1 Digitalisierung der Beratung – Internet als Beratungssetting im E- und M-Counseling

1.1 Soziale Arbeit und Beratung in einer digitalisierten Welt

Digitalisierung wird immer stärker zum Thema in Sozialer Arbeit. Obgleich mit der Herausbildung der Sozialinformatik kommunikations- und informationstechnologische Entwicklungen zumindest marginal in der Wissenschaftsarchitektur der Sozialen Arbeit präsent sind (Peters 2014), rückt erst die Massennutzung von Internet und mobilen Endgeräten das technische Feld stärker in Bezug zum personenbezogenen, sozialpädagogischen Handeln und damit in den Fokus fachlicher Überlegungen. Auch die aktive Entwicklung, konzeptionelle Ausgestaltung und Nutzung von Online-Beratung in der Sozialen Arbeit begann eher zögerlich (Peters 2014). Viel eher in den Blick kamen die durch die Digitalisierung beeinflussten und für eine sozialpädagogische Bearbeitung relevant erscheinenden kulturellen und sozialen Nebenwirkungen der Digitalisierung als Anlass sozialpädagogischer Auseinandersetzung: Themen wie CybermobbingFootnote 1, -bullyingFootnote 2 und -groomingFootnote 3 bilden einen Teil der hier aufzuzählenden belastenden Erlebensformen im Netz (Bertsche und Como-Zipfel 2016), die in das sozialpädagogische Zuständigkeitsfeld eingingen. Hinzu kamen neue Problemlagen durch den exzessiv-suchtähnlichen Gebrauch von Computer- und Internet-Games, Chat-Foren und sozialen Netzwerken, zu denen inzwischen fachliche Netzwerke entstanden sind (z. B. Fachverband Medienabhängigkeit e. V.). Aber auch die generell steigenden Zahlen an Nutzer*innen des Internets und der Dienste wie Instagram, Facebook, YouTube oder WhatsApp und die Frage nach dem Umgang mit sensiblen Daten und deren Schutz (auch innerhalb professioneller Hilfesettings) erheben Digitalisierung zu einem nicht mehr zu ignorierenden Gegenstand für Soziale Arbeit und hier spezifischer der Kinder- und Jugendhilfe (Bertsche und Como-Zipfel 2016; Kutscher 2015; Klein 2013).

Die sich verändernden Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten haben dabei auch Einfluss auf die Beratungswelt und ihre Settings. So stellt Beratung im Internet eine eigene, immer häufiger beanspruchte Form der Beratung dar (Döring und Eichenberg 2013a), die sich seit Mitte der 1990er-Jahre allmählich, z. B. angegliedert an die Telefonseelsorge, entwickelt hat (Peters 2014). Internetberatungssettings können ausschließlich über dieses Medium erfolgen oder aber unterschiedlich mit Face-to-Face (f2f)-Ansätzen verknüpft sein. Der Begriff des Blended Counseling (Nestmann 2008) etablierte sich hierfür als eine Beratungsform, die im Internet traditionelle Beratungssettings anbahnt, der professionell geleitete Internet-Chat-Gruppen als Nachsorge dienen oder bei der Internetdienste durch f2f-Sitzungen ergänzt werden (Hörmann et al. 2019; Hörmann 2018; Weiß 2013; Döring und Eichenberg 2013a). So unterscheiden u. a. Emily Engelhardt und Richard Reindl (2016) vier Typen von Blended Counseling, je nachdem, über welches Format der Kontakt hergestellt bzw. fortgesetzt wirdFootnote 4.

Mittlerweile existiert eine Reihe von E‑Beratungsstellen, deren Selbstverständnis sich keineswegs nur mit einem die eigentliche Beratung anbahnenden oder ergänzenden Beitrag deckt (Reindl 2009; Klein 2013). Der generell wachsenden Nachfrage nach Beratung und den damit einhergehenden längeren Wartezeiten und stärker eingeschränkten Beratungsleistungen könnte zudem, so die Hoffnung, über innovative Wege und Methoden der Beratung abpuffernd begegnet werden (Gehrmann 2014; Döring und Eichenberg 2013a). Auch der Boom der Mobilkommunikation eröffnet für Beratung weitere Optionen, die bisher v. a. im Bereich der Gesundheitsförderung, der psychosozialen Versorgung im ländlichen Raum, aber auch bei SMS-basierten Nachsorgeprogrammen für Patient*innen im Anschluss an einen Klinikaufenthalt, z. B. aufgrund von Bulimia nervosa, aufgegriffen wurden (Döring und Eichenberg 2013b; Kühne und Hintenberger 2013).

1.2 Eine begriffliche Klärung der „Beratung im Internet“

Für das Beratungssetting „Internet“ existiert eine Vielzahl von Bezeichnungen: u. a. Online-Beratung, Online-Therapie, E‑Coaching, Online-Counseling, Beratung im Netz, Beratung im Cyberspace, E‑Mental-Health, virtuelle Beratung, E‑Beratung, E‑Counseling, Cyber-Counseling, E‑Consulting, Distance Counseling, Beratung in der virtuellen Welt, M‑Therapy (mobile therapy) bzw. M‑Mental-Health (Engelhardt und Storch 2013). Gemeint ist jeweils eine computergestützte, medial und über das Internet vermittelte, interaktive Beratung (Gehrmann 2014). Für den psychosozialen Bereich hat sich der Begriff Online-Beratung durchgesetzt, wenngleich auch Formen subsumiert werden, die nicht erfordern, dass alle Beteiligten synchron online sind, wie z. B. asynchrone Formen der webbasierten E‑Mail-Beratung.

Beratung via Internet umfasst unterschiedliche konkrete Kommunikationsformen, wie E‑Mail-Beratung, Chat-Beratung, Beratung in Foren oder per Apps, aber auch zunehmend videobasierte Kommunikationsformen – als Annäherung an f2f-Beratungssettings –, die jeweils technisch vermittelte Interaktionen darstellen und über Internetdienste (z. B. E‑Mail, Chat) realisiert werden (Engelhardt und Storch 2013). Der Chat gilt als dem institutionalisierten Beratungsgespräch am ähnlichsten, beinhaltet aber zugleich ein hohes Maß an kommunikativer Selbstbestimmung (z. B. sich zurückhalten, Pausen machen, Emoticons als Befindlichkeiten) (Ploil 2013).

Mobile Beratung findet über portable, drahtlos vernetzte (z. B. Mobilfunknetz) Informations- und Kommunikationsgeräte (z. B. Mobiltelefon) in mobilen Diensten und Anwendungen (z. B. Kurzmitteilungsdienste) statt. Häufig verschmelzen Online- und Mobilkommunikation, indem viele Online-Dienste auch mobil genutzt werden (z. B. E‑Mail, Chat, Websites) (Döring und Eichenberg 2013b). Dabei werden alle Formalisierungsgrade von Beratung abgedeckt. So findet sich z. B. in (halb)öffentlichen Online-Foren informelle, alltägliche (Selbst‑)Hilfe durch Peers und Gleichbetroffene (z. B. Barak und Dolev-Cohen 2006), in moderierten Chats halbformalisierte Hilfe durch Semiprofessionelle oder geschulte Laienhelfer*innen, aber auch professionelle Hilfe z. B. durch Erziehungs- oder Suchtberater*innen, angesiedelt in Online-Beratungsstellen. Unterscheiden lassen sich E‑ und M‑Beratung zudem nach verschiedenen Settings bzw. Orten, die in ihrer Zeitgleichheit bzw. -ungleichheit (synchron vs. asynchron) und Präsenz differieren. Beratung im Internet ist dabei in allen Formaten grundsätzlich dialogisch angelegt und grenzt sich damit auch von internetbasierten Therapieangeboten ab (Engelhardt 2019, 2018).

