FormalPara Karin Bock (KB) und Rita Braches-Chyrek (RBC):

Die Diagnosen und Prognosen über den Stand der Digitalisierung in der Sozialen Arbeit werden z. Z. noch sehr häufig auf Veranstaltungen und nur bedingt in Publikationen geführt. Zentral stellt sich daher die Frage, welche Konzepte zur Verfügung stehen, mit denen die ständigen und weitgehenden Verstrickungen der Sozialen Arbeit mit der umfassenden Informatisierung erfasst und diskutiert werden können. Es scheint ein „weites Feld“ zu sein (wenn wir diese literarische Anleihe wagen dürfen). Allerdings liegt klar auf der Hand, dass sich hier Diskurse ineinander schieben – etwa zur Geschlechterfrage, zu sozialen Folgen der Digitalisierung im globalen Kontext, zu neuen sozialen Ungleichheitslagen, zum Klima- und Umweltschutz, zur Postwachstumsgesellschaft und nicht zuletzt: zur Ablösung von der Diziplinargesellschaft (Foucault) zur Kontrollgesellschaft (Deleuze). Ein internationaler Diskurs, der an die Internationale erinnert?

FormalPara Maria-Eleonara Karsten (MEK):

Die Anleihe bei der ‚Internationalen‘ – dem (!!) zentralen Lied der Arbeiter*innenklasse Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts – zeigt Größe und Bedeutsamkeit des tiefgreifenden gesamtgesellschaftlichen Wandels durch Digitalisierung bis zu Künstlicher Intelligenz (KI) auf, in dem alle Lebenslagen und besonders die sozialen Lebenswelten grundlegend neu konstituiert und konfiguriert werden. Hervorzuheben ist dabei, dass und wie die Genderverhältnisse in sehr neuer, Ungleichheit verstärkender Weise hiervon betroffen sind oder sogar diese selbst aktiv mitgestalten.

FormalPara KB und RBC:

Hier werden zwei unterschiedliche Diskurse angesprochen: Einerseits geht es um die Gestaltung informationeller und materieller Umwelten in unserer Gesellschaft; andererseits um die Durchstrukturierungen von Möglichkeitsräumen. Es stellt sich aber die grundlegende Frage, wer über die Vorauswahl von Optionen für die Gestaltung von Wohlstandsbiographien und Risikobiographien, wie es Ulrich Beck (1998) formuliert hat, bestimmt?

FormalPara MEK:

Für alle, und das sind zu rund 85 % Männer, die in der internationalen Digitalisierung vom praktischen Programmieren bis zu Informatikwissenschaften oder Mathematik direkt dabei sind, ist dies ein (willkommener?) Zugewinn an Definitionsmacht für ihre aktive Beteiligung in den aktuellen, wie auch zukünftigen digitalen Kommunikations‑, Sozial- bis Verhandlungsstrukturbildungen, um sich, algorithmenbasiert, binär, vom Kinderspiel bis zur KI-Entwicklung, sprachmächtig durchzusetzen. Dies zeigen differenziert Studien der Universität Kopenhagen, die Literatur von 1900 bis 2008 als Grundlage für algorithmisierte Programme in Hinblick auf Zuschreibungen für Frauen und Männer analysiert haben mit dem (leicht erwartbaren?) Ergebnis, dass sehr dominant Zweigeschlechtlichkeiten nachgezeichnet werden konntenFootnote 1. Die binäre Logik der Programmiersprachen baut somit auf bereits vorhandenen, binären Gendersprachenlogiken auf und verstärken diese KI zugunsten männlicher Sprachmuster und Sprachinhalte.

