 11,5 % vorausgesagt. Damit setzt Perl den im Vergleich zum restlichen Saarland positiven Trend der Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahre auch zukünftig fort (Bertelsmann-Stiftung 2012).

Zuwanderung in die Gemeinde Perl und den Landkreis Merzig-Wadern


Die Gemeinde Perl sticht mit einem für die Region auffallend hohen Ausländeranteil hervor (vgl. Tab. 2).

Tab. 2 Ausländeranteile der Gemeinden im Landkreis Merzig-Wadern. (Quelle: Eigene Zusammenstellung und Berechnung basierend auf der Auskunft der Gemeinden)

Für das Jahr 2010 gibt die Bertelsmann-Stiftung einen im Vergleich zu 2008 gestiegenen Ausländeranteil in Perl von 28,4 % an, wobei der Ausländeranteil aller Altersklassen deutlich über den saarländischen Durchschnittswerten liegt. Der Anteil der Luxemburger sowie der Anteil ausländischer Bevölkerung insgesamt in Perl sind die höchsten aller saarländischen Gemeinden. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in Tageseinrichtungen liegt bei 39,4 % (Landkreis Merzig-Wadern: 26,6 %, Saarland: 26,7 %) (Bertelsmann-Stiftung 2012).

Der Bevölkerungsanstieg in Perl basiert somit vor allem auf den sogenannten „atypischen Grenzgängern“ (Wille 2012: 17). Das heißt konkret, dass hier Luxemburger leben, die aufgrund der hohen Immobilienpreise in Luxemburg Wohnraum im deutlich günstigeren ländlichen Saarland erwerben, aber weiterhin in Luxemburg arbeiten und ihre sozialen Kontakte pflegen. Insgesamt zeichnet sich die Gemeinde Perl durch einen hohen Anteil an Luxemburger Bürgern aus (vgl. Tab. 2) – so wie das zweite Fallbeispiel (Amt Löcknitz-Penkun) aus ähnlichen Gründen einen erhöhten Anteil polnischer Bevölkerung vorweisen kann.

Lebten 1990 nur 55 Luxemburger in Perl, waren es 2000 schon 130 und 2005 sogar 339. Deutlicher stieg die Zahl der in Perl wohnenden Luxemburger seit 2007 (634) an und erreichte 2010 den Stand von 1.272. Absolut gesehen erreicht die Anzahl der Luxemburger 2010 die höchsten Einwohnerzahlen in den Ortsteilen Perl (434), Besch (177) und Nennig (174), relativ gesehen hingegen in Münzingen (36,0 % der Bevölkerung), in Sinz (24,8 % der Bevölkerung) und in Wochern (22,9 % der Bevölkerung) (Auskunft der Gemeinde Perl und eigene Berechnungen).

Beim Zuzug der Luxemburger nach Perl gehen Brosius und Carpentier (2010: 22) davon aus, dass die Anwesenheit von Luxemburgern weitere Luxemburger anlockt. Hier könnte man von einer Kettenmigration sprechen. Bei ihrer quantitativen Untersuchung stellen die beiden Wissenschaftler fest, dass vor allem die Abwanderung aus Luxemburg in Richtung Deutschland stark steigend ist, während die anderen luxemburgischen Nachbarstaaten deutlich geringere Zuzüge zu erwarten haben. Dabei bevorzugen vor allem Personen aus dem Osten Luxemburgs einen Umzug nach Deutschland, wobei die Gemeinde Perl als besonders beliebter Zielort der Wohnmigranten hervorzuheben ist. Carpentier (2010: 38) fasst die Gründe eines Umzug in finanzielle (z. B. Immobilienpreise), familiäre (z. B. Familiengründungsphase) sowie kulturelle Gründe (z. B. Schulsystem, SprachproblemeFootnote 3) zusammen. Bei der in diesem Beitrag analysierten qualitativen Befragung in Perl zeigt sich vor allem, dass Personen, die Deutsch oder das dem im Nordwest-Saarland verwandten moselfränkischen Dialekt Lëtzebuergisch als Muttersprache sprechen, geringere Sprachprobleme in der grenznahen deutschen Region als in Luxemburg bedingt durch die dort höhere Sprachenvielfalt haben. Eine Befragung der Luxemburger 2009/2010 ergab, dass die günstigen Wohn- und Lebenshaltungskosten der Hauptgrund für eine Wohnsitzverlagerung der Luxemburger nach Perl darstellte, jedoch eine starke Verwurzelung und berufliche Einbindung nach Luxemburg einer Integration in die Gemeinde entgegenwirke (Frys/Nienaber 2011: 103).

