1 Problemaufriss – Szenen aus der Sozialpädagogik

In einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe wird das Internet zwischen 22.00 Uhr und 6.30 Uhr ausgeschaltet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geraten dadurch in eine größere Auseinandersetzung mit einer Jugendlichen, deren Eltern in Peru leben und mit denen sie aufgrund der Zeitdifferenz erst ab ca. 23.00 Uhr skypen kann.

Eine Sozialarbeiterin im Migrationsdienst sagt: “Sie (Migrantinnen und Migranten aus Italien und Portugal, die Verf.) bleiben hier eine gewisse Zeit, dann gehen sie nach Italien bzw. Portugal zurück und kommen dann wieder und wir müssen wieder alles beantragen. Also das sind so ein paar Sachen, wenn ich mich darauf einlasse, werde ich total schizophren [¼]. Die Sache ist also ein bisschen schwer geworden, weil [¼] viele hin und her wandern.“ (Mukasibo2008, S. 71)

Frau Schmidt ist 75 Jahre alt und wendet sich mit folgender Nachfrage an eine Altenberatung. Sie empfindet, dass sie zunehmend gebrechlich wird und möchte sich über Möglichkeiten des betreuten Wohnens erkundigen. Die Sozialarbeiterin informiert sie über die Möglichkeiten in ihrem näheren Umfeld. Doch Frau Schmidt hatte an eine andere Alternative gedacht. Seit 25 Jahren fährt sie im Urlaub nach Spanien, hat dort mittlerweile viele Freundinnen und Freunde und würde gerne, insbesondere auch aufgrund des milderen Klimas und vor allem auch der sehr viel kostengünstiger Betreuungsmöglichkeiten, ihren Lebensabend dort verbringen. Durch ihre nicht allzu üppige Rente würde eine kostengünstigere Betreuungsmöglichkeit ihre Lebensqualität steigern. Außerdem wisse sie von einer Bekannten, dass es in der Region, in dem die meisten ihrer Freundinnen und Freunde leben, mehrere Angebote des betreuten Wohnens für ältere Deutsche gebe. Die Sozialarbeiterin ist zunächst etwas ratlos.

Was verdeutlichen diese Beispiele? Ihnen ist gemeinsam, dass die Strukturen und Angebote der Sozialen Arbeit auf der einen Seite und die Lebensentwürfe, Biographien und Bedürfnissen der Adressatinnen und Adressaten auf der anderen wenig übereinstimmen. Insbesondere scheinen die „Fernbeziehungen“ der Adressatinnen und Adressaten nicht unmittelbar mit den institutionellen Regeln (1. Beispiel), den rechtlichen Rahmenbedingungen (2. Beispiel) und dem Wissen der SozialarbeiterInnen (3. Beispiel) vereinbar zu sein. Im folgenden Beitrag werden diese hier beispielhaft skizzierten grenzüberschreitenden sozialen Beziehungen genauer analysiert und die Herausforderungen für die Soziale Arbeit dargelegt, die sich aus dem – auch das deuten die Beispiele an – ihr eingeschriebenen territorialen Raumbezugs sozialer Beziehungen ergeben.

2 Von ortsbezogenen zu grenzüberschreitenden sozialen Beziehungen

Interaktionsanalysen haben lange Zeit die Bedeutung der Anwesenheit der jeweiligen Interaktionspartnerinnen und -partner hervorgehoben. Man ging davon aus, dass die physische Präsenz für Interaktionen von Bedeutung sei, weil sich nur unter Bedingungen der Anwesenheit Menschen aufeinander beziehen können. Dadurch rückte auch die Ortsgebundenheit von Interaktionen und sozialen Beziehungen in den Mittelpunkt. Denn physische Anwesenheit erfordert die Präsenz am gleichen Ort zur gleichen Zeit (vgl. Mau2007, S. 69). Damit einher ging auch die Annahme, „dass sich bestimmte Strukturen der Verbindlichkeit, der normativen Verpflichtung und der Wechselseitigkeit nur unter Anwesenheitsbedingungen herausbilden können [¼]“ (Mau2007, S. 71).