Die Nutzungstrends der jeweiligen Kommunikationsformen zeigen international durchaus unterschiedliche Präferenzen, wobei es aufgrund der diversen Forschungslage schwierig ist, hier Aussagen von Bestand zu treffen. Insgesamt zeigt sich vor allem durch die zunehmende Verwendung mobiler Endgeräte und die breite Nutzung von Messenger-Diensten (siehe z. B. JIM-Studie 2018) auch ein Wandel in den angebotenen Beratungsformaten als ein laufender Prozess, der sich je nach Beratungsfeld aber vor allem hinsichtlich der Nutzer*innenzusammensetzung unterschiedlich darstellt. Im deutschsprachigen Raum wird die E‑Mail-Beratung noch immer als eine häufig genutzte Form der Beratung im Internet hervorgehoben, wobei Foren, offene Sprechstunden und vor allem Chats deutlich an Nutzer*innenkontakten zugelegt haben (z. B. bke 2018, 2017). Es ist ebenso genauer zu differenzieren, wie sich die Nutzung von E‑Mail-Beratung zu anderen Formaten wie Foren, offenen Sprechstunden oder Einzel- und Gruppenchats verhält. Eine gute Einsicht bietet hierfür die Datenlage der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke), die ein breites Angebot internetbasierter Beratung für Jugendliche und Eltern zur Verfügung stellt. Hier nutzten im Jahr 2016 48 % aller Besucher*innen die webbasierte E‑Mail-Beratung als Format für ihre Anliegen. Gerade bei Jugendlichen ist die E‑Mail-Beratung jedoch leicht rückläufig: 2017 wird von 1008 Erstkontakten von Jugendlichen über E‑Mail-Beratung gesprochen und 2018 von 998 (bke 2018, S. 5), wobei der Bericht zugleich feststellt, dass Beratungsprozesse länger und intensiver werden. Werden offene Sprechstunden, Einzel- und Gruppen-Chats zusammengezählt, haben diese die E‑Mail-Beratung im Gesamtangebot der bke mittlerweile überholt (bke 2018). Noch im Bericht von 2017 wird die E‑Mail-Beratung als die bevorzugte Form für Beratungseinstiege im Sinne von Erstorientierung von Jugendlichen gesehen, der dann die Nutzung von Foren und Chats folgen (bke 2017, S. 22 f.).

1.3 Niedrigschwelligkeit, Schriftlichkeit und Anonymität als besondere Merkmale der Online-Beratung

Für Beratung im Internet werden v. a. Niedrigschwelligkeit, Schriftlichkeit und der Einsatz nonverbaler Elemente („Oraliteralität“), Anonymität und das Nähe-Distanz-Paradoxon sowie der Grad des Involviertseins thematisiert. Beratung im Internet gilt als orts- und bzgl. der E‑Mail-Beratung und Foren auch zeitungebundenes Angebot und damit als flexibel und institutionell niedrigschwellig (was sie auch für Kinder und Jugendliche relevant macht). Damit verbunden ist die Hoffnung, Nicht-Deutschsprechende, Menschen mit körperlichen Einschränkungen sowie Ratsuchende aus ländlichen Gebieten, denen ggf. ein adäquates Beratungsangebot in der näheren Umgebung fehlt, leichter Zugang zu Beratung zu verschaffen (Gehrmann 2014; Ploil 2013). Kinder und Jugendliche sowie Ratsuchende, die nicht über Internet-Computer verfügen, können zudem über mobile Beratungsangebote Kontakt zu professionellen Unterstützer*innen aufnehmen (Döring und Eichenberg 2013b). Dabei werden kompetente Mediennutzung, technisches Know-how, Geräteverfügbarkeit und Verbindungskosten ebenso zu notwendigen Voraussetzungen wie eine Orts- und Zeitflexibilität der Berater*innen selbst – mit entsprechenden Kosten der Entgrenzung formaler Beratungssettings (Döring und Eichenberg 2013b).

Neben dem institutionellen Zugang wird davon ausgegangen, dass Beratung im Internet eher und schneller die Möglichkeit bietet, in problembelasteten und krisenhaften Situationen professionelle Informationen, emotionale Unterstützung und unterschiedliche Lösungs- und Bewältigungsmöglichkeiten zu erhalten. Es scheint leichter, insbesondere über stark belastende Ereignisse oder schambesetzte, vielschichtige Themen (z. B. sexuelle Orientierung, Aidsberatung) zu schreiben als mit einer körperlich anwesenden Person zu sprechen (Döring und Eichenberg 2013b). Dabei hat Schriftlichkeit bei textgebundener Beratung eine eigene Wirkdimension, indem über das Ausformulieren eines Problems die reflexive Auseinandersetzung gefördert und damit die positive Wirkung der E‑Beratung gestützt werden kann (u. a. Reindl et al. 2012; Zehetner 2010). Neben der mediatisierten Schriftlichkeit (Literalität) können auch Merkmale konzeptioneller, d. h. verschriftlichter Mündlichkeit (Oralität) Eingang in die Kommunikation finden, die ihrerseits Vertrautheit, Nähe und emotionale Beteiligung kommunizieren sollen und das Potenzial bergen, körperliche Abwesenheit in Teilen zu kompensieren (Kühne und Hintenberger 2013).

Der Beratung im Internet wird zudem das Merkmal Anonymität und ein damit verbundener enthemmender Effekt zugeschrieben, der Offenheit und Ehrlichkeit der Ratsuchenden verstärkt. „Die Freiheit, seine Persönlichkeit zu maskieren, ermöglicht eine offenere und schnellere Problemkommunikation, als dies in vielen Fällen aus der Face-to-Face-Beratung bekannt ist“ (Kühne und Hintenberger 2013, S. 1574). In der Anonymität werden schnell(er) persönliche, intime, auch gesellschaftlich tabuisierte oder schambesetzte Dinge erzählt. Vor allem aufgrund der räumlichen Distanz kann über Projektionen und eine Idealisierung der Gesprächspartner*innen ggf. schneller emotionale Nähe entstehen. Rat- und Hilfesuchende scheinen zudem im Rahmen der Beratung im Internet stärker involviert, indem sie das Setting – Dauer, Häufigkeit, Abbruch – in größerem Ausmaß mitbestimmen können. Zugleich sehen sie sich aber auch – abhängig von der Transparenz der Berater*innen – unter Umständen einer zeitlichen Ungewissheit ausgesetzt. Bezüglich der Nutzung internetbasierter Beratung von Jugendlichen gilt es gleichwohl zu überprüfen, ob und wem gegenüber das Gebot der Niedrigschwelligkeit konkret bestätigt wird (s. unten).

2 Online-Beratung für Kinder und Jugendliche

2.1 Gründe für die Etablierung von Online-Beratungsangeboten für Kinder und Jugendliche

Die Inanspruchnahme von Online-Beratungsangeboten über den informellen Weg des Internets hat sich bei Jugendlichen als Mittel der Wahl etabliert: „Real-time text exchange has become a widely accepted medium für counseling, especially for adolescents“ (Chardon et al. 2011, S. 538). Online-Angebote können gerade bei Jugendlichen die sonst beim Zugang zu traditionellen Beratungsformaten erlebten Barrieren überbrücken (Niedrigschwelligkeit). So erfahren junge Menschen z. B. strukturelle Barrieren, wenn sie nicht mobil genug sind, um vorhandene Beratungsangebote zu erreichen, es ihre Lebensumstände nicht zulassen oder gar eine lokale Beratung für Jugendliche (z. B. im ländlichen Raum) fehlt. Mathew Bambling und Kolleg*innen (2008) weisen hierzu in ihrem Forschungsartikel darauf hin, dass die Orts- und teilweise auch Zeitungebundenheit der Online-Formate wichtige Potenziale im Online-Counseling bieten.

In einem kurzen Studienüberblick zeigen Megan Price und John Dalgleish (2013) zudem persönliche Barrieren „that exist for young people in general“ (Price und Dalgleish 2013, S. 11) und die junge Menschen davon abhalten, professionelle Hilfeangebote anzunehmen, wie etwa: mangelnde Erfahrungen mit professioneller Hilfe(suche), die Unbekanntheit vorhandener Beratungsangebote, Sorgen bzgl. der Vertraulichkeit und Vertrauenswürdigkeit der Angebote, Überforderung durch unbekannte Themen und Schamgefühle sowie die Angst, missverstanden zu werden. Online-Beratung kann hierbei ein wichtiger Zugang zu professioneller Hilfe sein (King et al. 2006a). Dabei treten Kinder und Jugendliche Studien zufolge mit einer Vielzahl an Themen an Online-Beratung heran: u. a. mit innerfamiliären Problemen (wie die Trennung der Eltern), emotionalen Problemen (wie Angst, Wut und Stress), aufgrund psychischer Gesundheit/Krankheit (wie Depressionen, Selbstwertprobleme, Essstörungen, Selbstverletzungen oder Alkoholproblemen), mit Problemen in Beziehungen, Schulproblemen sowie aufgrund eigenen Erlebens oder Zeug*innenschaft sexualisierter Gewalt (Dowling und Rickwood 2014a; Chardon et al. 2011; Sefi und Hanley 2012; Fukkink und Hermanns 2009). Nutzer*innen der Online-Angebote suchen dabei verstärkt den Schutz der Anonymität sowie Möglichkeiten zur Kontaktsteuerung, um derartige intime Probleme zu veröffentlichen (Zehetner 2010).

