In der Süddeutschen Zeitschrift am 05.02.2012 hat unter der Überschrift „Sich in die Hände anderer begeben“ der heute 94-jährige Altbundespräsident Walter Scheel (FDP) (2012) seine eigene Veränderung aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive der Hochaltrigkeit reflektierend publiziert. Als Engführung problematisiert er dabei eine Politik, die sich zur Lösung von Problemen des Alters und der Pflege vor allem auf Markt, Konsum oder wohlfahrtsstaatliche Versorgung und Verteilung bezieht und fordert Anerkennung für das Alter. Seine Entwicklung als über 90-jähriger beschreibt der Bundespräsident als deutliche Zunahme von Verletzungsoffenheit und Angewiesensein auf die Sorge anderer. Er selbst spricht zwar vor allem von wohlwollenden und einfühlsamen Menschen, die der alte Mensch braucht, damit er sich in die Hände anderer begeben kann, jedoch ergibt sich logisch aus der von Walter Scheel beschriebenen Entwicklung(saufgabe) des „sich in die Hände anderer Begebens“ die schamtheoretisch wichtige Perspektive von Takt, Achtung und Respekt für Menschen, deren körperliche Angewiesenheit auf andere deutlich zu Tage tritt. Die vorgetragene Verletzlichkeit in der Lebensphase der Hochaltrigkeit verweist auf mehr als eine Verteilungspolitik, auf die Kultivierung von Haltungen, Fähigkeiten und Ethiken in der Zivilgesellschaft, die es alten und hilfebedürftigen Menschen ermöglichen, sich als Personen zu empfinden.

Der Altbundespräsident begründet seine Argumente mit dem kantianischen Grundsatz der Bewahrung von Menschheitswürde in der eigenen Person. Diese Frage stelle sich in Lebensphasen der Abhängigkeit und als Problem der unmittelbaren körperlichen und seelischen Sorge. Für die Soziale Arbeit als Disziplin ist das Wissen um die Entwicklungsaufgaben der Hochaltrigkeit und die schamdynamische Dimension dieser Lebensphase aus zwei Perspektiven wichtig. Zum einen für solche SozialarbeiterInnen, die direkt in ihrem Arbeitsfeld mit hochaltrigen Menschen und ihren Angehörigen zu tun haben. Dies ist vor allem im Bereich der stationären Altenhilfe und im Krankenhaus der Fall. Weiterhin ist das Wissen um Schamdimensionen im Zusammenhang mit Alter eine Schlüsselqualifikation zum Beispiel im ASD, da hier SozialarbeiterInnen immer wieder mit hochaltrigen Menschen und den in diesem Lebensabschnitt vorkommenden Krisen befasst sind. Sie sind dies zweitens aus der Perspektive amtlicher Sozialer Arbeit und entwickeln entsprechende Routinen. Die Berücksichtigung von Scham als verborgene Dimension, wenn man in einer späten Lebensphase zum Fall wird, hilft SozialarbeiterInnen mit hochaltrigen Patienten umzugehen. Dazu werden im Folgenden Grundlagen der Körpersoziologie und der Schampsychologie vorgestellt und auf das Alter bezogen.

1 Körperbild, Körperselbst und Scham

Dass das Empfinden als würdige Person von sozialer Ehrerbietung und Benehmen anderer abhängig ist, hat u. a. Erving Goffman (1984) erkannt und ist ebenfalls von Georg Simmel (1901/1986) in seiner Psychologie der Distinktion beschrieben worden. Um die Schamdynamik im Kontext von Alter und hohem Alter theoretisch zu erfassen, sind zunächst allgemeine scham- und körpersoziologische Ansätze hilfreich, sodann können Schamdynamiken vor dem Hintergrund des allgemeinen Alterungsprozesses und noch einmal der Hochaltrigkeit differenziert werden.

