Für die Legitimation des Schulsports finden sich immer wieder sportpädagogische Postulate, die die positive Wirkung geeigneter sportlicher Aktivitäten auf die Persönlichkeitsentwicklung betonen. So ist beispielsweise im gemeinsam von der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs), dem Deutschen Sportlehrerverband (DSLV) und dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) beschlossenen Memorandum zum Schulsport zu lesen, dass der Schulsport grundsätzlich „die (doppelte) Aufgabe [habe], sowohl die Sport- und Bewegungskultur zu erschließen als auch die Persönlichkeit zu entwickeln“ (dvs, DSLV & DOSB, 2009, S. 5). Ähnliche Begründungslinien lassen sich international nahezu beliebig viele finden. Sportpsychologie und Sportpädagogik tun sich aber noch immer schwer, empirische Belege für dieses sportpädagogische Postulat zu finden.

Für Traitansätze (z. B. Big Five; Costa & McCrae, 1992) scheint dies kaum verwunderlich, da diese eine hohe zeitliche Stabilität aufweisen und es daher wenig Sinn macht, durch kurz- bis mittelfristige Interventionen Veränderungen dieser Persönlichkeitsmerkmale herbeiführen zu wollen. Seit aber die kognitive Wende in der Psychologie auch die Sportwissenschaft erreicht hat, ist in der sportwissenschaftlichen Persönlichkeitsforschung eine Ausrichtung auf weniger stabile und damit plastischere selbst- und umweltbezogene Kognitionen festzustellen (Conzelmann, 2001, 2009). Diese Ausrichtung hat mehrere sportpädagogisch ausgerichtete Arbeitsgruppen dazu bewogen, der Forderung nach empirischen Nachweisen für den schulischen (oder außerschulischen) Sport nachzukommen (z. B. Brettschneider & Kleine, 2002; Burrmann, 2004; Gerlach, 2008; Heim, 2002; Neuber, 2007; Sygusch, 2007; Tietjens, 2009). Dass dabei, ähnlich wie in der entwicklungspsychologischen Forschung, eine Fokussierung auf das Selbstkonzept stattgefunden hat (Greve, 2000; Krampen, 2002), lässt sich in mehrerlei Hinsicht begründen: Das Selbstkonzept, verstanden als selbstbezogenes Wissenssystem (Filipp & Mayer, 2005, S. 260), ermöglicht erstens bedingt durch dessen höhere Plastizität einen gegenstandsadäquateren Zugang zur Überprüfung des oben genannten pädagogischen Postulats. Zweitens wird in einem zeitgemäßen dynamisch-interaktionistischen Verständnis von Persönlichkeit die Rolle des Individuums als Gestalter seiner eigenen Entwicklung hervorgehoben. Drittens kommt dem Selbstkonzept deshalb eine große Bedeutung zu, weil es in vielen Lebensbereichen eine verhaltensregulative Funktion einnimmt (Marsh & Hau, 2003; Roebers, 2007; Schütz & Sellin, 2003). So hängt es beispielsweise vom Selbstkonzept der eigenen Fähigkeiten ab, welche Ziele man sich setzt und welche sozialen Verpflichtungen man eingeht (Montada, 2008), welche akademischen Leistungen man erbringt (Marsh, Byrne & Yeung, 1999) oder wie zufrieden man mit dem gewählten Beruf ist (Judge & Bono, 2001). Neben der Verbreitung von Selbstkonzeptansätzen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit veränderbaren Persönlichkeitsmerkmalen hat sich eine ähnliche Hinwendung auch in einigen Sportlehrplänen bemerkbar gemacht, indem – beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein oder Hamburg – gefordert wird, dass die Schülerinnen und Schüler ein positives Selbstkonzept ausbilden sollen.

Die pädagogische Frage nach dem anzusteuernden Ziel, dem Entwicklungssoll wird dadurch jedoch noch nicht beantwortet. Gerade die normative Begründung von Erziehungs- und Entwicklungszielen kann und soll aus einer pädagogischen Perspektive und somit im schulischen Kontext nicht ausgeklammert werden (z. B. Prohl, 2006, 216–222; Neuber, 2007, S. 28). Wenn es also um die positive Beeinflussung des Selbstkonzepts im Sportunterricht geht, ist zu fragen, wohin sich Merkmale des Selbstkonzepts von Schülerinnen und Schülern entwickeln sollen. Was meint man, wenn man von einem positiven Selbstkonzept spricht? Geht es darum, ein möglichst hohes Selbstkonzept auszubilden oder gibt es weitere angemessene Zielperspektiven? Die aus unterschiedlichen Forschungszweigen stammenden Empfehlungen sind hierbei uneinheitlich, da sie (a) von einer möglichst realitätsangemessenen Selbstwahrnehmung als „Voraussetzung (…) für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung“ (Hurrelmann, 2006, S. 38), über (b) die Forderung nach einem „positiv-realistischen Selbstkonzept“ (Sygusch, 2008, S. 143), bis hin zu (c) einer Erhöhung des Selbstkonzepts durch den Sportunterricht (Lintunen, 1999, S. 117; Stiller & Alfermann, 2007, S. 136) reichen. Diese Empfehlungen gründen zwar auf evidenten Argumenten, sie entbehren jedoch zum einen einer explizit theoretischen Auseinandersetzung mit der Funktionalitätsfrage. Zum anderen erfolgt deren Beantwortung ohne Berücksichtigung vorliegender empirischer Befunde. Angesichts dieser Antinomie erstaunt, dass alle bis dato gefundenen Interventionsstudien im Sportunterricht auf eine Erhöhung des Selbstkonzepts der Schülerinnen und Schüler abzielen (Annesi, 2007; Calfas & Cooper, 1996; Goni & Zulaika, 2000; Lloyd & Fox, 1992; Marsh & Peart, 1988; Percy, Dziuban & Martin, 1981; Petrakis & Bahls, 1991; Smith, 1982) und dabei die Veridikalität, verstanden als den Grad der „Realitätsangemessenheit der Selbstwahrnehmung eigener Fähigkeiten und Leistungen“ (Helmke, 1992, S. 197), außer Acht lassen.Footnote 1 Wenn dann durch Querschnittsstudien gestützt gefolgert wird, dass Personen mit hohem Selbstkonzept bessere Leistungen bringen als Personen mit niedrigem, und daraus geschlossen wird, dass hohe Selbstkonzepte funktional seien, scheint dies schon deshalb problematisch, da es ja durchaus sein kann, dass Personen hohe Selbstkonzepte aufweisen, weil sie in einer entsprechenden Domäne hohe Fähigkeiten besitzen. In diesem Fall wäre das Selbstkonzept hoch, aber dennoch realitätsangemessen. Neben der Funktionalität der Höhe gilt es also auch die Funktionalität der Realitätsangemessenheit des Selbstkonzepts zu diskutieren. Der folgende Beitrag behandelt daher die Frage, welche Selbstkonzeptausprägungen aus einer psychologischen Perspektive durch den Sportunterricht gefördert werden sollen. Dazu werden theoretische Überlegungen, vorwiegend aber empirische Studien referiert, aus denen sich Empfehlungen für selbstkonzeptfördernde Interventionen im Sportunterricht ableiten lassen.