Effekte der Zuwanderung


Der Zuzug vieler Luxemburger hat große Auswirkungen auf die Gemeinde Perl. Die Immobilienpreise steigen und führen zu einer Segregation innerhalb der Gemeinde. Es entstehen vor allem in den Ortsteilen Besch, Nennig und Perl Neubaugebiete, die fast ausschließlich von Immobilienmaklern an Luxemburger vermarktet und dann von Luxemburgern bewohnt werden. Welche Probleme daraus entstehen, die auch auf interkulturelle Faktoren sowie auf der hohen Profitorientierung der in Perl tätigen Immobilienmakler zurückgeführt werden können, zeigt sich am folgenden Beispiel, das auch Probleme der Integration und das Gefühl des Nicht-Willkommen-Seins offenbart:

Ja, ich habe gedacht, ich würde hier billiger ein Haus bauen können. … Ich bin noch nicht in dem Haus. Wie Sie sehen, bin ich ja noch hier. Ich bin da an jemanden gekommen, der mich von vorne bis hinten, wie sagt man so schön, über den Tisch gezogen hat und ich geh jetzt zum zweiten Mal mit ihm aufs Gericht. Mir ist nur Ungutes hier passiert. Bis jetzt (Interview, Perl 28).

Viele Luxemburger gaben in den Interviews aber auch an, dass sie bereits vor ihrem Zuzug nach Perl Verwandte, Freunde oder Bekannte in der Gemeinde hatten und teilweise – bei positiver Erfahrung vor Ort – auch weitere Luxemburger ermutigt haben, herzuziehen.

Um den Zuzug der Luxemburger einzudämmen und um die dadurch deutlich gestiegenen Immobilienpreise abzumildern, erließ die Gemeinde Perl die „Vergaberichtlinien für die Überlassung von Wohnbaustellen in der Gemeinde Perl vom 12. März 2009“, in denen es heißt: „Zur Wahrung der Identität der Ortsteile [erfolgt] die Vergabe von Wohnbaustellen vorrangig an ortsansässige Bewerber der Gemeinde Perl. Als ortsansässiger Bewerber im Sinne dieser Vergaberichtlinien gilt eine Person, die

  • das 18. Lebensjahr vollendet hat und davon nachweislich mindestens seit 3 Jahren in der Gemeinde Perl wohnt oder

  • das 18. Lebensjahr vollendet hat und davon nachweislich mindestens 10 Jahre in der Gemeinde Perl gewohnt hat.

Ist der Eigenbedarf für ortsansässige Bewerber aus der Gemeinde abgedeckt, können die Grundstücke auch anderweitig abgegeben werden“ (Gemeinde Perl 2009). Die Gemeinde setzte den Kaufpreis für Ortsansässige auf 82,50 €/m² und für Nicht-Ortsansässige auf 107,50 €/m² fest (Gemeinde Perl 2012), so dass eine positive Diskriminierung der eigenen Bevölkerung und eine negative Diskriminierung der atypischen Grenzgänger stattfindet. Dabei spielt auch eine Rolle, dass das Lohnniveau auf deutscher und luxemburgischer Seite sehr unterschiedlich und damit der Faktor ‚Neid‘ nicht unwesentlich ist.

Ferner ist der Integrationsgrad in die örtliche Gemeinschaft in Perl sehr unterschiedlich. So gibt es auf der einen Seite gut integrierte Luxemburger, die Perl auch als ihre neue Heimat ansehen.

Also wenn wir Hilfe brauchen, dann wissen wir, dass wir in der Umgebung hier bei den Nachbarn Hilfe bekommen (Interview, Perl 23).

Es gibt aber auch Luxemburger, die in Perl nur übernachten, aber alle Kontakte und sonstigen Lebensbereiche weiterhin in Luxemburg pflegen. Das führt auch dazu, dass in einigen Wohngebieten Perls die Interviewten von einer großen Fluktuation der Bewohner ihrer Nachbarhäuser berichten.