Die Annahme der Ortsgebundenheit sozialer Beziehungen spiegelt sich auch in vielen theoretischen Ansätzen und konzeptionellen und methodischen Überlegungen sowie im praktischen Handeln der Sozialen Arbeit wieder, wenn auch meist nur implizit. In Anlehnung an Alfred Schütz, der alltägliche Lebenswelten sehr stark an die physische Kopräsenz von Interaktionspartnern konzipierte (vgl. Pries2010, S. 160), scheint sich dies beispielsweise auch in der Lebensweltorientierung der Sozialen Arbeit fortzuschreiben. Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit ist häufig mit der Verortung sozialer Beziehungen im territorialen Nahraum verbunden (vgl. Thiersch1993). Ähnlich folgt die Debatte um Sozialraumorientierung dieser impliziten Prämisse einer starken Bedeutsamkeit des territorialen Raumes sozialer Beziehungen für die Ausgestaltung sozialpädagogischer Unterstützung. So schreiben Kessl und Maurer, dass „[¼] ein Großteil der sozialraumorientierten Vorgehensweisen bis heute dadurch gekennzeichnet (ist), dass Räumlichkeit primär in Form konkreter Territorien beschrieben wird [¼]“ (Kessl und Maurer2005, S. 116). Die obigen Beispiele zeigen, wie zudem der Ortsbezug sozialer Beziehungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen in den Institutionen und Handlungspraktiken von Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen eingeschrieben ist. Die Interventionsformen der Sozialen Arbeit implizieren in vielfältiger Weise die Anwesenheit von Interaktionspartnerinnen und -partnern. So sind z. B. Hausbesuche im Rahmen der Sozialpädagogischen Familienhilfe darauf ausgerichtet, Familienstrukturen und -beziehungen vor Ort, d. h. unter Bedingungen von Anwesenheit kennenzulernen und darin zu intervenieren. Auch Elternarbeit impliziert die Arbeit vor Ort unter physischer Anwesenheit von Eltern. Entsprechend sind sozialpädagogische Beziehungen weitgehend auf die Anwesenheit zwischen SozialpädagogInnen und KlientInnen ausgelegt, auch wenn einige Settings, wie z. B. die Telefonseelsorge oder online-Beratungen hiervon abweichen (vgl. Alfert und Roggenbach2012). Insgesamt sind sozialpädagogische Beziehungen aber so angelegt, dass sie mit einer professionellen AkteurIn und einer AdressatIn an einem konkreten Ort stattfinden.

Die These der Bedeutung von Ortsgebundenheit und Anwesenheit für soziale Beziehungen wird im Rahmen der Transnationalitätsforschung herausgefordert, indem sie die Aufhebung bzw. Abschwächung der Ortsgebundenheit sozialer Beziehungen herausarbeitet (Mau2007, S. 73). Anders als in Konzepten sozialer Beziehungen der klassischen Soziologie, die von der Kopräsenz von Kommunikations- und Interaktionspartner/Innen an einem Ort ausgehen und diese „in einem eng umgrenzten und territorial definierten Raum stattfinden lassen“ (S. 73), zeigt die Forschung mittlerweile auf vielfältige Weise die pluri-lokale Ausdehnung von sozialen Beziehungen.

Transnationalität bedeutet allgemein, dass ursprünglich an nationalgesellschaftliche Orte gebundene Wissens- und Handlungsformen quer zu nationalstaatlichen Grenzen verlaufen und hierdurch ihren geographischen und sozialräumlichen Referenzrahmen erweitern (bzw. verlieren). In transnationalen Lebensformen und -prozessen handeln, entscheiden, sorgen und identifizieren sich Menschen in sozialen Bezügen, die sie an zwei oder mehr Nationalstaaten gleichzeitig binden (vgl. Faist1998,2000a,b). Hierdurch werden vielfältige, grenzüberschreitende Beziehungen im familialen, ökonomischen, sozialen, organisatorischen, religiösen und politischen Bereich geknüpft, aufrechterhalten oder intensiviert (vgl. Glick et al.1992, S. 81 f.). Dabei ist physische Zirkularität der grenzüberschreitenden Bewegungen und Bindungen keine notwendige Bedingung für deren Entstehen, Entwicklung und Aufrechterhaltung. Vielmehr können sich grenzüberschreitende Bezüge auch in symbolischen Bindungen ausdrücken.

Das Konzept der Transnationalität rückt damit insgesamt pluri-lokale und Ländergrenzen überschreitende Sozialbezüge von Menschen in den Vordergrund. Durch die Ausbildung und Aufrechterhaltung „von neuen sozialräumlichen Grenzziehungen [¼], die quer zu unterschiedlichen Ländern (liegen, d. Verf.)“ (Pries2010, S. 61), zeichnen sich diese neuen sozialräumlichen Grenzziehungen durch eine multidimensionale Verbindung von Elementen zwischen unterschiedlichen Ländern aus. Damit einher geht die Ausbildung von transnationalen sozialen Räumen, die in der Transnationalitätsforschung einen wichtigen Stellenwert einnehmen.Footnote 1

Pries versteht Sozialräume als „die zeitlich als relativ dauerhaft und flächenräumlich als Ausdehnung und Anordnungsbeziehung wahr-genommenen sozialen Lebensbezüge von Menschen“ (Pries2010, S. 153). Transnationale Sozialräume sind dabei nicht auf einen bestimmten, abgegrenzten Flächenraum (innerhalb) eines Nationalstaates begrenzt. Vielmehr findet eine pluri-lokale Ausdehnung von Sozialräumen über mehrere Flächenräume verschiedener Nationalstaaten statt. Die Aufhebung bzw. Abschwächung der Ortsgebundenheit sozialer Beziehungen ist eine herausragende Eigenschaft transnationaler Sozialer Räume (Mau2007, S. 73). Soziale Beziehungen lösen sich von ihrer räumlichen Fixierung.