Die klassischen Schamtheorien lassen sich differenzieren in soziologische Theorien z. B. bei Georg Simmel (1901/1986) und Norbert Elias (1976), wo Scham als Gefühl der Bloßstellung, des Begleitgefühls von Erniedrigung und vor allem hervorgerufen durch die Veröffentlichung der Naturhaftigkeit des menschlichen Körpers entsteht. Die moderne Schamsoziologie, wie sie Sighard Neckel (1991) entwickelt hat, bezieht sich demgegenüber mehr auf das Verhältnis von Scham und sozialer Distinktion im Kontext moderner, individualisierter Gesellschaften. Schließlich beschreibt ein dritter, psychoanalytischer Zugang die frühe entwicklungspsychologische Bedeutung des Schamgefühls. So spricht Léon Wurmser (1993a) u. a. davon, dass eine wichtige Wurzel des Schamgefühls in der Zurückweisung der frühkindlichen Bindungsbedürfnisse liegt (Wurmser 1993a, S. 15 f.). Jedes Individuum wolle im Sinne seiner Würde als ein Selbstzweck geachtet werden, was schon in der frühen Kindheit durch die Erfahrung von gegenseitiger Spiegelung (vgl. Winnicott 1973) und praktischer Intersubjektivität (vgl. Honneth 1992) im Rahmen von guten Objektbeziehungen entwickelt wird. Das Kind wolle gesehen, verstanden und erkannt werden. Diese im Entwicklungsabschnitt der frühen Affektsozialisation sich vollziehende Spiegelung des Kindes und die zustimmende Resonanz, die das Kind in Bezug auf seinen Körper durch die Mutter und andere Bezugspersonen erfährt, ermöglichen die Entwicklung von Selbstwirksamkeit, das Wachsen einer „psychischen Haut“ und im Sinne der antiken Oikos-Lehre des Zenon ein „Wohnen in sich selbst“, welches den Kern der Ich-Identität ausmacht (Wolfstetter 1985, S. 69 ff.). Umgekehrt besteht die frühste Quelle des Schamgefühls in frühen Erlebnissen der eigenen Wirkungslosigkeit und der Erfahrung der Nicht-Anerkennung. Scham entsteht, wo der frühkindliche Versuch scheitert, in den Bezugspersonen Gefühle der emotionalen Zustimmung hervorzurufen, welche sich in dieser Lebensphase vor allem auf die Zustimmung zum Körper des Kindes beziehen. Fehlt diese Erfahrung, so entsteht, wie Wurmser (1993a, S. 15) ausführt, zunächst Angst, Einsamkeit jedoch auch eine frühe Form der Scham durch die kränkende Erfahrung der eigenen Wirkungslosigkeit, die als Minderwertigkeit verstanden wird. Hier liegen die Quellen eines negativen Selbst, die verbunden mit dem Gefühl von innerer Leere, Einsamkeit und Heimatlosigkeit eine frühe Gestalt bilden.