Aussagen der Interviewten zufolge gibt es Migranten, die ihren Alltag in beiden Regionen gleichermaßen aufteilen und Besorgungen je nach Bedarf in Perl oder in Luxemburg erledigen und somit die Einzelhandelsinfrastruktur (beispielsweise für Kaffee oder Benzin oder Spezialitäten wie den luxemburgischen Kochkäse) in Luxemburg sowie für Möbel und Kleidung in Deutschland nutzen.

Der hohe Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund spiegelt sich auch an den weiterführenden Schulen wider und führte mittlerweile zur Gründung des deutsch-luxemburgischen Schengen-Lyzeums, an dem sowohl deutsche als auch luxemburgische Kinder, die in Deutschland oder Luxemburg wohnen, unterrichtet werden – ein ähnliches Beispiel findet sich im deutsch-polnischen Grenzraum.

Das Lyzeum war trotzdem, ich sag mal es war sicherlich kein Nachteil, die Entscheidung zu planen. … Weil [der Sohn] jetzt noch so klein ist, heißt das nicht dass ich gedacht habe, ok gerade deswegen kommen wir hierhin. Aber durchaus habe ich das zur Kenntnis genommen, dass jetzt das Lyzeum auch erneuert wurde, vergrößert wurde, erweitert wurde. Das ist ganz sicher etwas, wo ich sage, das hat auch bestimmt den Wert der Immobilien hier nicht vermindert in den letzten eineinhalb Jahren (Interview, Perl 18).

Die gute Autobahn- und Busanbindung an diverse Ortschaften in Luxemburg ist ebenfalls ein häufig genannter Grund für den Zuzug nach Perl. Das erhöhte Pendleraufkommen hat gleichzeitig zu einem verstärkten Ausbau des internationalen Busverkehrs geführt, teilweise mit einem gemeinsamen Tarif.

4.2 Amt Löcknitz-Penkun

Das Amt Löcknitz-Penkun liegt im Osten Mecklenburg-Vorpommerns (vgl. Abb. 2), unmittelbar an der deutsch-polnischen Grenze. Seit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004 ist die Region um das Amt Löcknitz-Penkun verstärkt in das Blickfeld von Medien und Wissenschaft gerückt. Denn mit der Öffnung der Grenze und des deutschen Arbeitsmarktes entwickelt sich die Region sukzessive zu einem ‚suburbanen‘ Wohngebiet Stettins. Über 1.200 polnische Staatsbürger wohnen mittlerweile in den dünn besiedelten Gemeinden des ehemaligen Landkreises Uecker-RandowFootnote 4 und arbeiten überwiegend im nahe gelegenen Stettin.

Abb. 2
figure 2

Amt Löcknitz-Penkun und seine Gemeinden und die Lage in Mecklenburg-Vorpommern. (Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Daten des Landesamtes für Innere Verwaltung Mecklenburg-Vorpommern (2011) und Auskunft des Amtes Löcknitz-Penkun (Stand der Daten: 31.12.2008))

Demographische Situation in der Region Uecker-Randow


Seit dem 31. Dezember 1990 hat der Landkreis Uecker-Randow rund ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. Der Bevölkerungsverlust in den Gemeinden des heutigen Amtes Löcknitz-Penkun betrug im gleichen Zeitraum sogar bis zu 40 % (Glasow). Nur durch administrative Neugliederungen (Eingemeindungen) konnten einige der Gemeinden in den vergangenen Jahren Bevölkerungszuwächse von bis zu 67 % (Ramin) verzeichnen (vgl. Tab. 3). Wie aktuelle Erhebungsdaten der Bertelsmann-Stiftung (2012) belegen, leidet die Region vor allem unter dem Wegzug junger Menschen (Bildungs- und Arbeitsmigration) bzw. junger Familien (Familienwanderung).

Tab. 3 Bevölkerungsentwicklung im Amt Löcknitz-Penkun 1990 bis 2010. (Quelle: Eigene Zusammenstellung und Berechnung basierend auf Daten des Statistischen Amtes Mecklenburg-Vorpommern (2012))

Neueste Prognosen der Bertelsmann-Stiftung sagen für das Gebiet des ehemaligen Landkreises Uecker-Randow bis zum Jahr 2030 einen Bevölkerungsrückgang um weitere 18,5 % voraus. Gleichzeitig wird die Gesellschaft deutlich altern: Bis zum Jahr 2030 wird das sogenannte Median-Alter (die Hälfte der Bewohner) bei 57,8 Jahren liegen (2009: 47,4 Jahre) (Bertelsmann-Stiftung 2012).