Welche Selbstkonzeptausprägungen sind funktional?

Obwohl sich Forscher unterschiedlichster psychologischer Teildisziplinen und Forschungstraditionen dem Problem der Funktionalität von Selbsteinschätzungen angenommen haben, gibt es bis heute keine integrative Theorie realitätsangemessener Selbstkonzepte (Wilson, 2009). Diskussionen mit mehr oder weniger konsistenten Ergebnissen wurden jedoch in der Sozial- und Motivationspsychologie (Selbstkonzept, Attributionen), in der Entwicklungspsychologie (Selbstkonzeptentwicklung) und in der klinischen Psychologie (Depression) geführt (Helmke, 1992, S. 197). Da dabei allerdings die Frage nach der Funktionalität realitätsangemessener oder -ferner Selbstkonzepte nie explizit gestellt wurde, scheint es sinnvoll zu sein, den Blick etwas zu weiten und zu fragen, welche Selbsteinschätzungen denn funktional sind. Dies ermöglicht unter anderem den Einbezug von Überlegungen und Untersuchungen, die sich mit Selbstwirksamkeitserwartungen,Footnote 2 als Selbstkonzepte der eigenen Wirksamkeit (Mummendey, 2006, S. 187) und mit positiven Illusionen, als „selbstwertdienliche Selbsteinschätzungen“, auseinandersetzen. Der Mangel an einschlägigen sportwissenschaftlichen Publikationen zur Funktionalitätsfrage führt dazu, dass sich diese Auseinandersetzung ausschließlich auf das Rezipieren von Studien der genannten psychologischen Teildisziplinen beschränken muss. Im Folgenden werden vorliegende Erkenntnisse zur Funktionalität einer Überschätzung, einer realistischen Einschätzung und einer Unterschätzung eigener Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften dargestellt.

Selbstüberschätzung

Bandura (1994) spricht sich in seiner Selbstwirksamkeitstheorie deutlich für den funktionalen Wert einer Überschätzung der eigenen Fähigkeiten aus. Er sieht in optimistischen, leicht überzogenen Selbstwirksamkeitserwartungen das Potenzial, den Menschen zu Taten zu bewegen, die er durch eine allzu akkurate Selbsteinschätzung unterlassen hätte. So sei das Leben voll von Unwegsamkeit, Hindernissen, Rückschlägen und Frustrationen, die nur mit entsprechender Selbstüberzeugung und der damit einhergehenden Leistungsmotivation zu meistern seien. Mit den Worten von Henry Ford könnte man sagen, dass wer immer nur das tut, was er schon kann, immer nur der sein wird, der er schon ist. Unterstützung erhält diese Position durch Befunde, die im Review von Taylor und Brown (1988) zusammengetragen wurden und in der Folge zu einer heftig ausgetragenen Debatte führten: die Optimismus-Realismus-Debatte. Taylor und Brown (1988) vertreten die These, dass unrealistisch positive Selbstbewertungen, übertrieben hohe Einschätzungen eigener Kontrolle (Kontrollillusion) und unrealistischer Optimismus sowohl zu psychischer Gesundheit als auch zu erhöhter Motivation, größerer Leistungsbereitschaft, somit besserer Leistung und schließlich zu mehr Erfolg führen. Ihren Ausführungen zufolge zeigen sich diese selbstwertdienlichen Selbsteinschätzungen in folgenden zwei Tatsachen: „(a) most individuals see themselves as better than the average person and (b) most individuals see themselves better than others see them“ (Taylor & Brown, 1988, S. 195–196). Diese bei den meisten gesunden Individuen vorzufindenden positiven Illusionen zeichnen sich insbesondere durch drei systematische Verzerrungen aus, die (a) die eigene Person, (b) die Welt und (c) die Zukunft betreffen (Taylor & Brown, 1994, S. 21). Dass diese positiven Illusionen normal, adaptiv und gesund sein sollen, scheinen auch Befunde aus der Depressionsforschung zu bestätigen. Alloy und Abramson (1979) konnten zeigen, dass nichtdepressive Individuen häufiger optimistischen Verzerrungen unterliegen als depressive Personen.Footnote 3 Ihr Fazit aus weiteren Studien, die durch die überraschend realitätsangemessene Selbsteinschätzung Depressiver angeregt wurden, war dabei folgendes: „The depressive’s problem is not that he or she suffers from the presence of depressogenic cognitive biases, but rather that he or she suffers from the absence of the nondepressive cognitive biases“ (Abramson & Alloy, 1981, S. 445).Footnote 4 Positive Illusionen scheinen demnach ein Schutzfaktor gegen Depression oder depressive Verstimmungen und ein generelles Kennzeichen psychischer Gesundheit zu sein (Taylor & Brown, 1988). Angestoßen durch diese Erkenntnis wurde im Laufe der Jahre eine Vielzahl an Befunden zusammengetragen, welche die überwiegend positiven Effekte positiver Illusionen stützen (Armor & Taylor, 1998; Bonanno, Field, Kovacevic & Kaltman, 2002; Kurt & Paulhus, 2008; Sedikides, Rudich, Gregg, Kumashiro & Rusbult, 2004; Taylor & Brown, 1994; Taylor & Gollwitzer, 1995; Taylor, Kemeny, Reed, Bower & Gruenewald, 2000; Taylor, Lerner, Sherman, Sage & McDowell, 2003; Willard & Gramzow, 2009; Wright, 2000).