In Mary Douglas (1974, S. 99 f.) Lehre von den zwei Körpern – dem „Körper als soziales Gebilde und dem Körper als physisches Gebilde“ steuert der erste, soziale oder Gesellschafts-Körper die physische Wahrnehmung des biologischen Körpers. Gleichzeitig schreibt sich eine bestimmte Gesellschaftsauffassung in den Körper ein, ein Prozess den bekanntermaßen auch Bourdieu (1997) als Inkorporation benannt hat. Was wird nun inkorporiert? Bei Heinrich Popitz (1992) ist der physische Körper gleichzeitig verletzungsoffen wie auch verletzungsmächtig. Wie sein Sosein in Raum und Zeit jedoch codiert ist, ob mehr verletzungsoffen oder mehr verletzungsmächtig, ist von der jeweiligen Kultur und der sozialen Position seines Trägers abhängig. Bei Bourdieu (1967) spielen Klasse, Geschlecht und Ethnie in Bezug auf die Verteilung von Verletzungsmächtigkeit oder Verletzungsoffenheit eine wichtige Rolle. Die Bewertung sowohl des Körpers wie auch des Verhaltens unterliegt nun vor allem den Regeln der sozialen Distinktion. Sozialisation wurzelt demnach im Körperlichen. Weil dem Körper eine unmittelbare leiblich-seelische Bedürftigkeit innewohnt, ist er (verletzungs-)offen für die soziale Disziplinierung und Zurichtung. Nach Douglas bilden sich im Verlaufe der Sozialisation auf diese Weise zwei Repräsentationen des Körpers heraus: der Selbstkörper und der Gesellschaftskörper, ein Körper, der als Ausdruckmedium des Selbst dem in der Sozialisation erworbenen Ordnungs- und Gesellschaftskörper gegenübergestellt sei. In der Schamsoziologie von Simmel (1901/1986) z. B. repräsentieren diese beiden Körperbilder die Dualität von hoch und niedrig. Der „hohe“ Gesellschaftskörper als Träger des Status ist dem niedrigen Selbstkörper als Träger der emotionalen und seelischen Bedürftigkeit entgegengesetzt. Gleichzeitig ist der Gesellschaftskörper auch der entfremdete und konforme Körper, der sichtbar nicht dem Selbst, sondern der Gesellschaft zugewandt ist, durch verschiedene Pflege-, Hygiene- und ästhetische Maßnahmen, die an ihm sichtbar sind, nicht auf das Selbst, sondern auf die Gesellschaft verweist. Traumatische Sozialisationsprozesse wie körperliche Züchtigung, hygienische und pflegerische Zurichtung (vgl. Heimann 1976) oder Vernachlässigung und pädagogische Formung haben nun entweder die seelische Wirkung, dass sich ein Gesellschaftskörper gar nicht entwickeln kann und der physische Körper zum Adressat massiver Schamgefühle wird. Dann sind Attacken auf diesen Körper, wie selbstverletzendes Verhalten, häufig das einzige Mittel um ein Körpererleben im Sinne von Selbstwirksamkeit herzustellen oder der Gesellschaftskörper kann sich durch den Prozess der Sozialisation zwar erfolgreich konstituieren, steht seinem Träger aber nicht als Quelle von Identitätserfahrungen zur Verfügung, als Oikos – um die antike Lehre des Zenon wieder aufzugreifen. Dies ist dann Zustand einer deprimierenden und isolierenden Verlorenheit. Auch hier spielen Schamgefühle eine wichtige Rolle.

2 Scham und Naturhaftigkeit

In seiner „Psychologie der Scham“ betont Simmel (1901/1986), dass die Scham sich auf die Sexualität und Nacktheit als Symbol des Niedrigstehenden richte, weshalb in der Sexualisierung eine besondere Verletzlichkeit liege. Simmel betont, wie auch Norbert Elias (1976, II) den umfassenden und öffentlichen Charakter der Scham, das Gefühl der Bloßstellung, der Erniedrigung, die negative Aufmerksamkeit anderer (Simmel 1901/1986, S. 141; Elias 1976, S. 376). Der Dualität von Hoch und Niedrig entspricht psychoanalytisch gesprochen (vgl. Wurmser 1993a) die Struktur des Gewissens. Wurmser sagt, dass ein Ideal (die hochstehende innere Instanz) das Ich (die niedriger stehende innere Instanz) ständig beobachtet und alles „mitweiß“, was die niedrig stehende Instanz tut (Wurmser 1993a). Das Niedrigstehende sei dabei jener Ich-Anteil, der mit dem naturhaften Körper, seiner Unvollkommenheit und seiner Bedürfnisnatur verbunden ist. Dieser niedrig stehende Körper wird vom Über-Ich beobachtet. Wurmser nennt dabei sechs Funktionen des Gewissens, welches neben der Beobachtung, der Bestrafung und der Verachtung auch fürsorgliche und das Ich (die niedrig stehenden Ich-Anteile) schützende Funktionen haben kann und muss. Je reifer das Gewissen im Verlauf der Biografie werden konnte, desto mehr überwiegen die schützenden Funktionen, je unreifer es bleiben musste, desto stärker sind die Schamgefühle. Die innere Dynamik der Beschämung beschreibt Wurmser als die Selbstverurteilung und das depressive Gefühl von Isolation und Selbstverachtung. Mangelnde fürsorgliche Funktionen vor allem eines unreifen Über-Ich nehmen beschämende Botschaften der Umwelt auf und übersetzen sie in Selbstverurteilung. Dies, so Wurmser (1993b), sei die Dynamik der schweren Neurosen und einer eigenen Form der Depression, die aus der Scham resultiert. Damit erklärt Wurmser auch den entwicklungspsychologischen Zusammenhang von Trauma und Scham und zeigt die Bedeutung der Sozialisation vor allem unter den Bedingungen des Mangels auf. Die in den bescheidenen Sozialmilieus vorfindbaren Felddynamiken der sozialen Verachtung, des frühen, autoritären Drucks auf Kinder, die möglichst früh erwachsen werden sollen, die bedürftigen Eltern und die Prozesse der Parentifizierung (das heißt der Auftrag an das Kind für die Eltern zu sorgen) erklärt, warum gerade in den bescheidenen Milieus nicht weniger Scham, sondern mehr Scham vorherrscht. Dass um des materiellen Überlebens willen hier häufig schamdynamisch bedeutende Prozesse des Sich-für-andere-zum-Objekt-Machens vollziehen, verweist nicht auf Schamlosigkeit in den einfachen Sozialmilieus, sondern, wie Wurmser es in seinem Buch zur Sucht ausdrückt, auf Scham als verborgene Dimension (vgl. Wurmser 1992). Doch dies ist der Zusammenhang von Armut und Scham.