FormalPara KB und RBC:

Und: Wenn die Tätigkeiten abstrakter werden, verlangt dies nach einer zunehmenden Interpretation, Rekontextualisierung und Deutung von Informationen. Gegenwärtig lassen sich bei der Einführung digitaler Technologien allerdings systematische Übersetzungsprobleme von der Logik der Software in die Realität komplexer soziotechnischer Berufs‑, Lern- und Arbeitswelten beobachten – gerade weil das Nichtformalisierbare, das Überraschende und Nichttriviale sozialer Kommunikation vernachlässigt wird. Für die Soziale Arbeit stellt sich nun die Frage, wie sie ihren Fokus zugunsten der beschriebenen Sozialität digitaler Technologien neu ausrichtet. Wie können soziale Innovationen sinnvoll verwendet werden und welche Rolle spielen Auseinandersetzungen um Bildung und Ethik? Es stehen also die zahlreichen Nebenwirkungen hier im Fokus der Debatten, die unter den Begriffen digital Native oder auch iDisorder verhandelt werden, wie bspw. das ständige Starren aufs Smartphone, Angstzustände bei Abwesenheit digitaler Geräte, Enthemmung in der virtuellen Kommunikation, ausgeprägter Narzissmus in der Selbstdarstellung, insbesondere in angeblich sozialen Netzwerken, Aufmerksamkeitsstörungen, ein beeinträchtigtes Durchhaltevermögen, Empathieverlust und Einsamkeit im Alltag. Und auch globaler gesehen haben wir Herausforderungen, die wir noch gar nicht recht orten oder identifizieren können, die Stichworte (siehe auch oben) wären hier etwa: Verschiebungen innerhalb der Berufswelt(en), Generationen- und Verteilungskonflikte, nationale wie internationale Verschiebungen und Neuordungen, aber auch die Frage danach, was wir eigentlich mit der „Durchdigitalisierung“ unseres Alltags wollen (philosophisch gesehen).

FormalPara MEK:

Für alle, die nicht genauso aktiv oder deutlich, auch quantitativ weniger dabei sind, wie z. B. in Sozialen Berufen und sozialpädagogischen Professionen von Bildungs- bis Studiengängen, heißt die gleiche Situation, dass sich solche grundlegenden Gesellschaftsveränderungen, quasi hinter ihrem Rücken, verallgemeinern. Und dies sind dann, ebenso quantitativ umfänglich, Frauen und LGBTIQ*, denn sie sind es, die, vor allem in Erziehungs- und in Sozialen Berufen zu 82 bis 93 %, im direkten Interaktionshandeln mit Adressat*innen jeden Lebensalters und jedweder sozialen Lebenswelten vorrangig tätig sind – hier weitgehend unter Männerregie in den Leitungs- und Sozial-Managementpositionen und damit also unter (eben wiederum männlichen) Macht- und Definiererpositionen. Letzteres gilt in der Diskussion von Sozialen (Frauen)Berufen bis in empirisch fundierte Professionsdebatten fast schon als Allgemeinplatz – und im aktuellen Fachkräftemangel als unmittelbar erfahrbare Alltagsweisheit.

FormalPara KB und RBC:

Diese deutliche Vermischung von Diskursen zeigen schon Argumentationsfiguren, die seit den 1970er Jahren geführt werden und die den digitalen Technologien eine demokratisierende und anti-institutionalisierende Wirkung zuschreiben. Zentral ist, dass die Digitalisierung zu keinem Bruch mit der bürokratisch-kapitalistischen Gesellschaftsordnung geführt hat und dass dies Entwicklungen bis heute von einem doch sehr neoliberal anmutenden Selbstverständnis des Selbstmanagements und der Selbstverwirklichung getragen werden, wie bspw. das Verschwimmen der Grenzen von Arbeit und Freizeit, von sozialen Kontakten, wie bspw. Freund*innen und Kolleg*innen, von sozialen Kollektiven, Familie oder alternative Familienzusammensetzungen und auch von Identitäten zeigen, wie etwa die immer wieder diskutierten Vorstellungen des „unternehmerischen Selbst“ Einzug darin halten.

FormalPara MEK:

Ganz entgegen vielseitiger, fast schon euphorischer Programmatiken auf internationaler, Bundes- und Länderebenen, wie z. B. einer Vielzahl an Digitalpakten bis zu der Caritas-Kampagne 2019: „Sozial braucht digital“ und HRK plus KMK-Forderungen (2018/2019) wurden die Wege der Realisierung vielerorts im Sozialen weder kritisch reflektiert in den Prozessen der Realisierung und reflektierend begonnen und begleitet, noch hinsichtlich potentieller problematischer Wirkungen und Nebenwirkungen der Enteignung und – vor allem technisch induzierter – Fremdbestimmung auch nur einigermaßen angemessen diskutiert. Die umgekehrte Aussage: „Digital braucht sozial“ findet sich praktisch nirgendwo bzw. ist derzeit wenig populär.