Der demographische Wandel in Mecklenburg-Vorpommern und im ehemaligen Landkreis Uecker-Randow schlägt sich bereits heute maßgeblich auf die wirtschaftliche Entwicklung und insbesondere auf das Arbeitskräftepotenzial der Region nieder. Verschiedene Studien (z. B. Kotte/Meier/Stöckmann 2010: 14; dp consulting 2010: 30) belegen, dass das Durchschnittsalter der Beschäftigten schon heute überdurchschnittlich hoch ist und die Gruppe der 15- bis unter 65-Jährigen bis zum Jahr 2020 um rund 20 % (Kotte/Meier/Stöckmann 2010: 14) zurückgehen wird. Damit wird sich das sogenannte Generationenproblem auf dem Arbeitsmarkt – weniger Arbeitsmarkteintritte als -austritte – maßgeblich verstärken und das zur Verfügung stehende Arbeitskräftepotenzial deutlich verringern (Kotte/Meier/Stöckmann 2010: 13). Für Mecklenburg-Vorpommern und die Region Uecker-Randow bedeutet diese Entwicklung eine weitere Schwächung der sozioökonomischen Basis und damit die Fortsetzung der durch den Strukturwandel angestoßenen Degeneration.

Zuwanderung polnischer Bürger in die Region Uecker-Randow

Trotz der sinkenden Einwohnerzahlen haben sich die Zahl sowie der Anteil der (im Ausländerzentralregister erfassten) Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit seit der Wiedervereinigung deutlich erhöht, auch wenn sie im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands deutlich unter dem Durchschnitt liegen. Im Jahr 2010 lag der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung im Landkreis Uecker-Randow bei 2,3 %, während der Anteil in Mecklenburg-Vorpommern bei 1,8 % (Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2011: 10) und bundesweit bei 8,3 % lag (Statistisches Bundesamt 2011: 25).

Ein Drittel der ausländischen Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern stammt aus den Mitgliedstaaten der EU, allen voran aus Polen (13,3 %). Vor allem der grenznahe Landkreis Uecker-Randow hat sich in der jüngeren Vergangenheit als ein beliebtes Zielgebiet für polnische Staatsbürger herauskristallisiert. Hier waren am 31.12.2010 insgesamt 1.667 Ausländer, davon 1.258 (76 %) mit polnischer Staatsangehörigkeit registriert (Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2011: 10). Besondere Aufmerksamkeit – auch mediale – hat in den letzten Jahren das Amt Löcknitz-Penkun wegen seiner starken Zuwanderung aus Polen auf sich gezogen. Allein in der Gemeinde Löcknitz haben knapp 10 % (242 Personen, Stand: 2008) der Bevölkerung einen polnischen Migrationshintergrund (Barthel 2010: 28), im gesamten Gebiet des Amtes Löcknitz-Penkun sind es Schätzungen zufolge insgesamt etwa 900 Personen (Jonda 2009: 3).

Analog zur Entwicklung im deutsch-luxemburgischen Grenzgebiet kennzeichnet ein sehr selektiver Migrationsprozess die demographische Entwicklung in Uecker-Randow. Selektiv deshalb, weil er sich einerseits überwiegend auf die Zuwanderung einer einzigen Nationalität (Polen) (bzw. Luxemburgern im Fall des Landkreises Merzig-Wadern) beschränkt, und sich andererseits die Motivation der Migranten in den meisten Fällen ähnelt – vor allem die Suche nach preiswertem Wohnraum (Segeš Frelak/Kriszan 2012: 46 ff.). Letzteres hängt vor allem mit der Entwicklung der auf polnischer Seite nahe gelegenen Metropole Stettin zusammen (Wohnsuburbanisierung). So liegen die Stettiner Immobilienpreise deutlich über denen auf deutscher Seite, während die Quantität und Qualität der angebotenen Mietwohnungen im Raum Stettin wesentlich schlechter ist (Perron 2011: 13).