Realistische Selbsteinschätzung

Trotz dieser scheinbar starken empirischen Evidenz der Funktionalität positiver Illusionen für die psychische Gesundheit wurde heftige Kritik an dieser Position und dem damit einhergehenden Menschenbild geübt. Colvin und Block (1994) betonen in der Tradition der humanistischen Psychologie (z. B. Rogers, 1951), dass nur eine realistische Selbst- und Weltsicht die psychische und physische Gesundheit fördern könne – sogar dann, wenn realistisch mit negativ gleichgesetzt werden müsse. Sie stellen sich den von Taylor und Brown (1988, 1994) vorgetragenen Befunden mit methodologischer Kritik und führen ins Feld, die Akkuratheit der Realitätseinschätzungen sei nicht valide erhoben worden. Dabei fordern sie ein externales Validitätskriterium, das es ermöglicht, Personen mit positiver Selbsteinschätzung – die in realis eine Entsprechung finden – von jenen zu unterscheiden, denen diese Entsprechung fehlt. Die Funktionalitätsfrage beantworten zu wollen, indem sowohl die unabhängige als auch die abhängige Variable über ein selbstberichtetes Konstrukt operationalisiert wird, sei per se ein sinnloses Unterfangen. So könne davon ausgegangen werden, dass Personen, die sich selbst überschätzen, generell überzogene Selbstansichten haben und dass so auch das selbstberichtete Konstrukt (z. B. hohes Selbstwertgefühl oder subjektives Wohlbefinden – als abhängige Variable) einer positiven Verzerrung unterliegt (s. auch Shedler, Mayman & Manis, 1993). Zudem bezweifeln Colvin und Block (1994, S. 14) die Übertragbarkeit von Erkenntnissen aus Laboruntersuchungen: Wenn es um die Bestimmung von möglichen Konsequenzen positiver Illusionen geht, fokussieren Laboruntersuchungen gezwungenermaßen kurzfristige Outputs, die mit den langfristigen Konsequenzen nicht übereinzustimmen brauchen. In ihrer Längsschnittstudie versuchen Colvin, Block und Funder (1995) diesen beiden Kritikpunkten Rechnung zu tragen, indem sie im Abstand von fünf Jahren sowohl den studentischen Probanden als auch vier zusätzlichen Versuchsleitern ein Kartenset mit Persönlichkeitseigenschaften unterbreiten und diese bitten, sich selbst bzw. die Probanden mit den Begriffen möglichst präzise zu beschreiben. Personen, die sich zum ersten Messzeitpunkt überschätzten, wurden zum zweiten Messzeitpunkt als zynisch, argwöhnisch, unsicher, dünnhäutig und misstrauisch beschrieben, während Personen, die sich realistisch einschätzten, als aufrichtig, direkt, ehrlich und ausgeglichen beschrieben wurden. Daraus folgern sie, dass eine Selbstüberschätzung, operationalisiert über ein externales Kriterium, besonders im sozialen Kontext negative Konsequenzen mit sich bringen kann. Ein breites Begriffsverständnis von psychischer Gesundheit müsse auch soziale Faktoren berücksichtigen, was ihrer Ansicht nach die zu große Beachtung findenden Ergebnisse von Taylor und Brown (1988) obsolet werden ließen.

Neben dieser eher methodologisch ausgerichteten Kritik an der Funktionalität überzogener Selbsteinschätzungen für das psychische Wohlbefinden des befragten Individuums wird ein zweiter Aspekt diskutiert, der sich auf den Einfluss der Selbstüberschätzung auf die Umwelt (namentlich auf mögliche Interaktionspartner) bezieht. Taylor und Brown (1988, S. 198) behaupten, dass hohe Selbsteinschätzungen auch mit der Fähigkeit einhergehen, sich um andere zu kümmern. Dies soll u. a. deshalb der Fall sein, weil optimistische Menschen generell besser in der Lage seien, gute Stimmung zu verbreiten, sich eher trauen würden, Lob auszusprechen und daher beliebtere Interaktionspartner seien. Gestützt wird diese These z. B. von einer Studie, die sich mit der Entstehung neuer Freundschaften bei Studienanfängern beschäftigt. So stellten Brissette, Scheier und Carver (2002, S. 105) fest, dass Optimisten (als zukunftsgerichtete Selbstüberschätzer) schon 2 Wochen nach Studienbeginn deutlich mehr Freunde gefunden hatten als Pessimisten und gegen Ende Semester einen größeren Freundeskreis hatten. Diesen Befunden steht jedoch eine Reihe von Untersuchungen entgegen, die eher von negativen sozialen Konsequenzen hoher Selbsteinschätzung berichten und Selbstüberschätzer als problematische Interaktionspartner beschreiben, da sie sich durch mangelnde Empathie, hohe Narzissmuswerte und erhöhte Gewaltbereitschaft auszeichnen (Baumeister, Bushman & Campbell, 2000; Baumeister, Campbell, Krueger & Vohs, 2003; Bushman & Baumeister, 1998; Gresham, Lane, MacMillan, Bocian & Ward, 2000). Zudem wird Überschätzern zwar kurzfristig höhere soziale Akzeptanz zugestanden, die sich jedoch in einer eher längerfristigen Perspektive ins Gegenteil kehrt (Colvin et al., 1995; Paulhus, 1998; Robins & Beer, 2001). So konnte Paulhus (1998) zeigen, dass Selbstüberschätzer in wöchentlich stattfindenden Gruppendiskussionen zu Beginn sehr hohe Akzeptanzwerte der anderen Teilnehmer erhielten, nach 7 Wochen aber sehr negativ beurteilt wurden. Dieser Abfall an sozialer Akzeptanz über die Zeit kann mit kompetitiven Selbstdarstellungstendenzen erklärt werden, die sich nicht als sozialverträglich erweisen. Neuere Untersuchungen scheinen diese kurzfristig positiven, aber langfristig negativen Auswirkungen von Selbstüberschätzung auf den interpersonalen Bereich zu erhärten (Anderson, Srivastava, Beer, Spataro & Chatman, 2006; Bonanno, Rennicke & Dekel, 2005; Church, Katigbak, Prado, Valdez-Medina, Miramontes & Ortiz, 2006; Kwan, John, Robins & Kuang, 2008).

Für die Funktionalität einer realistischen Selbsteinschätzung sprechen auch die Ergebnisse der modernen Attributionsforschung. Angetrieben durch das Grundbedürfnis, über die Ursachen von Ereignissen oder Ergebnissen eigener Handlungen informiert zu sein, führen realistische Attributionen eher zu funktionalem und unrealistische Attributionen eher zu dysfunktionalem leistungsbezogenem Verhalten (Försterling, 2000; Försterling & Morgenstern, 2002). Während Personen mit realistischen Attributionen Zeit in Gebiete investieren, in denen sie Stärken aufweisen, vergeuden Personen mit unrealistischen Attributionen Zeit mit Aufgaben, die sie aufgrund mangelnder Fähigkeiten nicht oder kaum schaffen können.

