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Alles hatte harmlos angefangen an diesem Mittwochvormittag im Oktober 2013. Ein Patient saß im Behandlungszimmer der Assistentin. Sein Problem war ein abgebrochener Zahn, der schon länger mit einem Provisorium versorgt war. „Da müssen wir jetzt eine Krone machen“, erklärte sie ihm. Der Vorschlag stieß auf wenig Gegenliebe; der junge Mann rastete verbal aus und beschimpfte sie. Sie reagierte, indem sie den Stuhl hochfuhr und ihn bat, den Raum zu verlassen. Das tat er auch, ging nämlich in Richtung Garderobe, wo er auf den Praxischef Dr. Wolschon traf. Seine Assistentin hatte ihm von dem Vorfall berichtet und gefragt, wie sie in solchen Situationen reagieren sollte. Der Zahnarzt beschloss, sich vor die Mitarbeiterin zu stellen, ging auf den Patienten zu und sagte: „Sie haben meine Kollegin angemacht“. Die Antwort war eine Drohung: „Dich mach ich kalt“ — und im nächsten Moment fiel Wolschon schon zu Boden. „Eine völlig irreale Situation“, beschreibt er heute, „ich hatte die Hände vor dem Gesicht, weil ich Schläge erwartete, aber der Mann lag auf mir und verkrallte sich in meinen Hals.“

Von der Polizei nicht ernst genommen

Dass er den Angriff überlebte, ist wohl eher ein Zufall. Er selbst konnte sich kaum zur Wehr setzen. Ob sein Griff in die Genitalien des Gegners durch dessen Jeans hindurch schmerzhaft genug war? Oder ob es der beherzte Griff einer Mitarbeiterin um den Hals des Mannes war? Jedenfalls ließ der Angreifer erst von Wolschon ab, als diesem schon schwarz vor Augen wurde. Er hatte überlebt, immerhin.

Leider geht diese Geschichte noch weiter. Der Angreifer wurde zwar kurze Zeit später von der Polizei abgeführt, aber anschließend wurden der Zahnarzt und seine geschockten Angestellten mit ihrer Angst alleingelassen. Seine Mitarbeiterinnen hatten ihm nicht wirklich helfen können. Der vorbestrafte Patient war ihnen in seiner Wut körperlich überlegen und mit gewalttätigen Auseinandersetzungen wohl auch eher vertraut als als dem Praxisteam. „Ich arbeite zwar regelmäßig in der JVA Bützow“, sagt der Zahnarzt, „aber ich war nie darauf vorbereitet, dass mir in meiner Praxis etwas passieren könnte“.

Wolschon und sein Team hatten den Eindruck, die Kriminalpolizei fände ihre Reaktion völlig übertrieben. Keine verwüstete Praxis, kein Blut, also auch keine ernst zu nehmende Gewalt? Die Beamten gingen — ohne jede Vernehmung — von dem Tatbestand einer Körperverletzung aus. Ob sie anders gehandelt hätten, wenn es um einen versuchten Totschlag gegangen wäre? Sie sahen keinen Haftgrund; die Opfer wussten deshalb tagelang nicht, ob ihr Angreifer frei herumlief oder nicht. Erst ein Opferhilfe-Verein, an den sich Wolschon wandte, half mit einem ausführlichen Gespräch bei der Klärung der Situation. Auch bei der psychischen Verarbeitung des Traumas. Schuldgefühle spielten eine Rolle: Hätte man dem eigenen Chef nicht besser helfen können? Und Ängste: Was, wenn er das nächste Mal mit einem Messer kommt? Als Praxisinhaber fühlt sich Wolschon natürlich für seine Mitarbeiterinnen verantwortlich und möchte das Gefühl haben, dass sie in seiner Praxis sicher sein können. Dieses Gefühl von Sicherheit hat der Patient, dem die junge Zahnärztin eine Krone empfohlen hatte, gründlich ruiniert.

Gewaltprävention in der Arztpraxis

Dr. phil. Martin Eichhorn weiß, dass genau diese Wirkung typisch ist für Menschen, die mit Gewalttätigkeit konfrontiert worden sind. Er ist Trainer und Seminarleiter für Konfliktprävention, außerdem arbeitet er seit Jahren ehrenamtlich für den Weißen Ring, die größte deutsche Opferhilfe-Organisation. Sein Buch über Gewaltprävention in der Arztpraxis wurde im Deutschen Ärzte-Verlag veröffentlicht. Inzwischen ist es vergriffen, und bei Eichhorn reißen die Aufträge für Seminare zum Thema nicht ab. Übergriffe von Patienten oder deren Angehörigen sind in deutschen Arztpraxen, in Verwaltungen oder Bibliotheken nicht so selten, wie man vielleicht glaubt. In seinen Seminaren findet sich erfahrungsgemäß fast immer ein Mensch, der bereits einmal Opfer einer Gewalttat war. Auf den Bericht von Wolschon reagiert der Trainer betroffen. Er erklärt, dass Überfälle eine Eigendynamik haben und es wenig Patentrezepte gibt. Hat der Täter ausreichend kriminelle Energie, ist ein Überfall nicht immer zu verhindern.

Ganz wichtig ist ihm, die eigene Angst ernst zu nehmen und mit möglichen Gewalttätigkeiten zu rechnen. Panik hilft natürlich nicht, aber Angst kann dazu führen, dass man sich auf eine Situation vorbereitet, die hoffentlich nie eintritt. Durch Training kann man lernen, potenziell gefährliche Situationen früher zu realisieren und sich so einen Zeitvorsprung zu sichern. „In einer Gewaltsituation ist man so unter Stress, dass man sich nichts Vernünftiges überlegen kann“, weiß Eichhorn. Ein Grund mehr, sich vorher eine Strategie für den Fall der Fälle auszudenken.