Die im Vergleich zu anderen Teilen der Region Uecker-Randow überdurchschnittlich hohe räumliche Konzentration polnischer Bürger im Amt Löcknitz-Penkun liegt einerseits an der guten verkehrlichen Anbindung an das nur rund 25 km entfernte Stettin sowie an der guten infrastrukturellen Ausstattung (z. B. deutsch-polnischer Kindergarten und Gymnasium in Löcknitz sowie weitere Schulen und Einkaufsmöglichkeiten). Andererseits ist sie das Resultat einer kurz vor dem Beitritt Polens zur EU entwickelten Werbestrategie der deutschen Gemeinde und der lokalen Wohnungsunternehmen, um insbesondere polnischen Studenten aus Stettin preiswerten Wohnraum in Deutschland anzubieten und damit den eklatanten, lokalen Wohnungsleerstand zu bekämpfen. Um die Attraktivität der Wohnungsangebote zu erhöhen, wurde auch mit den Vorteilen des deutschen Sozialleistungssystems geworben (Barthel 2010: 54 ff.; Kriszan/Szaniawska-Szwabe 2012: 62 ff.). Aus ökonomischer Perspektive war diese Vermarktungsstrategie zwar erfolgreich (heute stehen nur noch rund 3 % der Löcknitzer Wohnungen leer), gleichzeitig führte sie jedoch auch zu einer Zuwanderung von sozial schwachen Polen, die die Möglichkeit, staatliche Leistungen beantragen zu können, auch annahmen. Die eigentliche Zielgruppe, Stettiner Studenten, fühlte sich vom Angebot der Löcknitzer Wohnungsunternehmen hingegen nicht angesprochen.

Und es sind die Leute wirklich in Scharen dort gekommen. Und dann hat sich so ein Klientel dort angesiedelt, die auf so etwas aus waren. Die gesagt haben: Einwandfrei, also, das Geld, was ich in Polen verdiene, das krieg ich ja da auch und mach gar nichts (Ö1/161–163).

Viele der sozial Schwachen sind nach kurzer Zeit wieder nach Polen zurückgekehrt, weil sie die im Vergleich zu Polen höheren Mietnebenkosten nicht tragen konnten und eine soziale Integration aufgrund enormer Vorbehalte seitens der einheimischen Bevölkerung selten erfolgte. Rechtspopulistische Übergriffe auf polnische Bürger häuften sich und veranlassten viele Polen, die Region wieder zu verlassen. Geblieben sind vor allem finanziell gut situierte polnische Zuwanderer – in aller Regel junge, gut qualifizierte Menschen mit ihren Familien – die zumeist im benachbarten Stettin einer Arbeit nachgehen und enge Beziehungen zu Mitgliedern ihres Familien- und Freundeskreises auf polnischer Seite pflegen. Die Nähe zur polnischen Heimat ist ein ausschlaggebender Faktor für die Popularität der Region Uecker-Randow als Wohnort für polnische Bürger.

Was hier vor allem die Leute anzieht, ist ja die Grenznähe. Wie gesagt, wenn ich in Polen die Familie habe, fahre ich eine Stunde, und schon bin ich dort. Und das ist ja sehr viel günstiger, als wenn ich in München wäre (Ö5/463–465).

Gleichzeitig ist zu beobachten, dass sich polnische Zuwanderer recht gut integrieren. Die Interviews zeigen, dass nachbarschaftliches Miteinander und Zusammenleben im Alltag weitestgehend problemlos und friedvoll sind. Dies ist den Befragten zufolge vor allem ein Verdienst der polnischen Bürger und ihrer Integrationsbereitschaft, die sich vor allem im großen Engagement beim Erlernen der deutschen Sprache dokumentiert. Darüber hinaus zeigt sich, dass immer mehr polnische Zuwanderer lokalen Vereinen beitreten und sich dort ehrenamtlich engagieren. Die Kinder der Zuwanderer besuchen in der Regel deutsche Kindergärten und Schulen und werden so voll in das deutsche Bildungssystem integriert. So besuchten im Jahr 2010 mehr als 350 Schüler polnischer Herkunft die Schulen in der Region (2004: 235) (Segeš Frelak/Kriszan 2012: 54). Eine Besonderheit in der Region stellt – ähnlich wie im deutsch-luxemburgischen Grenzgebiet das deutsch-luxemburgische Schengen-Lyzeum – das deutsch-polnische Gymnasium in Löcknitz dar, das polnischen Schülern die Möglichkeit bietet, zwei Abschlüsse (deutsches Abitur und polnische Matura) zu machen.