Selbstunterschätzung

Motivationspsychologische Studien untersuchen neben der realistischen Einschätzung und der Überschätzung auch die Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten und kommen zumindest in Bezug auf letztere zu einem einheitlichen Schluss (Weiss & Ferrer-Caja, 2002, S. 112–114). So zeigt sich beispielsweise in einer Studie von Weiss und Horn (1990), dass Überschätzer, Realisten und Unterschätzer unterschiedliche leistungsbezogene Persönlichkeitsmerkmale aufweisen. Aufgrund von Erhebungen der selbsteingeschätzten sportlichen Fähigkeit, der erhobenen sportmotorischen Kompetenz und den daraus gebildeten Differenzwerten, teilten sie die Kinder in 3 Gruppen ein: solche, die ihre Fähigkeiten unterschätzten, solche, die sich realistisch einschätzten und solche, die sich überschätzten. Die Ergebnisse zeigten, dass Mädchen, die sich unterschätzten, weniger Leistungsmotivation, höhere Leistungsangst und eher externale Kontrollüberzeugungen aufwiesen als Mädchen, die sich realistisch einschätzten. Sich unterschätzende Jungen unterschieden sich nur in Bezug auf die Kontrollüberzeugungen von den Überschätzern und den Realisten. Phillips und Zimmerman (1990) haben (bzgl. akademischer Fähigkeiten) hochbegabte Schüler untersucht, welche ihre schulischen Fähigkeiten stark unterschätzen. Dabei haben sie herausgefunden, dass diejenigen, die diese „illusion of incompetence“ aufwiesen, gleichzeitig auch unrealistisch tiefe Erfolgserwartungen und hohe Leistungsangst zeigten sowie selten Aufgaben mit adäquatem Schwierigkeitsgrad wählten. Das Problem inadäquater Aufgabenwahl von Über- und Unterschätzern thematisiert auch Harter (1998, S. 590), die nach ähnlichen Befunden zum Schluss kommt, dass in einem motivationalen Kontext sowohl eine starke Über- als auch eine starke Unterschätzung als dysfunktional für den Erwerb neuer Fähigkeiten taxiert werden muss. Eine maßvolle Überschätzung erachtet sie für das Setting Schule als den funktionalsten Zustand, da dieser mit einer höheren Leistungsmotivation einhergehe als eine realistische Einschätzung, jedoch weniger negative Konsequenzen mit sich bringe als eine starke Über- oder Unterschätzung.

Differenzierte Betrachtung des Problems

Betrachtet man die Ergebnisse der berichteten Studien im Überblick, scheint die Befundlage weder eindeutig für eine Selbstüberschätzung noch für eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zu sprechen und bleibt somit weiterhin für empirische Untersuchungen offen. Einheitliche Befunde finden sich einzig in Bezug auf die Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten, welche durchgehend als dysfunktionaler Zustand ermittelt wird. Dabei stellt sich die Frage, ob überhaupt von der Funktionalität gesprochen werden darf oder nicht eher von differenziellen und komplexen Effekten ausgegangen werden muss. Wie den referierten Befunden zu entnehmen ist, kann der funktionale Wert einer Über- oder Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten in unterschiedlichen Situationen und unter verschiedenen Bedingungen erheblich variieren. Wenn Harter (1998, S. 590) eine leichte Überschätzung als optimalen Zustand im schulischen Setting und zum Erwerb neuer Fähigkeiten betont, spricht sie damit gleich zwei Aspekte an: Es gilt sowohl das Ausmaß der Verzerrung als auch den Kontext, in dem sich ein Individuum befindet (Situationsmerkmale), zu beachten. Nicht in jeder Situation wird eine realistische Selbsteinschätzung den gleichen Erfolg oder Misserfolg mit sich bringen. Während Taylor und Brown (1988) einer Überschätzung kurzfristig funktionalen Wert für das psychische Wohlbefinden (internales Kriterium) zuschreiben, sehen Anderson et al. (2006) langfristig eher negative Konsequenzen für das sich überschätzende Individuum im sozialen Gefüge (externales Kriterium). Welches Kriterium zur Beantwortung der Funktionalitätsfrage herangezogen wird, ist also von entscheidender Bedeutung (Kriteriumsfrage). Und nicht zuletzt ist zu fragen, ob beispielsweise eine Überschätzung für jede Person den gleichen funktionalen Wert besitzt. So ist durchaus vorstellbar, dass weitere Persönlichkeitsmerkmale wie Extraversion oder Offenheit für Erfahrungen die Funktionalität der Überschätzung moderieren könnten, was eine differenzielle Perspektive erforderlich machen würde. Vor diesem Hintergrund scheint eine differenziertere Betrachtung dieser vier genannten Faktoren von Nöten zu sein, um aus ihnen eine psychologisch orientierte Zielperspektive für eine selbstkonzeptfördernde Schulsportintervention ableiten zu können.

Ausmaß der Verzerrung

Die Frage nach der Bedeutung von Selbstüberschätzungstendenzen oder illusionär positiven Denkens für die Gesundheit und eine erfolgreiche Entwicklung wird ausführlich von Baumeister (1989) diskutiert. Seiner Meinung nach kann eine allzu optimistische Selbstsicht besonders negative Folgen haben und sollte deshalb vermieden werden. Eigene Fähigkeiten werden über-, Risiken unterschätzt. Er warnt aber nicht nur vor den negativen Konsequenzen, sondern schlägt in gewissem Maße eine konstruktive Lösung der etwas dichotom geführten Optimismus-Realismus-Debatte vor, indem er einen optimalen Bereich des Ausmaßes positiver Illusionen („optimal margin of illusion“) postuliert, der mit einem optimalen psychologischen Funktionieren einhergehen soll. Dieser Bereich, der in einer leichten Überschätzung der eigenen Fähigkeiten liegt, ermöglicht es dem Individuum, die Vorzüge des illusionär optimistischen und des realistischen Denkens zu verbinden. Abweichungen von diesem angeblich optimalen Bereich in Richtung einer realitätsfernen Selbstüberschätzung sollten ihm zu Folge zu unproduktiver Persistenz oder zu anderen selbstbehindernden Strategien (z. B. Self-Handicapping, Tice, 1991) führen.

Die unproduktive Persistenz wurde von McFarlin, Baumeister und Blascovich (1984) erstmals untersucht und in weiteren Studien erfolgreich repliziert. Bedingt durch die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten unerreichbare Ziele über eine längere Zeit verfolgen oder unlösbare Aufgaben nicht bei Seite legen zu wollen, führt nicht nur zu schlechteren Gesamtleistungen (Vancouver, Thompson, Tischner & Putka, 2002), sondern auch zu negativen Konsequenzen für das psychische Wohlbefinden (Carver & Scheier, 1998, S. 189) oder für die Gesundheit (Solberg Nes, Segerstrom & Sephton, 2005). Dahingegen kann eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zu einer früheren Zielablösung führen und somit personelle Ressourcen – z. B. Zeit und Energie – frei machen, um erreichbare Ziele zu verfolgen (Wrosch, Scheier, Miller, Schulz & Carver, 2003).