FormalPara KB und RBC:

Daher stellt sich die Frage, wenn die digitalisierte Wissensproduktion als ein Ort der Konkurrenz um Macht betrachtet wird, die eigentlich eine Konkurrenz um Laien (also die Nutzer*innen) ist, genauer um das Monopol auf das Recht im Namen eines mehr oder weniger großen Teils der Laien zu sprechen und handeln, was sind dann die Folgen? Ausgehend von der Annahme, dass die Grenzen zwischen dem politisch Sagbaren und Nicht-Sagbaren, dem Denkbaren und Nicht-Denkbaren das Verhältnis von Sozialer Arbeit und digitaler Bildung bestimmen, also die Fähigkeit, Interessen zum Ausdruck zu bringen und dies nicht nur im Rahmen der institutionellen und organisationalen Verortung von Sozialer Arbeit (deutlich wird dies an der Vielzahl von online Kampagnen, die entstanden sind, etwa Green action, Campact, Change etc.). In den Feldern der sozialen Integration, Inklusion, Umverteilung, Vermeidung sozialer Risiken usw. können diese neuen Orientierungen auch als Versicherungs- und Zulassungsbewegungen, Schließungs- und Enteignungseffekte der Digitalisierung betrachtet werden.

FormalPara MEK:

Daran ändern einzelne Lehrbücher oder auch das vorliegende Heft bisher nur wenig, denn eine breite gesellschaftskritische, konstruktive Diskussion, die ernsthaft und öffentlichkeitsinteressiert und öffentlichkeitswirksam zum Nach- und Weiterdenken anregt oder diese gar herausfordert, findet sich derzeit höchst vereinzelt bis gar nicht.

FormalPara KB und RBC:

Für die Soziale Arbeit stellt sich nun die Frage, wie sie ihren Fokus zugunsten der beschriebenen Sozialität digitaler Technologien neu ausrichtet. Dazu gehört, dass neben dem Zugang zu Informationen und Wissen der kreative und mitunter spielerische Umgang mit denselben an Bedeutung gewinnt, damit die Adressant*innen und Fachkräfte bei zunehmender Automatisierung zu Problemlösungen befähigt werden. Zudem konfrontieren uns die digitalen Technologien mit bislang unwahrscheinlichen Formen der Organisation von Komplexität. Auch in diesem Zusammenhang ist die berufliche Aus- und Weiterbildung gefordert, die sozialen und kulturellen Veränderungen der Arbeitswelt in den verschiedenen Berufsfeldern aufzugreifen und die Sozialität der Digitalisierung zu fokussieren. Insgesamt denken wir, liegt die Herausforderung in der Förderung all jener Kompetenzanforderungen für die Gestaltung der sozialen Innovationen in digitalisierten Arbeitswelten, die durch den technischen Fortschritt möglich und notwendig werden.

FormalPara MEK:

Insbesondere für alles Soziale und alle Sozialen Berufe wäre dieses jedoch unabdingbar geboten, da diese, weil selbst kaum (bisherigen Prognosen zufolge max. zu 7 %) digitalisierbar, immer stärker unter den sprachlichen Vordefinitionen und Übersetzungsprogrammen fremdbestimmt und überformt werden im berufspraktischen Handeln ebenso, wie in dessen Organisation und Verwaltung Finanzierungsformen bis in die Ausbildungen und auch in Lehre, Forschung, Fort- und Weiterbildungen im Hochschul- und Universitätsbereich. Hinzu kommt noch die allseits beliebte, ebenfalls „männerlastige“ Wissens- und Personen-Suchmaschine Wikipedia, die mit einer Wahrheitsverkündungsattitüde auftritt und von den wenigsten Nutzer*innen im Hinblick auf Wissenskonstruktion bis Inhaltlichkeit grundlegend hinterfragt und problematisiert werden kann.