Effekte der Zuwanderung


Aufgrund der Strukturschwäche und des niedrigen Lohnniveaus ist die Region Uecker-Randow kein besonders beliebtes Ziel für polnische Arbeitsmigranten. In der Regel arbeiten die in der Region lebenden Polen in Stettin. Dadurch hat sich nicht nur der Wohnungsleerstand in der Region verringert. Auch der Zustand der Einfamilienhäuser hat sich durch aufwendige Renovierungsarbeiten verbessert. Dadurch wurde das äußere Erscheinungsbild vieler Orte (insbesondere Krackow, Ramin, Pampow, Blankensee, Schwennenz) erheblich aufgewertet. Häufig erwerben die polnischen Zuwanderer ältere Einfamilienhäuser, die infolge der starken Abwanderung der deutschen Bevölkerung aus der Region dauerhaft verlassen worden sind. Neubauten hingegen sind aufgrund der höheren Preise bislang weniger gefragt. Neben den Effekten auf dem Immobilienmarkt lassen sich auch erste demographische Effekte erkennen: sowohl Bevölkerungsrückgang als auch Alterungsprozess haben sich in einigen Orten zumindest verlangsamt.

Aussagen der Interviewten zufolge verlassen viele polnische Bürger die Region Uecker-Randow jedoch nach kurzer Zeit wieder, um Gegenden in Deutschland aufzusuchen, in denen das Lohnniveau deutlich höher ist. Gleichwohl gibt es in der Region auch rund 200 Unternehmen mit polnischen Inhabern, Gesellschaftern oder Geschäftsführern, die überwiegend in Dienstleistungssektor und Handel tätig sind (Stand: Juni 2011, Angaben der Industrie- und Handelskammer Neubrandenburg). Die Mehrheit dieser Unternehmen ist sehr klein und wird häufig als reines Familienunternehmen geführt (z. B. Schneidereien, Lebensmittelläden, Gastronomie). Ihre Besitzer leben zumeist auf deutscher Seite, fahren jedoch mehrmals die Woche über die Grenze, um polnische Produkte einzukaufen und diese auf deutscher Seite als polnische Spezialitäten wieder zu veräußern.

In Anbetracht der aktuellen wirtschaftlichen und demographischen Entwicklungen in der Region Uecker-Randow ist der politische Handlungsbedarf immens. Vor allem das Land und die kommunalen Institutionen sind gefragt, Strategien für den Umgang mit den Folgen der fortschreitenden wirtschaftlichen und sozialen Degeneration zu entwickeln und durch geeignete Maßnahmen umzusetzen. Ein wichtiges Potenzial zur Wiederherstellung des demographischen und ökonomischen Gleichgewichts stellt in diesem Zusammenhang das Zusammenwachsen des deutsch-polnischen Grenzgebietes zu einem grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Lebensraum rund um die Metropole Stettin dar.

Obwohl sich der Prozess der Annäherung der Regionen beidseits der Grenze dank zahlreicher Initiativen und Projekte positiv entwickelt, ist man von einer vereinten Wirtschaftsregion um das Zentrum Stettin noch weit entfernt. Die Gründe dafür sind komplex und sowohl auf deutscher als auch auf polnischer Seite zu suchen: den Interviews zufolge mangelt es vor allem aufseiten der Landes- und Regionalplanung beidseits der Grenze an ernsthaften Bestrebungen, um die Entstehung einer grenzüberschreitenden Metropolregion um das Zentrum Stettin zu unterstützen.

Beide Seiten haben dieses Problem: ihre Raumplanung geht bis zur Grenze und findet einfach nicht zusammen, um zu sagen, wir vernetzen jetzt mal unsere Planung und sagen, okay, das ist unser Interesse, das ist auch euer Interesse (Ö3/213–215).