Die Strategie des Self-Handicappings kann besonders gut vor Leistungssituationen beobachtet werden. So berichten beispielsweise im Bereich des Leistungssports Sportler vor wichtigen Wettkämpfen sehr offenkundig über Beschwerden, leichte Verletzungen oder unzureichendes Training, um sich somit gegen spätere Kritik an ihren Leistungen zu immunisieren (Mummendey, 2006, S. 82–84). Solche selbst auferlegten Handicaps ermöglichen dem Individuum attributionale Vorteile und können eine selbstwertschützende Wirkung haben: Bei Misserfolg kann das Versagen auf das Handicap attribuiert werden, bei Erfolg scheint die eigene, unter erschwerten Bedingungen erbrachte Leistung besonders bemerkenswert. Diese Attributionsstrategien steigern zwar kurzfristig den Selbstwert, haben langfristig aber sowohl auf letzteren als auch auf die Lern- und Leistungsmotivation sowie auf die zukünftige Leistung einen negativen Effekt (McCrea, 2008; McCrea & Hirt, 2001; Urdan, 2004; Zuckerman, Kieffer & Knee, 1998).

Auch wenn Baumeister (1989, S. 184–185) zusätzlich noch den Fall der Unterschreitung des optimalen Bereichs positiver Illusionen diskutiert und dabei auf die demotivierenden und leistungshemmenden Auswirkungen der Unterschätzung eigener Fähigkeiten verweist (Harter, 1998, S. 590; Weiss & Ferrer-Caja, 2002, S. 112–114), scheint das Problem noch nicht hinreichend gelöst. Die Frage, um wie viel die Realität ins Positive verzerrt sein soll, damit man sich noch im idealen Bereich befindet, dürfte erstens schwierig zu beantworten sein und zweitens von den jeweiligen individuellen und situativen Voraussetzungen abhängen.

Situationsmerkmale

Mit der Bedeutung situativer Gegebenheiten zur Bestimmung funktionaler Selbsteinschätzungen beschäftigt sich auch Bandura (1994). Er benennt Situationen, in denen illusionäre Selbstüberschätzung äußerst gefährlich sein kann. Wenn sich beispielsweise jemand zum Ziel gesetzt hat, schwimmend einen See zu überqueren und dabei seine schwimmerischen Fähigkeiten überschätzt, kann dies ebenso verheerende Konsequenzen haben, wie wenn man seine radfahrerischen Fähigkeiten im Straßenverkehr überschätzt.

„However, the functional value of accurate self-appraisal depends on the nature of the activity. Activities in which mistakes can produce costly or injurious consequences call for accurate self-appraisal of capabilities. It is a different matter where difficult accomplishments can produce substantial personal and social benefits and the costs involve one’s time, effort, and expendable resources.“ (Bandura, 1994, S. 76)

Ebenso gibt es aber auch Situationen, in denen eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und die damit einhergehenden motivationalen Effekte durchaus funktionalen Wert besitzen:

„When people err in their self-appraisal they tend to overestimate their capabilities. This is a benefit rather than a cognitive failing to be eradicated. If efficacy beliefs always reflected only what people can do routinely they would rarely fail but they would not set aspirations beyond their immediate reach nor mount the extra effort needed to surpass their ordinary performances.“ (Bandura, 1994, S. 76)

Empirische Studien scheinen die angedeutete Situationsspezifik zu bestätigen und darauf hinzuweisen, dass die Überschätzung besonders der physischen Fähigkeiten schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen kann. Radfahrunfälle gehören laut einer Untersuchung von Rivara (1985) zu den häufigsten Ursachen schwerwiegender Verletzungen im Kindesalter. Nicht selten ist daran eine Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten mitbeteiligt. So konnte Plumert (1995) in einer Studie an 6- und 8-Jährigen zeigen, dass eine Überschätzung der eigenen physischen Fähigkeiten mit der Anzahl und dem Schweregrad von Alltagsverletzungen zusammenhängt. Je stärker sich Kinder überschätzen, desto größer ist die Gefahr, sich zu verletzen. Geschlechtsspezifische Auswertungen ergaben, dass dieser Effekt bei den Jungen stärker war als bei den Mädchen. Da Ergebnisse weiterer Studien dieser Arbeitsgruppe in die gleiche Richtung weisen (Plumert, Kearney & Cremer, 2004; Plumert & Schwebel, 1997; Schwebel & Bounds, 2003), warnen die Autoren besonders bei physischen oder sportlichen Betätigungen vor einer allzu starken Überschätzung der eigenen Fähigkeiten. Allerdings betonen sie auch, dass diese Resultate keinesfalls dazu veranlassen sollen, eine Unterschätzung als funktionalen Zustand zu proklamieren. Auch wenn die Unterschätzung der eigenen physischen Fähigkeiten Kinder vor Unfällen schützen kann, antizipieren Schwebel und Plumert (1999) ähnlich wie Bandura (1994) negative Konsequenzen für die von ihnen gefundene Gruppe der Unterschätzer: Denn wer sich unterschätzt, verpasst Gelegenheiten, die eigenen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und Neues zu lernen. Eine angemessene physische als auch psychische Entwicklung beinhaltet aber besonders im Kindes- und Jugendalter, Neues auszuprobieren und daran zu wachsen (Bjorklund & Green, 1992). Während eine Überschätzung in gefährlichen Situationen das Unfallrisiko erhöhen kann, wird deren Funktionalität als Motor der Entwicklung in ungefährlichen oder beaufsichtigten Situationen durchaus zugestanden. Ohne die Berücksichtigung der jeweiligen Situation scheint eine sinnvolle Funktionalitätsbestimmung also kaum möglich zu sein.