Für die Inanspruchnahme einer internetgebundenen Beratung müssen ratsuchende Kinder und Jugendliche allerdings über eine gewisse Lese- und Schreibkompetenz verfügen, mit den Internettechnologien vertraut sein und die Fähigkeit besitzen, an einer Online-Beratungssitzung teilzunehmen (Kit et al. 2017). Laut Bettina Zehetner (2010) ist dabei für Ratsuchende, die vorrangig Beratung im Internet in Anspruch nehmen, die tägliche Verwendung des Mediums Internet häufig eine Selbstverständlichkeit. Daran anknüpfend zeigen die aktuellen Daten der jährlichen JIM-Studie (Feierabend et al. 2018) für die 1200 befragten 12- bis 19-Jährigen in Deutschland eine Vollversorgung in Sachen Medienausstattung. 97 % der Jugendlichen besitzen ein Smartphone und 71 % einen Laptop oder PC. 91 % der Jugendlichen bewegen sich täglich im Internet, zusätzliche 6 % mehrmals in der Woche – ganz ähnlich sehen die Zahlen zur Smartphone-Nutzung aus (94 zu 3 %). 10 % der befragten Jugendlichen suchen im Internet – neben Kommunikation, Spielen und Unterhaltung – auch Informationen, ggf. bezogen auf persönliche Probleme.

Kann bei Jugendlichen demnach von einer technischen und strukturellen Barrierefreiheit zu Online-Beratungsangeboten ausgegangen werden, so zeigt sich auch für Kinder eine zunehmende Internetnutzung. Immer seltener scheint das beharrlich vertretene bewahrpädagogische Idealkonzept einer medienfreien Kindheit in der Realität auffindbar (Fleischer 2014). Laut der 2016 veröffentlichten KIM-Studie (Feierabend et al. 2016), in der 1229 Kinder zwischen 6 und 13 Jahren persönlich befragt wurden, nutzen 42 % täglich ihr Handy oder Smartphone und gut ein Viertel täglich das Internet – vor allem für WhatsApp als Kontaktmöglichkeit zu Freund*innen, für Suchmaschinen und Facebook. Auch Kinder haben demnach prinzipiell einen Zugang zu digitalen Beratungsangeboten, wobei dies vermutlich nicht einmal für die Hälfte zutrifft.

2.2 Institutionalisierung der Online-Beratung in der Kinder- und Jugendhilfe

Für die Institutionalisierung der Angebote ist es nicht unerheblich, ab welchem Alter Kinder eigenständig, ohne Einwilligung der Personensorgeberechtigen, formalisierte Beratung nutzen können. Diese Möglichkeit ist in der Regel – unter Voraussetzung der Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit der Ratsuchenden – ab einem Alter von 14 Jahren möglich. Als Ausnahme formuliert das Bundeskinderschutzgesetz in § 8 Abs. 3 SGB VIII das Recht auf Beratung ohne Kenntnis der Personensorgeberechtigten auch vor dieser Altersgrenze, wenn dies aufgrund einer Not- oder Konfliktlage erforderlich ist und der Beratungszweck ansonsten vereitelt würde (Pluto et al. 2016, S. 85). Entsprechende formalisierte Angebote finden sich z. B. in Kinderschutzzentren, die für Kinder ab zehn Jahren offen sind. Anders sieht das in halbformalisierten Beratungssettings, wie bspw. der Offenen Kinder- und Jugendarbeit oder Settings des Betreuten Wohnens aus. Hier nehmen Kinder und Jugendliche alltäglich – zwischen Tür und Angel – Beratung in Anspruch, ohne dass dies (immer) formal an rechtliche Vorgaben rückgebunden wird. Welches Alter Kinder schließlich in formalisierten Online-Beratungssettings angeben, bleibt ebenfalls ihnen überlassen und ermöglicht hier ggf. einerseits den Zugang für Kinder und Jugendliche, die in f2f-Beratungssettings formale Beschränkungen erfahren. Andererseits finden Kinder und Jugendliche auch in informellen und halbformalisierten Online-Beratungssettings wie in Peer-to-peer-Beratungskontexten, z. B. der U25-Online-Beratungsstellen der Caritas Zugänge zu Hilfe, die Altersbarrieren minimierenFootnote 5.

Internetbasierte Beratung für Kinder und Jugendliche hat sich in Deutschland seit 2002 erkennbar entwickelt, ausgehend von unterschiedlichen Beratungsinstitutionen wie der Telefonseelsorge, Erziehungs- und Familienberatung (bke), Wohlfahrtsverbänden (z. B. U25-Beratung Caritas), aber auch einzelnen Trägern wie dem Mädchenhaus Bremen e. V. Damit greifen die unterschiedlichen Einrichtungen den steigenden Beratungsbedarf wie auch die sich entwickelnden digitalen Kommunikations- und Interaktionswege von Kindern und Jugendlichen auf, um so lebensweltorientierte Zugänge (Heider 2010) zu schaffen und Jugendliche zu erreichen. Eine Reflexionsfolie bildet hierzu u. a. die Frage nach der Veränderung gesellschaftlicher Kommunikation in Zeiten der Digitalisierung, die mit einer Re-Konstruktion von Modellen und Ansätzen zur Online-Kommunikation einhergeht. So hat sich insbesondere das Feld der Krisenberatung für Kinder und Jugendliche deutlich ausgeweitet (z. B. U25 Caritas oder Jugendnotmail.Berlin).

Die Bundeskonferenz für Erziehungsarbeit (bke) bietet seit 2004 themenoffene Erziehungs‑, Familien- und Jugendberatung für Jugendliche von 14 bis 21 Jahren sowie für Eltern minderjähriger Kinder in Form von Chats, E‑Mails und Foren an (www.bke-beratung.de). Sie gilt als das größte professionelle Online-Beratungsangebot in der Jugend- und Familienhilfe (bke 2015, S. 18). Die bereits erwähnte U25-Beratung der Caritas, die sich ausschließlich an suizidgefährdete Jugendliche richtet, erweiterte seit ihrer Gründung in Freiburg im Jahr 2002 beständig ihr Angebot. Trotz einer „Internet-Vollversorgung“ für Jugendliche lassen sich auch Ungleichheiten im Internet unter dem Stichwort Digital Divide festmachen (u. a. Kutscher 2015Footnote 6). Die kommunikationswissenschaftliche Online-Forschung als besonderes Feld der Ungleichheitsforschung fokussiert hierzu die Heterogenität der Nutzer*innen wie auch die Frage der Überwindung vs. Verstärkung von sozialen Ungleichheiten im Netz und zielt auf eine medienpädagogische Ausrichtung in der Sozialen Arbeit (und Beratung) mit einem Blick für ungleiche Zugangsvoraussetzungen und Nutzungskompetenzen.

3 Themenfelder in Online-Beratungsangeboten für Kinder und Jugendliche aus einem Forschungsüberblick

Nachfolgend wird erstmals anhand einer breiten Auswahl existierender Studien ein umfassender Forschungsüberblick zum Thema Online-Beratung für Kinder und Jugendliche gegeben. Hierzu werden folgende wiederkehrende Themenfelder extrahiert und vorgestellt: Vertraulichkeit und emotionale Sicherheit im Beratungssetting, die Beratungsallianz zwischen ratsuchender und beratender Person, die Autonomie der Klient*innen und der Zugewinn an Kontrolle auf ihrer Seite und Online-Beratung zwischen Niedrigschwelligkeit und Exklusion. Dafür wird auf Studien rekurriert, die in den Sprachen deutsch und englisch publiziert wurden.Footnote 7 Dabei ist den Autorinnen des vorliegenden Artikels bewusst, dass die anschließend vorgestellten internationalen Studienergebnisse nicht ohne weiteres (d. h. ohne eine in den einzelnen Themen vertiefende Reflexion und Kontextualisierung) auf den bundesdeutschen Raum und hier institutionalisierte Beratungsangebote übertragbar sindFootnote 8. Jedoch können die in dafür möglichst umfangreicher Breite vorgestellten Themen ggf. Anlass zu neuen (Forschungs‑)Fragen und Vertiefungen sowie Hinweise auf vorhandene Desiderata – auch in Fragen der Übertragbarkeit – geben.