3 Gebrechlichkeit und körperliche Schwäche

Der psychodynamische Zusammenhang von Alter und Scham wurde 1955 zum ersten Mal vom Psychoanalytiker Martin Grotjahn (vgl. Grotjahn 1955/1978) erwähnt. Er beschreibt den Alterungsprozess als narzisstische Krise, die ausgelöst wird durch die Erfahrung der Schwäche und der zunächst rein körperlichen Unterlegenheit gegenüber Jüngeren. Bei Simmel wiederum (1901/1986) ist jede Persönlichkeit zunächst von einer Sphäre der Unnahbarkeit und der Distanz umgeben. Jedes Eindringen in diese Grenze wird als ein Riss zwischen der Norm der Persönlichkeit und ihrer momentanen Verfassung empfunden. Dies wird auch von Goffman (1984) und Elias (1976, II) betont. Simmel zeigt auf, dass das Schamgefühl sich erst dann einstellt, wenn sich der ganze Mensch, nicht nur ein Teil seines Selbst von der Beschämung betroffen fühlt, der herabgesetzte Ich-Anteil also als Repräsentant des ganzen Ich erscheint. Dies ist gerade im Alter die Problematik der Pflege. Da diese immer mit einer Veröffentlichung des Körperlichen verbunden ist, wohnt der Pflege die Beschämung quasi automatisch inne und kann nur durch Takt, Rituale der Zuvorkommenheit und der Ehrerbietung „gehalten“ werden (vgl. Gröning 1998). Umgekehrt kennt jede Gesellschaft Schamrituale und soziale Ächtung, die darauf angelegt sind, die Herabsetzung, die zunächst nur einen Teil des Ich betrifft, ritualisiert so auszuweiten, dass das ganze Ich erfasst wird.