Taylor und Brown (1994) wollen nicht nur unterschiedliche Situationen, sondern auch unterschiedliche Handlungsphasen und deren Bewusstseinslagen beachtet wissen, um funktionale Selbsteinschätzungen ausfindig machen zu können. Sie gehen davon aus, dass Individuen in der Lage sind, ihre positiven Illusionen aufzugeben, wenn eine bestimmte Situation eine realitätsangemessene Einschätzung erfordert. Durch dieses „window of realism“ (S. 26) könne der Mensch trotz seiner tendenziell positiv illusionären Erwartungen lauernde Gefahren erkennen und entsprechend richtig handeln. Das einer Zielsetzung vorauslaufende Abwägen alternativer Zielsetzungen wäre nach ihnen eine Situation, in der sich eine realistische Selbsteinschätzung lohnt, um die eigenen Ressourcen gewinnbringend einzusetzen. Zur Überprüfung dieser Hypothese nutzten Taylor und Gollwitzer (1995) die Unterscheidung zwischen abwägender (prädezisionaler) und planender (postdezisionaler) Bewusstseinslage und versetzten ihre Probanden (alles Studierende) in die beiden unterschiedlichen Bewusstseinslagen. Danach wurden sie zur aktuellen Stimmungslage, zum Selbstwert und zu allgemeinen Risikoeinschätzungen befragt. Wie erwartet wiesen die Probanden in der abwägenden Bewusstseinslage niedrigere Werte in Bezug auf die Stimmung und den Selbstwert, aber höhere Werte bezüglich ihrer Risikoeinschätzungen auf. Bei den Probanden in der planenden Bewusstseinslage zeigte sich das entgegengesetzte Muster. In einer prädezisionalen Phase sollte folglich eine möglichst realistische Sicht der eigenen Kompetenzen und Risiken vorherrschen, um eine optimale Wahl des anzustrebenden Ziels zu ermöglichen. Ist das Ziel einmal festgelegt und die Entscheidung getroffen, scheinen die zuvor noch als hinderlich bestimmten positiven Verzerrungen motivierenden Charakter anzunehmen, was zu einer Erhöhung der Persistenz führen kann, die zur Zielerreichung notwendig ist. Erfolgreiche Personen sind dabei imstande, sich den situativen Anforderungen flexibel anzupassen. Erfordert die Situation eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten (Abwägen), so wird diese erbracht. Geht es um die Umsetzung des Plans, geben sich diese Personen wieder den für die Bewältigung dieser Handlungsphase funktionalen positiven Illusionen hin. Je nach Handlungsphase, in der man sich zu einer gewissen Zeit befindet, ist die Funktionalität realistischer Selbsteinschätzung also anders zu bewerten.

Kriteriumsfrage

Auch wenn aus der weiter oben skizzierten Optimismus-Realismus-Debatte durch ihre starke Fokussierung auf Methodenfragen und die gegenseitige Ablehnung des zugrunde liegenden Menschenbildes kaum eine eindeutige Lösung für das Problem funktionaler Selbsteinschätzungen zu erwarten ist, lässt sich aus ihr trotzdem eine entscheidende Erkenntnis ableiten: Die Operationalisierung sowohl der unabhängigen (UV) als auch der abhängigen Variable (AV) scheint die Beantwortung der Funktionalitätsfrage stark zu beeinflussen.

So kann die Veridikalitätsvariable (UV) einerseits dadurch gebildet werden, dass Selbsteinschätzungen mit Fremdeinschätzungen verglichen werden (siehe z. B. Kwan, John, Kenny, Bond & Robins, 2004). Hierbei ist allerdings fraglich, ob Fremdeinschätzungen prinzipiell präziser sein können als Selbsteinschätzungen, da ein Beobachter nie mehr Erfahrungen oder Beobachtungsgrundlagen haben kann als die befragte Person selbst (Funder, 1995, S. 657). Andererseits können Selbsteinschätzungen auch objektiven Standards oder Tests gegenübergestellt werden (Dunning, Heath & Suls, 2004, S. 71). Studien haben beispielsweise Selbsteinschätzungen akademischer Fähigkeiten von Studierenden mit ihren Testleistungen oder Noten am Ende des Semesters (Kurman & Eshel, 1998; Robins & Beer, 2001) oder sportliche Fähigkeitseinschätzungen mit sportmotorischen Testleistungen verglichen (Germain & Hausenblas, 2006). Diese zweite Variante hat gegenüber der ersten den Vorteil, dass Verzerrungstendenzen auf Seite der Fremdeinschätzung weitgehend ausgeschlossen werden können. Somit ist die zweite Variante prinzipiell besser geeignet, Über- oder Unterschätzung bei Probanden ausfindig zu machen.

Bei einer differenzierteren Betrachtung der Operationalisierung der Funktionalität (AV) zeigt sich ein ähnliches Bild. So bestimmt nicht nur die Lokation des gewählten Zielkriteriums (internal vs. external) die Ergebnisse entsprechender Studien, sondern auch die zeitliche Perspektive, die zur Funktionalitätsbestimmung eingenommen wird. Studien, die internale Kriterien wie Wohlbefinden, Selbstwert oder Selbstwirksamkeitserwartungen verwenden, kommen vorwiegend zum Schluss, dass eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten funktional sei (Bonanno et al., 2002; Taylor & Brown, 1988; Taylor et al., 2000). Studien, die hingegen Fremdratings wie soziale Akzeptanz oder Indikatoren der Leistungsentwicklung als externale Kriterien heranziehen, ermitteln eher eine realistische Selbsteinschätzung als funktionalen Zustand (Anderson et al., 2006; Colvin et al., 1995; Paulhus, 1998). Durch diese in der Optimismus-Realismus-Debatte unbeachtete Unterscheidung in der Lokation des Zielkriteriums lösen sich die vermeintlichen Divergenzen der zitierten Forschungsergebnisse weitestgehend auf. Positive Sichtweisen der eigenen Person können für das Individuum günstig sein, während sich dieselbe Sichtweise durch entsprechende Handlungen in einem interpersonalen Bereich negativ auswirken kann. Das aus der Sozialpsychologie bekannte Phänomen der Illusion der Gruppenproduktivität (Stroebe, Diehl & Abakoumkin, 1992) zeigt beispielhaft mögliche problematische Situationen auf, die im Anschluss an Gruppenarbeiten entstehen können. Der ungerechtfertigte Glaube, einen größeren Beitrag zu einer gelungenen Gruppenarbeit geleistet zu haben als alle anderen Beteiligten, wirkt sich kurzfristig positiv auf das Wohlbefinden des Individuums aus – und solange dieser Glaube unausgesprochen bleibt, scheint nichts dagegen zu sprechen, sich dieser Illusion hinzugeben. Sobald dieser Gedanke aber geäußert wird, kann dadurch ein Konflikt entstehen, der negative soziale Konsequenzen nach sich ziehen kann. Ebenso bedeutsam scheint die zeitliche Perspektive zu sein. Während Studien, die kurzfristige Konsequenzen betrachten, vorwiegend für eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten plädieren (z. B. Armor & Taylor, 1998; Taylor & Brown, 1994; Taylor & Gollwitzer, 1995), bewerten Studien, die langfristige Effekte untersuchen, eher realistische Selbsteinschätzungen als funktional (Colvin et al., 1995; Paulhus, 1998; Robins & Beer, 2001). Da sowohl internale und externale Kriterien als auch kurz- und langfristige Konsequenzen zur Operationalisierung der Funktionalität herangezogen werden und ihre Berechtigung haben können, ist für jede Studie a priori festzulegen, weshalb sich welche Operationalisierung als geeignet erweisen soll.