3.1 Studien zu Online-Beratungsangeboten für Kinder und Jugendliche

Bevor die o. g. Themenfelder verhandelt werden, folgt zunächst eine knappe, für die Nachvollziehbarkeit der Darstellungen unseres Erachtens notwendige Übersicht über die zitierten Studien – entlang der ausgewählten Kategorien Befragungspersonen, Erhebungsmethoden und Themen der Forschungsarbeiten. Die in den folgenden Abschnitten zitierten, vor allem englischsprachigen StudienFootnote 9 zum Thema Online-Beratung für Kinder und Jugendliche untersuchen sowohl Perspektiven

  • der Beratungsadressat*innen (Lundmark und Evaldsson 2017; Feikert 2015; Dowling und Rickwood 2014b; Price und Dalgleish 2013; Hanley 2012; Sefi und Hanley 2012; Chardon et al. 2011; Kutscher und Zimmermann 2011; Fukkink und Hermanns 2009; Klein 2007; King et al. 2006a, 2006b) als auch

  • der Berater*innen (Kit et al. 2017; Dowling und Rickwood 2014a; Bambling et al. 2008).

Sie sind größtenteils qualitativ angelegt, z. B. über

  • halbstrukturierte (Online‑)Fokusgruppen (Lundmark und Evaldsson 2017; Dowling und Rickwood 2014a; Bambling et al. 2008; King et al. 2006a),

  • leitfadengestützte E‑Mail- bzw. Online-Interviews (Feikert 2015; Hanley 2012),

  • Gruppendiskussionen (Price und Dalgleish 2013) und

  • mündliche Befragungen von Online-Berater*innen (Kit et al. 2017).

Ebenso existieren quantitative Studien, die mit

  • standardisierten Fragen bzw. Fragebögen und standardisierten Messinstrumenten – eingesetzt vor und nach der Beratung – arbeiten (Sefi und Hanley 2012; Fukkink und Hermanns 2009; King et al. 2006b)

  • oder anhand von Beratungstranskripten Beratungsprozesse analysieren (Dowling und Rickwood 2014b; Chardon et al. 2011).

Thematisch behandeln die vorliegenden Forschungsarbeiten u. a.

  • Zugangswege der jugendlichen Nutzer*innen zu Online-Beratungsangeboten (Lundmark und Evaldsson 2017; Feikert 2015; Price und Dalgleish 2013; Kutscher und Zimmermann 2011; Klein 2007; King et al. 2006a),

  • Erfahrungen der Ratsuchenden mit und den Nutzen von Internetberatungsangeboten (Feikert 2015; Dowling und Rickwood 2014a; Sefi und Hanley 2012; King et al. 2006a) und

  • die Wahrnehmung der Beratungsbeziehung in den Onlinesettings durch jugendliche Nutzer*innen (Hanley 2012).

Sie sind interessiert

  • an den notwendigen Berater*innenfähigkeiten und professionellen Helfer*innenkompetenzen für Jugend-Online-Beratungsangebote (Bambling et al. 2008) sowie

  • an Potenzialen und Herausforderungen der Kommunikation in der Online-Umgebung und angewandten Beratungsstrategien und -techniken (Dowling und Rickwood 2014a; Bambling et al. 2008).

Behandelt werden in den Studien auch

  • die Ausgestaltung der Beratungsallianz (King et al. 2006b) – vergleichend zwischen Telefonsettings und Onlinesettings – und ihr jeweiliger Einfluss auf das Beratungsergebnis (u. a. Fukkink und Hermanns 2009) sowie

  • die Gestaltung von Beratungsprozessen im Onlinesetting (Dowling und Rickwood 2014b; Chardon et al. 2011).

Zusammenfassend werden demnach mehrheitlich Beratungsklient*innen dazu befragt, warum sie Onlineberatungsangebote aufsuchen, was ihre Erfahrungen damit sind, welchen Nutzen sie sehen und wie sie im Onlinesetting die Beziehung zur Berater*in sowie den Beratungsprozess wahrnehmen bzw. was hierzu über Transkripte dokumentierte Beratungssitzungen ergeben. Die Berater*innen werden dagegen in Fokusgruppen bzw. mündlichen Befragungen zu ihren für Onlineberatung und darin liegenden Herausforderungen als notwendig erachteten Fähigkeiten und Kompetenzen sowie ihren Einschätzungen zu den Erfahrungen der Ratsuchenden mit und den Nutzen von Internetberatungsangeboten interviewt.

3.2 Vertraulichkeit und emotionale Sicherheit im Onlinesetting

Neben den oben bereits diskutierten Zugangsgründen und -wegen für und in Onlinesettings, scheinen für die von R. King und Kolleg*innen (2006a)Footnote 10 befragten 39 Beratungsadressat*innen mehrheitlich die Abwesenheit eines persönlichen Kontakts und die dadurch in den Onlinesettings als geringer erlebte Konfrontation zentrale Voraussetzungen für ihre Inanspruchnahme zu sein und den Zugang zum Angebot zu erleichtern. „This study revealed that factors such as privacy and lack of emotional exposure attracted adolescents to online environment“ (King et al. 2006a, S. 173). Dass die jugendlichen Nutzer*innen in ihrer persönlichen Sphäre und Lebenswelt verbleiben können und sich emotional sicher und beschützt fühlen, sind für sie wichtige Kriterien der Nutzung (auch in den zwei Fallstudien in Lundmark und Evaldsson 2017). Ähnliches vermuten P. L. Kit und Kolleg*innen (2017) für ihre Untersuchung eines Online-Beratungsangebots für Kinder. Die Anonymität des Onlinesettings, die Abwesenheit eines ggf. als einschüchternd erlebten Gegenübers und die Unsichtbarkeit der Beratungsperson erklären sie als grundlegend für ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens.

Lars Feikert (2015) arbeitet in seiner qualitativen Nutzer*innen-Analyse von bke- und U25-Online-Beratung anhand 35 leitfadengestützter Online-Interviews hierzu ergänzend folgendes heraus: Merkmale wie Pseudonymität und Autonomie sowie die Möglichkeit der Rekonstruktion und Reflexion des Textes zeigen, wie sehr Jugendlichen und Heranwachsenden daran gelegen ist, eine Beziehungsform zu finden, in die sie vertrauen können, ohne dabei ihre Distanz und Autonomie einbüßen zu müssen. Online-Beratung bietet eine Möglichkeit der Begleitung für Fragen von Jugendlichen, die sie in ihrer sonstigen Lebensrealität nicht in dieser für sie entsprechenden Qualität gefunden haben. Interessanterweise nutzen einige der Interviewten mehrere Online-Beratungsangebote parallel und teilweise mit unterschiedlichen Themen. Sowohl bei Lars Feikert (2015) als auch bei Ruth König (2012) wird zudem aufgezeigt, dass Online-Beratung als Einstieg fungieren und sich im Anschluss eine f2f-Beratung entwickeln kann.

Auch die Mehrheit der 26 in Fokusgruppen befragten Berater*innen der australischen Kids Helpline sehen in der Online-Umgebung ein Mehr an emotionaler Sicherheit angelegt, „due to reduced client emotional proximity to the counsellor“ (Bambling et al. 2008, S. 115). Die Online-Umgebung scheint den Berater*innen zufolge die Ängste der Jugendlichen gegenüber einer Inanspruchnahme abzubauen und erleichtert ihnen gegenüber Offenheit und Problemdiskussion (Bambling et al. 2008, S. 115). Daran anschließend werden in der quantitativen Studie der beiden Niederländer R. Fukkink und J. Hermanns (2009)Footnote 11 emotionale Probleme eher in den Online-Chats als in der Telefonberatung veröffentlicht und die Probleme von Chat-Nutzer*innen im Vergleich zu Telefon-Nutzer*innen als schwerwiegender und belastender eingeschätzt.