1993 thematisiert ein weiterer Psychoanalytiker und Schamtheoretiker – Léon Wurmser – die für alte und pflegebedürftige Menschen wichtige Schamkategorie: die Verstümmelungsscham, psychoanalytisch gesprochen die Kastrationsscham, die ebenfalls vom Körper ausgeht und mit dem Gefühl der Hässlichkeit, des Verstümmeltseins und der mangelnden Körperbeherrschung verbunden ist (vgl. Wurmser 1993a). Bei Wurmser ist diese Kastrationsscham an die Fantasie gebunden, eine verstümmelten und entstellten Körper zu haben, der Ablehnung und Ekel hervorruft. Sie ist also nicht exklusiv gebunden an das Alter, jedoch wohnt jedem Lebenslauf, wenn sich das Leben dem Ende zuneigt, diese Phase inne. Die Kastrationsscham ist ebenfalls bedeutsam im Zusammenhang von Behinderung und Krankheit. Aus der klinischen Praxis (vgl. Gröning 1998) ist bekannt, dass diese Verstümmelungsscham mit der Erfahrung der Pflegebedürftigkeit, insbesondere der Inkontinenz, aber auch weiteren Alterserkrankungen, die den Körper entstellen, verbunden ist. Dies sind zum Beispiel Amputationen in Folge von Diabetes und ähnlichen typischen Alterserkrankungen, Schlaganfällen und Demenz. Schamtheoretisch bedeutend sind weiterhin solche Erkrankungen, die verunreinigend sind und Ekel verursachen, wie zum Beispiel das Nicht-bei-sich-behalten-Können von Nahrung durch Schlucklähmung, die Stuhl- und Harn-Inkontinenz oder die Symptome der Demenz. Mit der Erfahrung der Pflegebedürftigkeit wird eine Person nicht nur zu einem „Fall“, nämlich einem Pflegefall im Sinne der Versachlichung (vgl. Dörner 1994) von Menschen -dies betrifft die Sozialscham- auch entwicklungspsychologische Erfahrungen der Verletzungsoffenheit und Abhängigkeit, vor allem aus der frühen Kindheit, aktualisieren sich und bilden eine Gesamtgestalt.

Wir haben es beim Zusammenhang von Alter und Scham faktisch unausweichlich vor allem mit einem Phänomen der Körperscham im Kontext der Hochaltrigkeit, im Zusammenhang mit Armut auch mit der den gesamten Lebenslauf umfassenden Sozialscham zu tun. Die Schamdynamiken bei Hochaltrigkeit und Pflegebedürftigkeit, die hier vorgestellt wurden, sind auf den gebrechlichen Körper bezogen und beziehen sich auf die zunehmende Unfähigkeit der betroffenen Person, ihren Körper im Sinne von Bourdieu (1997; vgl. dazu auch Neckel 1991) respektabel oder distinktiv, als Träger einer sozialen Position im sozialen Raum darstellen zu können. Stattdessen tritt unbeabsichtigt ein anderer Körper auf, jener, der nicht auf die Gesellschaftlichkeit, sondern auf die Natur verweist (vgl. Simmel 1901/1986). Dieses Hervortreten des Kreatürlichen, des Fleischlichen und des Nicht-Kulturellen ist, so die Ethnologin Mary Douglas, ungefähr seit Augustinus, also dem späten Mittelalter mit Scham verbunden (vgl. Douglas 1974).

4 Die Ungleichzeitigkeit von psychologischen und sozialen Dimensionen des Alterungsprozesses

Die beschriebene schamdynamische Bedeutung des Alterungsprozesses durch die zunehmende Verletzungsoffenheit und das Hervortreten des naturhaften Körpers trifft nun auf intrapsychische Prozesse des Alterns, die ebenfalls mit zunehmendem kalendarischen Alter wahrscheinlicher werden und krisenhaft sind. Es geht um die von Radebold schon in den 1980er Jahren beschriebenen Verluste. Altern sei deshalb so belastend, so Radebold (1984) weil der betroffene Mensch immer wieder wichtige und wertvolle Bezugspersonen und Objekte verliere, und dies unwiederbringlich. Für Radebold liegt darin ein strukturelles Traumatisierungspotenzial, welches dem Alter innewohne. Er hebt in seinen Arbeiten zur Entwicklungspsychologie des hohen Alters und zur Psychodynamik hochaltriger Menschen diese Verluste als besonders identitätsgefährdend hervor, weil die qualitative und quantitative Häufung der Verlusterfahrungen die psychischen Verarbeitungskapazitäten des Ich überforderten.