Differenzielle Perspektive

Bei der Diskussion um die Funktionalität von realitätsnahen bzw. -fernen Selbsteinschätzungen blieb ein wesentlicher Aspekt bisher weitgehend unberücksichtigt: dass bestimmte Handlungsempfehlungen nicht für jedermann in gleichem Maße gelten können und sollen. Unterschiedliche Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale müssten prinzipiell ebenso in die Funktionalitätsbestimmung einfließen, wie die Situation oder die soziale Umwelt, in der sich jemand bewegt.

Ein differenzieller Zugang stellt beispielsweise die Unterscheidung zwischen strategischen Optimisten – welche die eigenen Fähigkeiten überschätzen – und defensiven Pessimisten – welche mögliche Gefahren überschätzen – dar (Norem & Illingworth, 2004). Hierbei handelt es sich um unterschiedliche Strategien, wie Individuen mit anstehenden Herausforderungen umgehen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass eine Gegenüberstellung dieser beiden Coping-Strategien ohne Berücksichtigung interindividueller Differenzen unsinnig ist und sich keine allgemeingültigen Handlungsempfehlungen ableiten lassen. So schneiden beide Gruppen in standardisierten Testsituationen etwa gleich gut ab, wenn sie sich entsprechend ihrer Coping-Strategie darauf vorbereiten können (Norem & Illingworth, 1993; Tomaya, 2005). Während sich die strategischen Optimisten während der Vorbereitungszeit bewusst ablenken und sich auf vergangene ähnliche Situationen besinnen, in denen sie die Aufgabe erfolgreich bewältigt haben, malen sich defensive Pessimisten mögliche Szenarien aus, die sich aus einer Situation ergeben können, damit sie gedanklich auf alle Eventualitäten vorbereitet sind. Haben letztere nicht genügend Zeit zur Vorbereitung, werden sie nervös und erbringen verhältnismäßig schlechtere Leistungen. Dahingegen lassen sich strategische Optimisten verunsichern, wenn sie dazu angehalten werden, intensiv über eine zukünftige Leistungssituation nachzudenken. Hier muss sich eine Funktionalitätsbestimmung an den jeweiligen Fähigkeiten und Dispositionen orientieren, also differenziell ausgerichtet sein.

Augenscheinlich wird die Notwendigkeit einer differenziellen Perspektive bei einer näheren Betrachtung der Studien zum Unfallverhalten von Kindern. Seit Längerem ist bekannt, dass Verhaltensstörungen (z. B. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung, ADHS; Störung mit oppositionellem Trotzverhalten, SOT) oder Persönlichkeits- und Temperamentseigenschaften (Extraversion; Sensation-Seeking) mit Unfällen von Kindern in Zusammenhang stehen (Manheimer & Mellinger, 1967). Während extravertierte, sich überschätzende oder Sensation suchende Kinder im Verlauf ihrer Kindheit eher Verletzungen erleiden und in Verkehrsunfälle verwickelt sind, bleiben introvertierte, sich unterschätzende, ängstliche und folgsame Kinder eher unversehrt (Dal Santo, Goodman, Glik & Jackson, 2004; Halberschmidt, 2008, S. 62–68; Morrongiello & Sedore, 2005; Plumert, 1995; Schwebel & Plumert, 1999; Schwebel, 2004). Ist man nun für die Unversehrtheit von Kindern verantwortlich, die sich durch hohe Sensation-Seeking-Werte und eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten auszeichnen, wird man voraussichtlich anders Handeln als wenn man es mit sich unterschätzenden, eher ängstlichen Kindern zu tun hat.

Konsequenzen für selbstkonzeptfördernden Sportunterricht

Welche Selbstkonzeptausprägungen sollen nun aus einer psychologischen Perspektive durch den Sportunterricht gefördert werden? Die theoretischen Überlegungen und die Analyse empirischer Studien zum Thema funktionaler Selbsteinschätzungen erbrachten die Erkenntnis, dass die Suche nach einer eindeutigen und für alle Situationen und Personen gültige Funktionalitätsbestimmung notwendigerweise ins Leere gehen muss. Ohne die Berücksichtigung personeller und situativer Begebenheiten kann weder ein optimales Ausmaß an Verzerrungstendenzen bestimmt noch eine geeignete Operationalisierung empfohlen werden. Wenn es im Folgenden also darum geht, Konsequenzen für eine selbstkonzeptfördernde Intervention abzuleiten, müssen diese vier ausgeführten Faktoren Berücksichtigung finden.

Beginnend mit der Frage nach dem optimalen Ausmaß positiver Verzerrungen lässt sich aus den bisherigen Ausführungen eine Empfehlung höchstens dahingehend formulieren, dass für den Sportunterricht eine realistische Selbsteinschätzung bis maßvolle Überschätzung der eigenen Fähigkeiten – im Sinne eines veridikalen bis leicht „positiv gefärbten Selbstkonzepts“ (Sygusch, 2008, S. 143) – die ideale Zielperspektive darstellt. Denn eine Unterschätzung dürfte sich sowohl kurz- als auch langfristig negativ auf die motivationale und affektive Entwicklung auswirken (Harter, 1998, S. 590; Weiss & Ferrer-Caja, 2002, S. 112–114) und eine starke Überschätzung der eigenen Fähigkeiten kann gerade bei risikoreichen sportlichen Aktivitäten zu schwerwiegenden Unfällen oder Verletzungen führen. Durch den eruierten Zusammenhang zwischen Unfallgefahr und bestimmten Temperaments- und Persönlichkeitseigenschaften wird die Bedeutung einer differenziellen Perspektive an dieser Stelle besonders deutlich. So scheinen diejenigen Kinder, die sich sowohl überschätzen als auch hohe Extraversionswerte aufweisen, besonders oft in Verkehrsunfälle verwickelt zu sein und sich mehr Verletzungen zuzuziehen als andere (Plumert, 1995; Plumert & Schwebel, 1997). Während extravertierte Überschätzer also auf ein realistisches Niveau gedrosselt werden sollten, dürften introvertierte Unterschätzer eher von Unterrichtsinszenierungen profitieren, die ihr Selbstkonzept zu erhöhen versuchen. Der Sportunterricht sollte folglich derart gestaltet sein, dass sowohl eigene Stärken als auch eigene Schwächen bewusst gemacht werden können, wobei Überschätzer eher auf ihre Schwächen und Unterschätzer eher auf ihre Stärken fokussieren sollten. Die Lehrperson steht dabei vor der anspruchsvollen Aufgabe, einzelne Schülerinnen und Schüler in ihrem Selbstkonzept zu fördern, während sie andere, die sich um eine weitere Erhöhung des Selbstkonzepts bemühen, eher zu einer realistischen Selbsteinschätzung verhelfen sollte. Nur ein individualisierter Unterricht oder eine differenziell angelegte Intervention kann diesem Desiderat gerecht werden.