Die von M. Bambling und Kolleg*innen (2008) befragten Berater*innen fühlen sich in den Onlinesettings zudem im Vergleich zur Telefonberatung weniger emotional betroffen und bewerten dies für beide Seiten als vorteilhaft. So ermögliche die Distanz Ratsuchenden eher, über komplexe, emotional herausfordernde Themen zu sprechen, und den Beratenden, über Antworten ausreichend nachzudenken. Andererseits kann die durch die Anonymität ermöglichte Offenheit jedoch auch, so ein Teil der 19 in Fokusgruppen von Mitchell J. Dowling und Debra Rickwood (2014a) befragten Berater*innen, zu einem aggressiveren Verhalten der Adressat*innen gegenüber den Berater*innen führen. Welche Nachteile weiterhin in der ‚Anonymität‘ oder ‚Pseudonymität‘ liegen, scheint derzeit kaum beforscht oder in den zitierten Studien nicht veröffentlicht. Es ist zu fragen, inwieweit Online-Beratung nicht nur niedrigschwelliger ist, sondern ob sie ihrerseits auch die Schwelle zu Direktkontakten erhöhen und Kinder und Jugendliche in Vermeidungs- und Abwehrstrategien verharren lässt, anstatt sie herauszufordern aktiv in die Welt zu treten und mit Unvertrautem in Kontakt zu kommen.

3.3 Beratungsallianz in der Online-Beratung – Kann Beziehung online wirken?

Bei der Frage nach der Art der in einer Onlineberatung möglichen Beratungsbeziehung wird in den veröffentlichten Studien zugleich auch häufig die Frage nach der Beratungswirkung selbst gestellt und vergleichend erforscht. So stellen bspw. R. King und Kolleg*innen (2006b) in ihrer quantitativen Fragebogenstudie an 186 Beratungsnutzer*innen für Telefon- und Online-Beratungssettings einen positiven Einfluss von Beratung auf den gesundheitlichen Zustand der Jugendlichen fest. Anhand der Selbstaussagen der befragten Jugendlichen können sie ein Absinken des Stresslevels durch die Beratung zeigen. Innerhalb der Telefonberatung finden die Autor*innen allerdings sowohl bezüglich des Stresslevels als auch der im selben Kontext erforschten beraterischen Allianz positivere Ergebnisse als im Online-Setting. Die Beratungsbeziehung scheint dabei unabhängig von den der Beratungssitzung nachgelagerten Bewertungen der gesundheitlichen Situation zu sein, so dass weniger die bessere Beziehung als vielmehr die zur Verfügung stehende Zeit und die schnelleren Austauschmöglichkeiten (direkte Sprache vs. Textnachrichten) als Begründungsmodi für die bessere Wirkung der Telefonberatung herangezogen werden.

R. Fukkink und J. Hermanns (2009) stellen im Vergleich zu R. King und Kolleg*innen (2006b) in ihrer ebenfalls quantitativen Studie Gegenteiliges zur Wirkung von Chat- und Telefonberatung fest. In ihrer Vergleichsuntersuchung schätzen die befragten Nutzer*innen ihr Wohlbefinden und die Belastung durch das Problem nach der Chat-Beratung signifikant besser ein als die Vergleichsgruppe der Telefonberatung – unabhängig von Alter, Geschlecht und Anliegen der Kinder und Jugendlichen: „Children who, prior to the conversation, had been less happy and were affected more seriously by their problems felt better using the online chat service than those who had called“ (Fukkink und Hermanns 2009, S. 763). Die Forschungsergebnisse hierzu sind demnach uneindeutig. Inwieweit heute, zehn bzw. 13 Jahre nach den zitierten Studien und mit Blick auf die Zunahme asynchroner Text- und Sprachnachrichten obige Ergebnisse anders ausfallen würden, steht zu überprüfen. Gleichzeitig wären Sprachnachrichten als neuere, auch in professioneller Hilfe mögliche Kommunikationsform zu erforschen.

Interessanterweise können R. King und Kolleg*innen (2006a) anhand der 39 in Fokusgruppen befragten Beratungsadressat*innen zeigen, dass im Vergleich zu den Telefonberatungsangeboten der Kids Helpline, in denen die befragten Jugendlichen die Berater*innen oftmals als gelangweilt oder abwesend wahrnehmen, Online-Berater*innen in der textbasierten Kommunikation stets als offen und zuhörend beschrieben werden. So sind sich auch die von M. J. Dowling und D. Rickwood (2014a) befragten 19 Berater*innen mehrheitlich ihrer Rolle als emotionale Unterstützer*innen bewusst und betonen, wie wichtig es ist, die Gefühle der Ratsuchenden zu validieren. Kinder und Jugendliche gehen zudem bezogen auf Onlinesettings davon aus, dass sie in professionellen Beratungssettings weniger (normativen und normierenden) Bewertungen ausgesetzt sind, als z. B. in informellen Hilfesettings und erleben dies als zugangserleichternd (Price und Dalgleish 2013).

Auf der anderen Seite erschwere das Onlinesetting aus Sicht der Jugendlichen jedoch die Wahrnehmung feiner Stimmungslagen und verursache dadurch Missverständnisse (King et al. 2006a). Dies berichten auch die von M. Bambling und Kolleg*innen (2008) befragten Berater*innen. Den professionellen Helfer*innen fehle die Ebene der nonverbalen Kommunikation als zusätzlicher Informationsraum, wodurch ggf. Probleme unterschätzt würden und sich die Gefahr von Missverständnissen erhöhe, die ihrerseits die Beziehung belasteten (u. a. auch Chardon et al. 2011). Manche Berater*innen berichten zudem von dem belastenden Gefühl, nicht zu wissen, wie sie mit den Risiken umgehen sollen: „The participants appeared to be quite concerned about how to manage client risk, both in terms of providing support to the clients and coping with the feelings of helplessness engendered by the online environment“ (Dowling und Rickwood 2014a, S. 191).

Terry Hanley (2012) von der University of Manchester, UK, der sich mit Qualitäten und Funktionsweisen von psychosozialer Online-Beratung aus Adressat*innensicht junger Menschen befasst, stellt hierzu fest, dass die Bewertung der Beratungsallianz durch die jugendlichen Adressat*innen stark von der Passung und „Stimmigkeit“ sowie den „benefits“ im Prozess der Kontaktaufnahme abhängt. So stellt sich in seiner Grounded Theory-gestützten Analyse der 15 Interviews ‚Client-Service Match‘ und damit die Übereinstimmung zwischen Adressat*in und dem Angebot im Prozessverlauf, als Kernkategorie heraus. Hierzu zählen: das anfängliche Engagement und der erste Zugang zum Angebot, das Herstellen von Rapport verbunden mit spezifischen, beidseitigen Kommunikationsfähigkeiten und der Aufbau von Kontrolle. „Within this model the overall quality of the alliance is influenced by how much there is a match between client and counsellor in these areas“ (Hanley 2012, S. 38). Beispielsweise können Nutzer*innen die Internetseite unattraktiv finden, die Klient*innen können dem Angebot gegenüber unerfüllte Erwartungen haben oder in der Kommunikation mit der Berater*in auf andere Kommunikationsformen treffen. „Where matching does not occur, or there are hurdles to overcome, potential ruptures in the alliance may happen“ (Hanley 2012, S. 38). Relevante Faktoren für eine tragfähige Beratungsbeziehung zwischen jugendlichen Nutzer*innen und Online-Berater*innen könnten demnach, der qualitativen Studie T. Hanleys (2012) folgend, neben einem möglichst unkomplizierten Zugang zum Angebot, die Fähigkeiten sein, einen Rapport herzustellen (indem z. B. Netiquette eingehalten wird oder Emoticons angemessene Verwendung finden) und adäquat mit Macht- und Kontrollgefällen umzugehen (s. unten). Hier stellt sich die Frage, ob Online-Beratung störungsanfälliger ist als f2f-Beratung oder die Störungen hier nur offensichtlicher werden.