Radebold (1984) spricht deshalb vom Alterungsprozess als einem potenziell traumatischen Entwicklungsprozess, lässt jedoch die schamdynamischen Dimensionen dabei weitgehend außer Acht. Seine Theorie der Entwicklungspsychologie des Altes bezieht sich faktisch auf einen der Lebensphase der Gebrechlichkeit vorgelagerten Altersabschnitt, der durch zunehmende und unfreiwillige Singularisierung gekennzeichnet ist. Gemeint ist vor allem die Erfahrung des Sterbens von Personen aus dem eigenen sozialen Netzwerk als auch das Versterben signifikanter Anderer. Jedoch gehen die Lebensphasen der Verlusterfahrungen und der körperlichen Gebrechlichkeit ineinander über. Auch körperliche Krankheit und Gebrechlichkeit wird zunächst als Verlust und Entfremdung des Körpers vom Selbst wahrgenommen. Darauf hat schon früh, nämlich in den 1970er Jahren Jean Amery in seinem Klassiker „Über das Altern“ hingewiesen (vgl. Amery 1968).

5 Alter und soziale Scham

Seit den 1950er Jahren, genaugenommen seit der großen Rentenreform von 1957, die die Rentenentwicklung an die Lohnentwicklung gekoppelt hat, galt die Armut von alten Menschen als überwunden und ihre Teilhabe an der Gesellschaft als sichergestellt. Alterspolitik war vor allem Verteilungspolitik und Sicherstellung der materiellen Basis für einen gesicherten Ruhestand. Dieses in den 1960er Jahren konstruierte Leitbild des Ruhestandes veränderte sich bald. Es folgten Altersleitbilder die sich auf das Alter als „späte Freiheit“ (Rosenmayr 1983) auf den aktiven „Unruhestand“ und die „Zeit des zu sich selbst Kommens“ (Kruse 1996) bezogen haben. Die Altersleitbilder, die als Verjüngung und wissenschaftliche sowie gesellschaftliche Konstruktion eines neuen, positiven und jungen Alters vor allem seit den 1970er Jahren beschrieben wurden, wurden in den 1990er Jahren vom Leitbild des produktiven Alters abgelöst. Das hedonistische Alter mit dem Bezugspunkt Konsum galt fortan als peinlich. Deutungsmuster der Belastung durch den demografischen Wandel beförderten das Leitbild eines produktiven und gemeinwohlorientierten Alters, der Zivilgesellschaft zugewandt und nützlich. Ehrenamtlichkeit und das bürgerschaftliche Engagement wurden zum Ausweis dieses Leitbildes. Seit ca. 10 Jahren löst sich nun auch dieses Leitbild auf und macht einem ganz neuen Altersleitbild von Rente-plus-Arbeit Platz, welches heute zunehmend empirisch und normativ zu wirken beginnt. Das einmal versprochene materiell sichere Alter scheint sich dem Ende zuzuneigen und gilt künftig wohl nur noch für eine Minderheit. Mit dieser Entwicklung kehrt die Altersarmut zurück und mit ihr die spezielle soziale Armutsscham. Da sich, wie nun Sighard Neckel (1991) sagt, in modernen Gesellschaften die kollektiven Strukturen zunehmend auflösen und individualisierte Gesellschaften schamanfälliger werden, könnte mit der Altersarmut auch die soziale Altersscham zurückkehren, weil kollektive und kohortenspezifische Schicksale nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern individualisierend umgedeutet werden. Dazu haben auch eine Fülle von psychologischen Deutungsmustern im Kontext des sogenannten Psychobooms beigetragen, die individualisierende Deutungsmuster befördern. Umgekehrt hat Walter Scheel in dem zu Beginn zitierten Aufsatz vom 05.02.2012 richtig gesagt, dass menschliche Würde im Alter nur bewahrt und gelebt werden kann, wenn in der Gesellschaft Kräfte und Fähigkeiten in ausreichendem Maß vorhanden sind, auch gebrechliches, sich verlierendes und sterbendes Leben zu achten, zu schützen und zu pflegen. Dies ist eine existenzielle Frage von Würde und Scham.