Die Situationsmerkmale müssen in mehrerlei Hinsicht Beachtung finden. So ist es nicht unerheblich, ob im Sportunterricht die Steigerung der Ausdauerleistungsfähigkeit auf der 400-m-Rundbahn oder das Schwimmen in offenem Gewässer auf dem Programm steht. Je nach Gefahr, die einer bestimmten sportlichen Aktivität innewohnt, muss einer realistischen Einschätzung der eigenen Fähigkeiten mehr oder weniger Wert beigemessen werden. Eine weitere, nicht zu vernachlässigende situationale Bedingung ist die im Laufe der Entwicklung zunehmende Selbstbestimmung beim Lernen (Flammer, 1983, S. 221). Nicht nur bedingt durch die Pisa-Studie, sondern auch durch die stetig zunehmende Bedeutung des lebenslangen Lernens, ist der Ruf nach selbstgesteuerten Lernformen und Unterrichtskonzepten lauter geworden (Konrad & Traub, 2009). Die Bedeutung, die eine realistische Selbsteinschätzung für eine erfolgreiche Realisierung selbstgesteuerter oder selbstregulierter Lernprozesse einnimmt, ist offensichtlich. Im von Carver und Scheier (1981, S. 203–222) vorgelegten Modell der Selbstregulation stellt die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten den ersten Schritt des in Feedback-Schleifen verlaufenden Regelkreises dar. Nur eine präzise Kenntnis der eigenen Fähigkeiten führt zur Wahl eines erreichbaren Ziels, das mit Nachdruck und entsprechender Selbstmotivierung erreicht werden kann. Bringen wir diese Erkenntnis mit denjenigen der Handlungsphasen zusammen, zeichnet sich ein relativ deutliches Bild: Bevor eine Handlung initiiert wird, also in der prädezisionalen Phase, scheint eine realistische Selbsteinschätzung besonders funktional zu sein, während in der postdezisionalen Phase eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten hilft, die angefangene Aufgabe zu Ende zu führen (Taylor & Gollwitzer, 1995, S. 224). Geht man nun davon aus, dass, um auf die immer rascher von statten gehenden Veränderungen von Qualifikations- und Arbeitsprozessen zu reagieren, in Zukunft selbstgesteuerte Lernformen weiter zunehmen werden, scheint die Empfehlung, auch im Sportunterricht auf eine realistische Einschätzung bis maßvolle Überschätzung der eigenen Fähigkeiten zu fokussieren und sich in dieser zu üben, durchaus angebracht.

Die genauere Analyse der Kriteriumsfrage hat zu Tage gebracht, dass die Wahl des Kriteriums die Funktionalitätsbestimmung in hohem Maße beeinflusst. Im Hinblick auf mögliche Auswirkungen auf den interpersonalen Bereich (externales Kriterium) kann die Empfehlung nur in Richtung einer veridikalen Selbsteinschätzung gehen. Da im Sportunterricht Gruppenaktivitäten schon aus Sportart konstituierenden Gesichtspunkten besonderen Stellenwert besitzen, muss dem zwischenmenschlichen Aspekt besondere Beachtung geschenkt werden. So werden in kaum einem anderen Schulfach der eigene Beitrag zum Gelingen einer Gruppenarbeit sowie die eigene Fähigkeit für alle Beteiligten so offenkundig und unmittelbar dargestellt wie im Sportunterricht. Überschätzer dürften sich also in diesem Setting kurzfristig Vorteile verschaffen und höhere soziale Akzeptanz genießen (Paulhus, 1998), langfristig aber mehr negative als positive Konsequenzen erfahren. Dass der eigene Beitrag zum gelungenen Sieg nicht dem einzelnen Überschätzer, sondern der ganzen Mannschaft zu verdanken ist, werden früher oder später die meisten Mitschüler bemerken. Da bei Kindern und Jugendlichen die soziale Akzeptanz stark mit den physischen Fähigkeiten korreliert (Weiss & Amorose, 2008, S. 126), ergibt sich auch für Unterschätzer ein Problem: Indem sie sich oft mit zu schwierigen oder zu leichten Aufgaben beschäftigen, bietet sich ihnen kaum die Gelegenheit, sich als kompetente Schüler hervorzutun, was sich wiederum in einer geringeren Akzeptanz durch die Peers widerspiegeln kann. Um also die soziale Akzeptanz für alle Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten, sollte auch hier eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten favorisiert werden. Die Wahrung sozialer Akzeptanz einer Person in der Gruppe ist schon deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie eine wichtige Quelle des Selbstwerts (als internales Kriterium) darstellt (Schütz, 2003, S. 57–70) und sich somit sowohl aus einer kurz- als auch aus einer langfristigen Perspektive als ein erstrebenswertes Ziel erweist.

Fazit

In diesem Beitrag wurde versucht, eine neue Zielperspektive für selbstkonzeptfördernde Schulsportinterventionen zu etablieren. Es konnte gezeigt werden, dass in einem sportpädagogischen Kontext die alleinige Fokussierung auf die Höhe des Selbstkonzepts ohne die Berücksichtigung der Veridikalität aus psychologischer Sicht wenig Sinn macht und dass die Beantwortung der Funktionalitätsfrage einer differenzierten Betrachtung bedarf. Nach der Analyse des schulsportlichen Settings – anhand der vier elaborierten Kriterien – hat sich eine realistische Einschätzung bis maßvolle Überschätzung der eigenen Fähigkeiten in vielerlei Hinsicht als die funktionalste Selbstkonzeptausprägung herausgestellt.

Für zukünftige Forschung stellt sich die Aufgabe, empirisch zu prüfen, ob ein veridikales bis leicht erhöhtes Selbstkonzept im Sportunterricht tatsächlich den dargestellten funktionalen Wert besitzt: Sind Schülerinnen und Schüler mit einer realistischen Selbsteinschätzung motivierter und erzielen sie in der gleichen Zeit mehr Leistungsfortschritte als Über- und Unterschätzer? Sind Realisten generell zufriedener mit sich und erfahren größere soziale Akzeptanz bei den Peers? Verletzen sie sich weniger?

Aus sportpädagogischer Sicht ist zudem zu fragen, wie dieses definierte Ziel erreicht werden kann. Die Befunde von Conzelmann, Schmidt und Valkanover (in Druck) zeigen, dass sich die intendierte Wirkung auf das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern nicht durch den Sportunterricht per se einstellt. Vielmehr verlangt die Förderung funktionaler Selbstkonzepte eine spezifische Form der Inszenierung des Sportunterrichts, bei der insbesondere die psychologischen Wirkmechanismen der Selbstkonzeptgenese (z. B. Filipp & Mayer, 2005) zu beachten sind.