Die Wichtigkeit der Beratungskommunikation über SITCOMs (Skills in Text-based Communication, wie z. B. Phrasen *lol*, das Nennen von Emotionen *angst*) betonen auch die singapurischen Wissenschaftler*innen P. L. Kit und Kolleg*innen (2017) in ihrer Befragung von sechs Online-Berater*innen für Kinder im Alter von neun bis zwölf Jahren. Hier könnte vor der Frage der Übertragbarkeit auf Beratungsangebote im deutschsprachigen Raum ein Blick auf Forschung zu textbasierter Kommunikation interessant sein. Entwicklungspsychologisch argumentiert, könnten für Kinder zur Stärkung von Mentalisierungsprozessen eben jene Ausdrucksmöglichkeiten über SITCOMs unterstützen und Capabilities vervielfältigen. Die Analyse von Beratungschats könnten hierzu weiterführende Erkenntnisse liefern. Im deutschsprachigen beratungswissenschaftlichen Feld sind jedoch sowohl die kommunikationsbezogene Beratungsforschung (ausgerichtet auf das Interaktionsgeschehen zwischen Berater*in und Adressat*in) als auch die kinderbezogene Beratungsforschung bislang wenig betrieben und gefördert worden (Schulze et al. 2015), so dass grundsätzlich auf einen großen Forschungsbedarf hinzuweisen ist. Eine beispielhafte Ausnahme stellen die Arbeiten von Ulrich Reitemeier, sowie Heidrun Schulze und Kolleg*innen dar (Reitemeier et al. 2015; Schulze et al. 2015), die sich in ihrer rekonstruktiven Forschung mit einem gesprächsanalytischen Zugang zu Beratung für Kinder (jenseits der Digitalisierungsdebatte) auseinandergesetzt haben. Das Forschungsprojekt „Beteiligung und Befähigung von Kindern im Beratungsprozess“ (kurz: BeKinBera) bietet aus einer kinderrechtsorientierten Perspektive Ansätze, die auch im Online-Beratungsbereich breiter genutzt und weiterentwickelt werden sollten.

L. Feikert (2015) ermittelt schließlich zum Thema Beratungsallianz, dass einige Jugendliche eher unspezifische Anliegen haben und in ihren Antworten vor allem die Suchbewegungen dieser Lebensphase sichtbar werden. Umso interessanter ist die Aussage, dass einige der Interviewpartner*innen sich trotz der Vorteile eines anonymen Zugangs durchaus einen persönlichen Kontakt wünschen und die „wirkliche“ Beziehung vermissen (Feikert 2015, S. 68). Gleichzeitig schätzen die Jugendlichen „besonders, dass die Beratenden während der Beratung keine Macht auf sie ausüben können und sie die Entscheidungshoheit für das weitere Vorgehen behalten“ (Feikert 2015, S. 69). Damit definieren sie sich entwicklungsgerecht als eigenverantwortliche Akteur*innen, die die Hauptverantwortung bei der Lösung ihrer Probleme tragen wollen (Feikert 2015, S. 69).

3.4 Autonomie und der Zugewinn an Kontrolle im Onlinesetting

Die von R. King und Kolleg*innen (2006a) in Fokusgruppen befragten 39 Jugendliche betonen bei der Frage, warum sie Onlineberatung in Anspruch genommen haben, größtenteils die Möglichkeit, über die Antwortform (wann, wie, was) entscheiden und darüber ein Gefühl der Kontrolle über die aufgesuchte Hilfe und deren Verlauf entwickeln zu können. So könne im Gegensatz zu einer f2f- oder Telefonberatung u. a. der eben geschriebene, noch nicht versandte Text wieder gelöscht werden. Ratsuchende können aber auch emotional werden und bspw. weinen, ohne dass es das Gegenüber erfährt (vgl. Fallbeispiel bei Hanley 2012). Sie können, so ein Teil der von M. J. Dowling und D. Rickwood (2014a) befragten 19 Berater*innen, Beratung unabhängiger aufsuchen, unterbrechen oder abbrechen, Informationen teilen oder aber zurückhalten. Die von Sofia Lundmark und Ann-Carita Evaldsson (2017) befragten Adressatinnen betonen hierbei vor allem die Möglichkeit, Beratung mit einem Klick abrupt beenden zu könnenFootnote 12. Die hierin liegende Autonomie deuten die schwedischen Autorinnen dabei (neben anderen Aspekten) als Formen eines Adressat*innen-Empowerments. Auch die Berater*innen der qualitativen Studie von M. Bambling und Kolleg*innen (2008) sehen in den Online-Beratungssettings eine eher egalitäre Machtverteilung. So scheinen die Berater*innen in Onlinesettings sprachsensibler und noch stärker animiert, eine verständliche Sprache zu verwenden, um Beratungsabbrüche zu vermeiden. M. J. Dowling und D. Rickwood (2014a) zitieren hierzu eine der befragten Berater*innen folgendermaßen: „just keeping the language pretty basic, I suppose, because you don’t really know what the person’s literacy level is“ (Dowling und Rickwood 2014a, S. 188). Die Berater*innen berichten in den halbstrukturierten Fokus-Gruppen, dass der Gebrauch einer komplexeren Sprache während der Onlinesitzung dazu führen kann, dass Klient*innen sich zurückziehen. Akronyme und Emoticons werden dagegen häufig, bspw. zur Spiegelung von Gefühlen, in Chatsitzungen eingesetzt. Elemente erlebter Kontrollmacht könnten dagegen zeitlich beschränkende Rahmenbedingungen sein: wie oft, wie lange und mit welchen zeitlichen Abständen wird beraten, wer antwortet mit welcher Geschwindigkeit und in welcher Häufigkeit. Diese Rahmenbedingungen können Niedrigschwelligkeit ebenso ermöglichen wie dem idealen Bild der Niedrigschwelligkeit entgegenstehen (Feikert 2015) und ihrerseits die Beratungsbeziehung beeinflussen (Hanley 2012).

3.5 Online-Beratung zwischen Niedrigschwelligkeit und Exklusion

Online-Beratung ermöglicht für viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die Möglichkeit, sich Hilfe zu holen, die sie auf anderen Wegen entweder nicht vor Ort verfügbar hätten oder aber deren Hürde für sie zu hoch ist. So stellt Alexandra Klein (2007) im Rahmen einer Befragung von knapp 400 jugendlichen Nutzer*innen des Beratungsangebots www.kids-hotline.de fest, dass ein gutes Drittel der Befragten „für die Sorgen und Probleme, mit denen sie sich an das professionelle Angebot wenden, keine Vertrauenspersonen außerhalb des Internets haben“ (Klein 2007, S. 350). Das Online-Angebot stellt demnach für einen beachtlichen Teil der Jugendlichen „problembezogen eine exklusive Unterstützungsressource dar“ (Klein 2015, S. 38). Dennoch verlangt die konzeptionell und ideell gepriesene Niedrigschwelligkeit von Online-Beratung eine kritische Analyse, um genauer zu bestimmen, wer damit erreicht wird und wer nicht, um damit auch danach zu fragen, wo und wie sich gesellschaftliche und soziale Machtverhältnisse und Ausschlussmuster in diese Beratungsformate einschreiben oder auch in Bewegung gebracht werden (können). So konstatiert der 15. Kinder- und Jugendbericht (2017) in einer generelleren Perspektive, dass es „eher formal höher gebildete Nutzerinnen und Nutzer sind, die diese Möglichkeit in Anspruch nehmen (können) – soziale Ungleichheiten also auch virtuell fortgeschrieben werden (vgl. auch Klein 2007; Kutscher und Zimmermann 2011)“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) 2017, S. 1). A. Klein (2015) spricht deshalb auch von Beratung als einem „exklusive[n] Gut“ (Klein 2015, S. 142), das nicht allen zur Verfügung steht.