Wer zum Beispiel Angst davor hat, allein in der Praxis den nächtlichen Bereitschaftsdienst zu übernehmen, sollte sich konkrete Gegenmaßnahmen überlegen. Licht und Bewegungsmelder helfen gegen die Furcht vor der Dunkelheit, aus der überraschend ein Angreifer heraustreten könnte. Ein guter Spion in der Tür erlaubt einen ersten Überblick über Zahl und Verhalten der Besucher. Eichhorn rät auch dazu, die Praxisräume im Dunkeln von außen zu betrachten. Erkennt man schnell, wie viele (oder wenige!) Angestellte im Bereitschaftsdienst anwesend sind? Das lässt sich durch Vorhänge oder Jalousien ändern. Die eigene Angst bessert sich auch, wenn man über Fluchtwege nachdenkt. Es gibt Sicherheit, wenn man weiß, wohin man sich im Notfall zurückziehen würde, um einen Notruf zu tätigen.

Verbale Hinweise

Wenn tatsächlich eine bedrohliche Situation entsteht, dann vermutlich meistens am Empfang. Welche Art von Übergriff ist ein erster Schritt zur Gewalt? Eichhorn rät dazu, sich auf das eigene Bauchgefühl zu verlassen und empfiehlt Zahnärzten und Mitarbeiterinnen, klare Grenzen zu setzen. Gut findet er es, schon auf einer niedrigen Stufe zu reagieren, um einen sich anbahnenden Konflikt zu entschärfen. Wenn der Patient „Du“ statt „Sie“ sagt oder sich bedrohlich dicht vor seinem Opfer aufbaut, sind klare verbale Hinweise angebracht. Seiner Erfahrung nach reicht das oft, um einen Angeber zur Räson zu bringen. Aber wie sagt man was genau? Das übt Eichhorn in seinen Seminaren. Auch in einer Teamsitzung könnte man thematisieren, welche Reaktionsmöglichkeiten vorstellbar und gewünscht sind. Darf eine Mitarbeiterin einen provozierenden Patienten aus der Praxis weisen? Und welche Formulierung passt individuell, welche Wortwahl wirkt aufgesetzt?

Eichhorn ist selbst Kampfsportler. Aber wenn die Situation in der Praxis zu eskalieren beginnt, ist sein Lösungsvorschlag nicht das Kämpfen, sondern die möglichst unauffällige Entschärfung der Situation. Weder die eigenen Fäuste noch der Griff zum Abwehrspray sind für ihn empfehlenswert. „Der Angreifer hat vermutlich viel mehr Erfahrungen mit einer körperlichen Auseinandersetzung“, mutmaßt er. Und das Pfefferspray kann einem leicht aus der Hand genommen werden, außerdem wirkt es unter Umständen schlechter bei Brillenträgern, Drogenkonsumenten oder sehr agitierten Patienten. Bleibt also doch nur die Flucht? „Ja“, rät der Trainer, „auch wenn diese Entscheidung gerade männlichen Praxischefs oft sehr schwerfällt“.

Table 1 Angst vor Gewalt in der Praxis?

Eichhorn hat eine Reihe von Tipps parat, um sich auf eine Gewaltsituation vorzubereiten. Er findet es grundsätzlich sinnvoll, im Rahmen einer Teamsitzung mögliche Abläufe durchzuspielen: Was sollen beispielsweise die Kolleginnen tun, wenn jemand am Empfang laut wird? Woran erkennen andere Mitarbeiter, dass ihre Hilfe gebraucht wird? Welche Fluchtwege gibt es?

Der Handy-Trick

Und er hat Tipps für die Entschärfung bedrohlicher Situation. Da kann zum Beispiel der Handy-Trick helfen: „Oh, sorry, mein Handy vibriert“, sagt man und hält es ans Ohr, um sich dem angeblichen Gespräch zu widmen und flink aus dem Gefahrenfeld zu gehen. In dieser Situation ist eine unauffällige Flucht ins Nebenzimmer zum Beispiel mit dem Hinweis „ich werfe mal einen Blick in die Akten“ leichter möglich.

Ist Gewalt überhaupt ein Thema?

Gewalt gegen Ärzte ist in Deutschland nur selten ein Thema. Bei uns sind tätliche Angriffe die Ausnahme. Nur selten berichten die Medien über spektakuläre Fälle. So hatte 2009 ein Patient aus Leonberg seinen Zahnarzt geschlagen, weil er überzeugt war, dieser hätte eine „Wanze“ in seinem Zahn versteckt. Und 2011 hatte eine 35-jährige Patientin mit paranoider Schizophrenie einen Ulmer Zahnarzt mit einem Küchenmesser angegriffen. Erst mithilfe des ganzen Teams gelang es, die zierliche Frau zu überwältigen.

Solche Extrembeispiele sind selten. Aber welcher Zahnarzt wurde noch nie in der Praxis beleidigt, bedroht oder sonst wie unter Druck gesetzt? Auch die Mitarbeiterinnen können oft Geschichten solcher unangenehmen Begegnungen erzählen. In China ist die Situation ernster; hier bekommen Ärzte wegen der zunehmenden Gewalttätigkeit neuerdings Kung-Fu-Kurse. In einer Umfrage kam die Chinesische Krankenhaus-Vereinigung zu dem Ergebnis, dass es 2012 in 316 teilnehmenden Krankenhäusern aus 30 Provinzen durchschnittlich 27 Patienten-Attacken gegeben hatte. Das sind sieben Fälle mehr als noch 2008, so das staatliche Sprachrohr Xinhua.

Wie gesagt: Bei uns sind gewalttätige Übergriffe auf Zahnärzte tatsächlich Ausnahmen, zum Glück!

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