FormalPara KB und RBC:

Geht es nicht vielmehr darum, den historischen Moment der technischen Entwicklung mit den uns zur Verfügung stehenden Instrumenten wahrzunehmen und die allseits verhandelten scheinbar doch nicht zu verändernden Grundlagen der Mensch-Computer-Symbiose in das öffentliche Bewusstsein zu rücken, wie bspw. „die kulturell habitualisierten Nutzungsweisen mobiler Medien“ (Kaerlein 2017, S. 14). Rückblickend erscheint die derzeitige Transitionsphase als etwas Neues, jedoch veranlassen diese „selbst gewählten Daseinsformen“ (Beck 1989, S. 22) nicht immer wieder zu Spekulationen über die Ausweitung der Einsatzfelder weiterer technischer Ausgestaltungen und die Nutzungskontexte? Zudem bewegen wir uns mit der KI in eine vollkommen neuartige Dimension elektronischer Überwachung und Manipulation, die wir überhaupt nicht abschätzen können, quasi der real gewordenen Dystopien, wie wir sie aus den filmischen Inszenierungen der 1980er und 1990er Jahre kennen….zugegeben: diese Dystopien sind zuvörderst von Filmemachern und Autoren (quasi frauen- und eventuell nicht LGBTQ*-bekennend) erschaffen worden, aber ist das an dieser Stelle wirklich evident? Ist die Genderfrage eine dringende Frage in diesem Kontext?

FormalPara MEK:

Dass es sich dabei, so ganz nebenbei, insgesamt um eine mindestens vierfache faktische bis alltagsgestaltende, neuerliche, offene und subtil sich durchsetzende Vermännlichungsstrategie, -politik und -praxis handelt, insbesondere durch die sozialen Konstruktionen in den (Computer‑)Sprachen in Kombination mit bereits existierendem Ungleichheitshandeln und (sozialem) Managementhandeln im insgesamt abgewerteten intermediären Sozial- und Wohlfahrtsstaatsgeflecht führt dazu, dass heute, nicht erst in Zukunft, zwar auf grundsätzlich neuem Niveau, aber dennoch alle Geschlechtergerechtigkeiten- und erreichten Intersektionalitätsreflexionen zurückgeworfen werden in die Anfangsgründe der Frauen- und Sozialen Bewegungen der 1960er Jahre West.

FormalPara KB und RBC:

Ja, sicher aber: vielleicht wäre es an der Zeit, eine neue queere soziale Bewegung ins Leben zu rufen, die sich im Horizont der Intersektionalisierungsdiskurse sowohl soziale wie philosophische Fragen stellt, um dem Digitalen das Soziale einzuhauchen…und dieses Mal: global.

FormalPara MEK:

Die Aufforderung und Initiative zu einer globaleren Sozialen Bewegung ist in so tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüchen in jedem Fall zu unterstützen, als eine Art „Voice“ (Hirschmanns 1970) zu praktizieren, dies ist unstrittig. Zusätzlich und zu allererst ist dies aber auch und zu betonen, die heute wohl wichtigste und umfassendste, grundgesetzlich geforderte fachliche und professionelle Aufgabe aller sozial verantwortlich politisch Denkenden, Reflektierenden und Handelnden in Sozialen Berufen, von der kommunalen Ebene bis in die nationalen und internationalen Arenen und vom direkt interaktiven bis in die planend politisch-definierenden Gremien und Instanzen, die besondere deutsche intermediäre Sozialstaatsorganisationen auf Arbeitgeber*innenseiten ebenso wie auf der Seite der Berufstätigen. Bildungs- und Studiengänge, von Sozialpolitik bis Soziale Arbeit und Sozialpädagogik, Forschung und wissenschaftliche Entwicklungen sind dabei ebenso gefordert, wie die gesellschaftlich relevanten Gruppen von Kirchen bis zu Parteien und Selbsthilfen.

In, mit und für diese Akteur*innen und Arenen geht es um empirisch gehaltvolle und konkretisierte „Voice“, um Selbst-Bewusstsein, Selbst-Bestimmung und sozial gerechtere, wirkmächtige Definitions- und Durchsetzungskraft in den Digitalisierungs‑, Zeit- und Mensch–Technikgestaltungsprozessen und sich dadurch grundlegend verändernden Theorie–Praxis–Theorieverhältnissen zurück und, oder auch ganz neu, zu erreichen.