Beim Blick auf die Nutzungsanalysen der Online-Beratungsangebote wird schnell deutlich, dass sich die soziodemographische Struktur der Nutzer*innen ähnelt. Aus den Jahresberichten geht hervor, dass die Angebote zu 80 bis 90 % von Mädchen* bzw. weiblichen Jugendlichen und Heranwachsenden in Anspruch genommen werden (bke 2018, 2017). Die meisten Nutzer*innen haben keine Migrationsbezüge und besuchen die Realschule oder das Gymnasium (bke 2018, 2017). Dies bestätigt z. B. auch die Auswertung zur Online-Beratung im Mädchenhaus Bremen. Das Durchschnittsalter der Nutzer*innen lag 2012 bei 15,6 Jahren. Für einen Teil der Nutzerinnen* gab es zuvor bereits Kontakte zu Beratung oder Therapie, gleichwohl sind die Mädchen* beim Eintritt in die Nutzung des Onlineangebotes psychosozial nicht gut versorgt (König 2012, S. 204). Für 40 % der Mädchen* ist die Online-Beratung zudem der erste Zugang zu professioneller Unterstützung. Insgesamt kommt R. König zu dem Schluss, dass das Online-Beratungsangebot als proaktiv genutzte Unterstützungsform durchaus eine präventive Funktion erfüllt und früher in Anspruch genommen wird als eigenständig aufgesuchte f2f-Beratungsangebote – ein Aussage, die es auch hinsichtlich der Frage von Ausschlüssen und Ermöglichungen von Online-Beratung weiter zu untersuchen gilt. Die allmähliche Annäherung im Rahmen des Online-Beratungsprozesses findet häufig über Nachfragen zu Symptomen oder „harmlose Fragen“ statt; dahinter stehen vielfach intensivere Bedürfnisse. Gewalt und Konflikte sowie große Verunsicherung rund um das Thema Pubertät, Identität und Sexualität sind zentrale Beratungsanliegen in der Online-Mädchenberatung (König 2012).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Breitbandangebot an Online-Beratung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf mehreren Achsen ausschließende Wirkung entfaltet: es werden kaum Jungen* bzw. männliche* Jugendliche und Heranwachsende* erreicht; Personen mit Migrationserfahrungen sowie Hauptschüler*innen sind deutlich unterrepräsentiert. In Anschluss an A. Klein (2015) wird gerade für die ausgeschlossenen Gruppierungen die „Relevanz professioneller Interventionen deutlich. Diese Jugendlichen messen der exklusiven und geschützten Kommunikation mit den Professionellen eine zentrale Bedeutung bei und können von der stärker informellen Unterstützung durch andere Nutzer/innen nur eingeschränkt profitieren“ (vgl. Klein 2007, S. 456). Zudem nehmen vorrangig ältere Jugendliche Beratung in Anspruch. P. L. Kit und Kolleg*innen (2017) zeigen hierzu auf, dass weltweit Studien v. a. zu Angeboten für Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren vorliegen und kaum Angebote für Kinder evaluiert werden. Es sei auch kaum bekannt, ob Angebote für Unter-zwölf-Jährige existieren bzw. inwieweit die Altersgruppe der Acht- bis Zwölfjährigen anderweitig Möglichkeiten der Hilfe jenseits der (elterlichen) Bezugspersonen für sich nutzt.

Ein weiterer Aspekt, der Zugänge zu Online-Beratung einengt oder erschwert, kann in der Kontrollmöglichkeit in Bezug auf die Seriosität der Angebote ausgemacht werden. Denn Jugendliche haben durchaus konkrete Vorstellungen über die Qualität, die sie erwarten (Feikert 2015; Hanley 2012). Dennoch scheint die Orientierung ausschließlich selbstorganisiert stattzufinden. So existieren laut den von L. Feikert (2015) befragten Jugendlichen zwar durchaus Räume, in denen ein Austausch über die eigenen Erfahrungen mit bestimmten Online-Beratungsdiensten organisiert wird, gleichwohl ist eine Transparenz der Angebote nicht gegeben. „Ein verbreitetes Problem für potentielle NutzerInnen ist zudem nach wie vor, die Seriosität von virtuellen Beratungsangeboten einzuschätzen. Da junge Menschen auch in Netzwerken intensiv recherchieren, hilft eine gut gestaltete Social Media Präsenz, das eigene Angebot optimal in der Community zu platzieren [...]. Die psychosoziale Beratungsszene hat dahingehend noch attestierten Nachholbedarf“ (Oswald 2018, S. 7; vgl. Thiery 2011).

4 Ausblick: Auf dem Weg vom Online- zum Blended Counseling? Potenziale für Kinder- und Jugendliche in der Kinder- und Jugendhilfe

Dieser Beitrag erfolgt aus der Perspektive der psychosozialen bzw. sozialpädagogischen Beratungsforschung, die sich mit aktuellen Entwicklungen der Medien und des Internets unter dem Begriff der Online-Beratung findet. Die angestrebte Analyse, die sich explizit auf Blended Counseling im Kontext der Beratung für Kinder und Jugendliche bezieht, lässt sich bis auf wenige Ausnahmen nur mittelbar durch Ergebnisinterpretation herstellen. Mit Hans-Joachim Gehrmann (2010) kann daher immer noch davon gesprochen werden, dass Forschung, Praxis und Theorieentwicklung weiterhin am Anfang stehen (Gehrmann 2010, S. 106). Deutlich wird, ergänzend zu den oben vorgestellten Studien, dass auch mit Blick auf die Mediennutzung (KIM- und JIM-Studien) ein adressat*innenbezogener und differenztheoretischer Ansatz von Forschung, Theorie und Praxisentwicklung nötig ist. Auch die qualitative Studie von Martina Hörmann und Dominik Schenker (2016) zu Blended Counseling in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit – bezogen auf Kinder als Adressat*innen wurde die Schulsozialarbeit als Handlungsfeld gewählt – zeigt die zielgruppen- wie arbeitsfeldabhängige Gestaltung von ergänzender, mediengestützter Kommunikation. Darüber hinaus ist es zudem von Relevanz, welche sozialen Ausschlüsse durch Online-Beratung hergestellt werden und wie Exklusionen reduziert werden können, beispielsweise auch durch ein breites Sprachangebot oder visuelle Vermittlung des Beratungsangebotes. Für Blended Counseling mit Kindern und Jugendlichen lassen sich aus den hier vorgestellten Studien einige, folgend zusammengefasste Schlüsse wagen, die für die weitere Praxis, Konzeptentwicklung und Forschung von Interesse sein können.

4.1 Der Schutz im virtuellen Raum und Übergänge in Offline-Settings

Eine andere Lesart der genannten Studien fordert zu einer kritischen Reflexion darüber auf, welche Faktoren dazu beitragen, dass Online-Beratung zumindest für einen Teil der Jugendlichen, ein nahezu alternativloses Format darstellt, sich außerhalb vertrauter Bezugspersonen Unterstützung zu suchen. Beispielhaft steht hier dieses Zitat eines Beraters: „Ich habe durch die Chats erst richtig begriffen wie schwer es für die Jugendlichen ist vor Ort in die Beratungsstellen zu uns zu kommen.“ (bke 2018, S. 15). Aus dieser Perspektive scheint es lohnenswert in Zusammenhang mit Online-Beratung darüber nachzudenken, wie die Übergänge zwischen unterschiedlichen Beratungsformaten gestaltet werden können, um die für Jugendlichen scheinbar hochschwellig erlebte f2f-Beratung auch leichter nutzen zu können und so tatsächlich Optionen für ein Blended Counseling zu eröffnen.

Viele der im Text angesprochenen Studien betonen die hohe Bedeutung der subjektiven Kontrolle der Jugendlichen über die Situation sowie die Möglichkeit sich zurückzuziehen und vom Gegenüber unabhängig zu sein. Gleichzeitig wird bei einigen Jugendlichen in dem Sample von L. Feikert (2015) ein Bemühen darum sichtbar, die Inanspruchnahme von psychosozialer Beratung im Internet nicht in die ‚reale‘ Alltagswelt hinein zu kommunizieren. Diese Phänomene der Abtrennung des virtuellen Beratungserlebens gegenüber anderen sozialen Bezügen – verstehbar als Bedürfnis nach Anonymität – und die starke Betonung autonomer Entscheidungsoptionen, die in mehreren Studien anklingen, mögen angesichts sonst vielfältig ausagierter virtueller Mitteilungsfreudigkeit auf den ersten Blick verwundern. Allerdings repräsentieren sie auf klassische Weise das soziale Versprechen der „Institution Beratung“ über welches sich die Jugendlichen ihr Recht auf geschützte Räume definieren. Die Verfügungs- und Zugangsmöglichkeit über und zu mehreren sozialen Welten macht auch das Verhältnis von Privat und Öffentlich virulent. Und dies betrifft uns im Umgang mit den (nicht mehr ganz so) neuen, sich stetig weiterentwickelnden Kommunikationsmöglichkeiten alle, weshalb wir gemeinsam die dafür nötigen Such- und Aushandlungsprozesse gestalten sollten. Die professionelle Herausforderung besteht darin, die Verbindung der Online- und Offline-Welten optional offen zu halten und gleichzeitig Schutzräume zu gewähren oder zu initiieren mit der Möglichkeit in physisch reale Kontexte der f2f-Beratung zu wechseln. Gleichzeitig sollten wir uns ernsthafter der Frage zuwenden, welche sozialen Kontexte und welche biographischen oder sozial kommunizierten Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen ihrerseits dazu beitragen, dass die Schwellen in die f2f-Beratungswelten so hoch sind. Möglicherweise gilt es, die weiter oben angesprochene Ebene einer kinderrechtsgerechten und auf Beteiligungsidentitäten ausgerichteten Kommunikation (Schulze et al. 2015) mehr in den Fokus fachlicher Ausbildung und professioneller Reflexion zu nehmen.