5 Transnationale Lebenswelten

Obwohl die Grenzen innerhalb der Europäischen Union ihre traditionelle Wirkmacht zu großen Teilen eingebüßt haben, sind sie nicht in der absoluten Bedeutungslosigkeit verschwunden. Vor allem in Grenzgebieten werden Grenzen nicht mehr primär als Barrieren empfunden, sondern vielmehr als Erfahrungen, die einen Bestandteil des Lebensalltages von Grenzbewohnern darstellen. In den Fallstudien sind diese Grenzen zwar seit dem Zweiten Weltkrieg in ihrem räumlichen Verlauf gleich geblieben, jedoch haben sie sich in ihren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Funktionen verändert. Während die deutsch-polnische Grenze nach dem Zweiten Weltkrieg neu gezogen wurde, veränderte sich ihre Bedeutung durch den Fall des Eisernen Vorhangs von einer sozialistischen, befreundeten Grenze hin zu einer EU-Außengrenze, ab 2004 zu einer EU-Binnengrenze und schließlich zu einer offenen Schengen-Grenze. Die luxemburgisch-deutsche Grenze bestand im Gegensatz dazu bereits vor dem Zweiten Weltkrieg und wurde danach Kernraum des europäischen Integrationsprozesses.

Im Fall der Region Uecker-Randow wird das Migrationsverhalten entscheidend beeinflusst durch die besondere geographische Spezifik der Region (nur in diesem Teil der deutsch-polnischen Grenzregion liegt das wirtschaftliche Zentrum auf polnischer Seite) sowie durch die Möglichkeiten, die sich durch die Kombination zweier sozialer und wirtschaftlicher Systeme für die Migranten ergeben. „Dies trifft sowohl auf den Arbeitsmarkt, die Wohnungsinfrastruktur, die soziale Fürsorge und das Bildungssystem als auch auf den kulturellen Bereich und die zwischenmenschlichen Kontakte im täglichen Leben zu. In Abhängigkeit vom jeweiligen soziokulturellen und wirtschaftlichen Kapital der Migranten wählen diese einzelne Elemente beider Systeme aus und bauen darauf ihre eigenen Lebensstrategien auf. Diese Art von Migration im Grenzgebiet – bei der die Migranten gleichzeitig am wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Leben mehr als eines Staates teilhaben – schafft, wie es scheint, besonders günstige Bedingungen für die Entstehung lokaler transnationaler sozialer Räume (transnational social fields)“ (Bojar 2012: 112 f.).

Das gleiche Phänomen kann für die Großregion SaarLorLux und die darin liegende Gemeinde Perl festgestellt werden. Luxemburg ist der wirtschaftliche und ein soziokultureller Mittelpunkt der Region. Die meisten neuen Arbeitsplätze in der Region entstehen dort. Über die Grenze hinaus entstehen nun transnationale neue Lebensentwürfe zwischen nach Perl gezogenen Luxemburgern und ihrer Heimatregion, in der neue Lebensstrategien zwischen den beiden Nationalstaaten entwickelt werden.

Interessanterweise sind die Migrationsströme in der Region Uecker-Randow recht einseitig ausgerichtet. Dabei erweisen sich die polnischen Bürger als wesentlich mobiler innerhalb ‚ihrer‘ transnationalen sozialen Räume als die deutschen Bewohner des Grenzgebietes. Die polnischen Bürger arbeiten in Polen, wohnen in Deutschland, pflegen ihre familiären und sozialen Kontakte auf beiden Seiten der Grenze, kaufen hier und dort ein, nutzen diesseits und jenseits der Grenze das kulturelle Angebot. Ihre Kinder besuchen deutsch-polnische Kindergärten und Schulen, haben deutsche und polnische Freunde und wachsen zweisprachig auf. Die deutschen Bewohner hingegen arbeiten und wohnen überwiegend auf deutscher Seite und fahren allenfalls zum Einkaufen und Tanken über die Grenze. Soziale Kontakte nach und mit Polen sind insgesamt eher selten, ‚das Polnische‘ gilt nach wie vor als etwas Unbekanntes und Befremdliches. Viel stärker als die Staatsgrenze behindert die mentale Grenze in den Köpfen der deutschen Bevölkerung somit die Entstehung eines transnationalen sozialen Raums. Zurückzuführen ist dieses unausgewogene Migrationsverhältnis im Wesentlichen auf fehlende Sprachkompetenzen bei der deutschen Bevölkerung. Während sich die polnischen Bürger beim Erlernen der deutschen Sprache sehr engagiert zeigen, legen die meisten der deutschen Bewohner eine Mischung aus Bequemlichkeit und Arroganz an den Tag, wenn es um das Erlernen der polnischen Sprache geht. Dabei scheint die Sprache ein Kernelement im Prozess des Zusammenwachsens der deutsch-polnischen Grenzregion zu sein. Während die Sprache in allgemeinen Diskursen um Transnationalität lediglich eine von mehreren Variablen darstellt, steht sie in Grenzregionen offenbar in einem viel engeren Verhältnis zu transnationalem Handeln von Migranten.