4.2 Aktuelle Entwicklungen im Online-Beratungsbereich

Als besonders niedrigschwellige Beratung gilt die Beratung per Kurznachrichtendienst. So ermöglicht das Handy im optimalen Fall den sofortigen Zugang zu Beratungsstellen und Kriseninterventionsdiensten, sofern diese eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung anbieten. Vor allem für Erstkontakte und anschließende Weitervermittlung, aber auch für Kurzkontakte (Klärung eng umrissener Fragen und Probleme) scheint die SMS-Beratung ein sinnvolles Angebot zu sein. Zudem besteht – durch die noch immer begrenzte Zeichenzahl – z. B. für Menschen mit Schreibbarrieren der Vorteil, sich einfach ausdrücken und kurzfassen zu können, ohne dass dies inkompetent oder unhöflich wirkt (Döring und Eichenberg 2013b; Price und Dalgleish 2013).

Anbieter wie beranet/zone 35, bke oder Caritas arbeiten zudem zunehmend an Beratungs-Apps auf Smartphones, die psychosoziale Hilfe leisten sollen (Gehrmann 2014). Es ist davon auszugehen, dass diese Angebote auch entscheidenden Einfluss auf das Verhalten der Ratsuchenden ausüben. So wird z. B. die Suche nach und die Benutzung von Beratung fluider und kann in Form von spontanen Chats beiläufig, auf dem Weg zur Schule, zur Arbeit oder aus einer Freizeitsituation heraus erfolgen. Gleichzeitige, synchrone Formate sowie aktuell gut funktionierende Übergänge von Online- zu f2f-Beratung und umgekehrt, müssen sich mit diesen Entwicklungen neu ausrichten. Die Spannung zwischen der Selbstbestimmung und Definitionsmacht bei der „Kanalwahl“ (Formatwahl) der Adressat*innen und der fachlichen Steuerung durch die Professionellen, wie sie auch von M. Hörmann (2018) aufgezeigt wurde, kann sich in diesem Prozess durchaus verstärken. Dies betrifft auch die Frage, wie in Beratungsprozessen ein Bewusstsein für den Schutz der eigenen Daten und der Privatsphäre und damit auch ein kritischer Umgang mit Mediennutzung erzeugt bzw. verhandelt wird.

Beratung wird künftig auch im Internet immer häufiger aufsuchend stattfinden und muss hierfür datenschutzrechtlich noch stärker investieren (Bollig 2015). Für aufsuchende Kinder- und Jugendarbeit und -beratung halten sich bereits jetzt Beratende aktiv in Online-Umgebungen möglicher Zielgruppen auf, machen dort ihr Angebot sichtbar und sind ansprechbar (Phelps et al. 2017; Döring und Eichenberg 2013a; Engelhardt und Storch 2013). Darüber hinaus kann die virtuelle Kontaktebene genutzt werden, um über weitere Beratungsmöglichkeiten Online wie Face-to-Face zu informieren und entsprechend Brückenfunktionen einzunehmen. Zugleich birgt diese Form der Arbeit jedoch auch die Gefahr der Kolonialisierung fremder Lebenswelten, weshalb die Entwicklung von Projekten in diesem Feld auch eine kritisch-reflexive Begleitung erfordert und in Professionalisierungsprozesse in diesem Feld rückzukoppeln ist.

Schließlich kann nicht-professionelle Beratung im Internet auch informelle Netzwerke und soziale Unterstützungspotenziale stärken. Am Beispiel von Online-Drogenforen als wichtigen Informations- und Kommunikationsangeboten des Social Web für Drogenkonsumierende zeigt Cornelia Morgenstern (2014) die Relevanz des anonymen (pseudonymen) Austauschs und der Unterstützung unter Gleichgesinnten bzgl. eines öffentlich stark stigmatisierten, kriminalisierten Themas. Foren als Ort der informellen Beratung bieten Möglichkeiten alternativer, vom öffentlichen Diskurs abweichender Alltagsdeutungen und Wege des individuellen Risikomanagements vor dem Hintergrund weltweit zugänglicher, aktueller, unter Expert*innen vermittelter Informationen. C. Morgenstern (2014) schlussfolgert: „Diese Aufgaben auf sozialpolitischer, ethischer und technischer Ebene bei der Mediatisierung der Sozialen Arbeit erfordern von den professionellen Akteuren einen informierten, offensiven und reflexiven Umgang mit Neuen Medien“ (Morgenstern 2014, S. 310).

4.3 Anforderungen für die Weiterentwicklung von „Blended Counseling“-Konzepten – Ausblick

Als wichtig zu beachten gilt unseres Erachtens die Not der Ratsuchenden selbst. Kinder und Jugendliche, die Online-Beratungsangebote annehmen, befinden sich häufig in belastenden Lebenslagen und Krisensituationen. Manche, bei R. Fukkink und J. Hermanns (2009) sogar jede vierte minderjährige ratsuchende Person, haben anhaltende, tiefliegende Problemlagen, die ihrerseits in offenen, teils ehrenamtlich geleisteten Beratungssettings nur unzureichend bearbeitet werden können. Hier bedarf es einer starken und gelungenen Kooperation mit vorhandenen Hilfe- und Beratungsangeboten der Kinder- und Jugendhilfe wie -psychiatrie und Formen und Wege gelungener Vermittlungen zu weiterführenden Hilfeangeboten, aber auch der Möglichkeit einen Beratungsprozess in einem passenden Format über einen längeren Zeitraum führen zu können. Denn – und das sollte nochmals betont werden – an den Bedarfen von Kindern und Jugendlichen ausgerichtete Beratungsangebote können auch als Face-to-Face einen sicheren Ort bieten und emotionale Erleichterung wie Problemlösungen ermöglichen (Street 2014). Dabei sehen Online-Berater*innen sich teilweise auch in einer Gatekeeper-Funktion (Dowling und Rickwood 2014a), verweisen auf vorhandene Angebote und ermuntern zur weiteren Hilfesuche. Wichtige Strukturbedingung eines jeden Angebots ist dabei eine gesicherte Finanzierung – und die scheint, so jedenfalls auch der 15. Kinder- und Jugendbericht (2017), immer noch nicht gesichert: „Da die größten Anbieter überregional und intrainstitutionell organisiert sind und quer zu den herkömmlichen regionalisierten Strukturen der Finanzierung von Beratung nach dem SGB VIII liegen, ist bis heute keine Finanzierungssicherheit gegeben“ (BMFSFJ 2017, S. 324).

Die Frage der finanziellen Absicherung auf längere Sicht gilt insbesondere für die aktuell über unterschiedliche Förderprogramme entwickelten Beratungs- oder Nachsorge-Apps. Denn mit der Entwicklung allein ist noch kein nachhaltig einsetzbares Instrument vorhanden. Dies verlangt auf Seiten der Professionellen entsprechendes Know-How, das durch Fortbildungen anzueignen und ggf. durch begleitende Reflexionen zu vertiefen ist, indem beispielsweise die Nutzungserfahrungen zur Weiterentwicklung der Software genutzt werden. Ebenso benötigt die Gewährleistung der Datensicherheit Pflege und Überarbeitungen, wenn Kinder und Jugendliche nachhaltig auf ein Angebot Zugriff haben sollen (siehe hierzu auch den Bericht der bke 2016).

Die Gefahr ist insgesamt sehr groß, dass sich das Online-Beratungsfeld im Zuge der Vervielfältigung der Nutzungsformate von anderen relevanten Diskursen und Reflexionsfeldern der Sozialen Arbeit und Beratung mit Kindern und Jugendlichen distanziert und dabei machtkritische und partizipatorische Konzeptionen und Professionalisierungsprozesse außen vor bleiben. Auch wenn die aktuellen Entwicklungen in Wissenschaft und Praxis dies nicht nahelegen, so muss doch gesehen werden, dass die technische Seite dieser Entwicklung weitgehend entkoppelt von Adressat*innen und überwiegend unter der Ägide von Männern vorangetrieben wird.