Die transnationalen Lebensentwürfe werden in unterschiedlicher Form in Perl sowohl von Luxemburgern als auch von Ortsansässigen genutzt. Da der Arbeitsmarkt in Luxemburg wachsend ist, bietet er auch den deutschen Nachbarn Arbeitsmöglichkeiten. Die günstigeren Preise für Benzin, Kaffee oder Schokolade locken Deutsche nach Luxemburg zum Einkaufen. Andersherum ist festzustellen, dass die in Perl wohnenden Luxemburger Einwohner den Wohnstandort schätzen, jedoch eine tiefergehende Integration in der Gemeinde zumeist nicht anstreben, was sich beispielsweise häufig an der fehlenden Mitgliedschaft in den örtlichen Vereinen äußert. Anders als für die deutsch-polnische Grenze existieren zwischen Perl und Luxemburg kaum sprachliche Verständigungsprobleme, da das Lëtzebuergisch und der in Perl gesprochene moselfränkische Dialekt eng verwandt sind und Deutsch eine der drei offiziellen Amtssprachen in Luxemburg ist. Dies ermöglicht transnationale Lebensstile. Die Ausgestaltung dieser Lebensentwürfe hängt von der Aktivität der Migranten ab, transnationale soziale Räume zu schaffen.

6 Fazit

Die beiden Fallstudiengemeinden zeigen einige gemeinsame und einige unterschiedliche raumwirksame Implikationen grenzüberschreitender Migration. Zunächst einmal bietet der Schengen-Raum mit seiner Freizügigkeit bei der Wohnortwahl ein Experimentierfeld europäischer Integration auf lokaler Ebene. Hier wird im bottom-up-Bereich Integration von Personen aus den Nachbarländern geübt, die allerdings je nach historischer Erfahrung der Grenze und ihrer Durchlässigkeit, sprachlich-kultureller Unterschiede oder auch struktureller Gegebenheiten sehr unterschiedlich ausfallen kann.

Es zeigt sich aber auch eine Segregation und Abschottung speziell am Beispiel der Luxemburger, die verstärkt in überwiegend von Luxemburgern bewohnte Neubaugebiete ziehen und sich nicht in das nachbarschaftliche Umfeld integrieren. Der Zuzug der Luxemburger und Polen führt an beiden Untersuchungsorten zu einer Nutzung von Altbausubstanz und verhindert zunächst Leerstände, geht dann aber darüber hinaus, indem Neubaugebiete erschlossen werden. Die Bevölkerungs- und die Siedlungsentwicklung sind daher wesentlich von der wirtschaftlichen Entwicklung der nahe gelegenen Städte Luxemburg bzw. Stettin abhängig und basieren nicht auf nachhaltigen Siedlungsentwicklungsstrategien. Um diesem Trend zu begegnen, hat Perl eine Nicht-Ortsansässige diskriminierende Politik durch die „Vergaberichtlinien für die Überlassung von Wohnbaustellen in der Gemeinde Perl vom 12. März 2009“ begonnen.

In beiden Gemeinden entsteht eine Infrastruktur, die auf die europäische Integration in Form von grenzüberschreitenden weiterführenden Schulen, Kindergärten und Vereinen ausgerichtet ist. Auch weitere raumplanerische Aspekte sind von diesen Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklungen betroffen. Dazu zählen vor allem der grenzüberschreitende Verkehr, grenzüberschreitende Gesundheitspolitiken oder auch ein grenzüberschreitender Arbeitsmarkt. Die grenzüberschreitende Migration ist für die räumliche Planung in Grenznähe ein bedeutsamer Faktor, der zukünftig stärker in eine grenzüberschreitende Raumplanung führen sollte. Ferner findet durch die transnationalen sozialen Räume der Migranten, die auf der einen Seite der nationalstaatlichen Grenze wohnen und auf der anderen arbeiten sowie soziale Kontakte pflegen, eine Re-Regionalisierung der innereuropäischen Grenzräume statt.