Die Ausbildung von Sozialräumen über weite flächenräumliche Entfernungen hinweg, ist insbesondere seit Ende des 20 Jahrhunderts zunehmend zu erkennen. Infolge dieser Entwicklungen sind „[p]luri-lokale transnationale Alltagswelten [¼] heute für Millionen von Menschen bereits eine Lebenswirklichkeit“ (Pries2010, S. 162). Migrationsprozesse, steigende grenzüberschreitende Mobilität im Rahmen von Beruf und Ausbildung, neue technologische Möglichkeiten und sinkende Kosten von Kommunikation und Transport sind diesbezüglich genauso wichtig wie Verschiebungen von Anreizsystemen im Rahmen von Institutionen (z. B. rechtliche Reglungen von Einreise, Ausreise, Arbeitserlaubniss und wohlfahrtsstaatliche Rechte und Ansprüche, die Individuen im Ausland geltend machen sowie die Ausstattungen und Kompetenzen der Individuen selbst (z. B. Beherrschung einer Fremdsprache)). Entsprechend sind grenzüberschreitende soziale Beziehungen nicht nur ein Phänomen mobiler Gruppen. „Je selbstverständlicher das Fernsehen aber auch die Mobiltelefone und das Internet zur Innenausstattung des eigenen Lebens gehören desto mehr wird das Schneckenhaus der Privatheit zum Schein, weil es in die Prozesse der inneren Globalisierung einbezogen ist. Denn die häusliche informationstechnologische Innenausstattung hebt partiell Grenzen von Zeit, Raum, Ort, Nähe und Ferne auf [¼]. So wird es möglich, dass [¼] Menschen, die isoliert von ihren Nachbarn an einem Ort leben, gleichzeitig in dichte kontinentalübergreifende soziale Netze eingebunden sind.“ (Beck2004, S. 157).

Die Entgrenzung des Ortsbezugs sozialer Beziehungen lässt sich auf ganz unterschiedlichen und sehr vielfältigen Ebenen feststellen. So zeigt die Transnationalitätsforschung mittlerweile auf vielfältige Weise, wie die oft implizit oder explizit gedachte Annahme bzw. Erwartung einer räumlichen Nähe und des direkten Zusammenlebens der Familie brüchig wird. Familien transnationalisieren sich und sind zunehmend in grenzüberschreitenden Beziehungen eingebunden. Familie als face-to-face-Beziehung und das Modell der physischen Anwesenheit von Familienmitgliedern sowie die Vorstellung, dass Familie einem bestimmten Territorium zugehört, gerät ins Wanken. Damit wird auch das nicht selten gleichzeitige mitgedachte Familien-Modell der gleichen Nation der Familienmitglieder, derselben Muttersprache, desselben Passes und der gleichen Staatsbürgerschaft brüchig (Beck et al.2011). Auch der mit der „Mutterliebe“ meist unmittelbar mitgedachte Ortsbezug erfährt Veränderungen. Mit dem Begriff der „Transnationalen Mutterschaft“ (vgl. z. B. Hondagneu-Sotelo und Avila1997; Parreñas 2005), wird zum Beispiel auf das Phänomen hingewiesen, dass Frauen, die migrieren und ihre Kinder in ihren Herkunftsländern zurücklassen, sich nicht aus ihren Aufgaben und Verantwortlichkeiten gegenüber den Kindern generell zurückziehen, sondern z. B. über moderne Telekommunikationsmittel häufig über die Distanz eingreifen (vgl. Parreñas 2001; Bernhard et al.2005), während die alltägliche Sorge, Betreuung und Erziehung in der Regel durch „Ersatzmütter“ erfolgt – sei es durch bezahlte Kräfte oder durch den Rückgriff auf Verwandte oder Bekannte. Und während Erich Kästner 1936 davon ausging, dass die Liebe an der Geographie krepiere (zit. nach Beck und Beck-Gernsheim2011, S. 64), zeigt sich an den vielen Fernbeziehungen, dass sich auch die Liebe vom Ortsbezug befreit und die „Vorgaben der Geographie“ an Bedeutung verliert (vgl. Beck und Beck-Gernsheim2011). Auch peer Beziehungen (vgl. z. B. Mangold2012) oder Beziehungen innerhalb von Netzwerken (vgl. z. B. Transnational Social Review2012; Keck und Sikkink1998) oder „communities“ (vgl. z. B. Djelic und Quack2010) spannen sich zunehmend grenzüberschreitend auf.

Transnationale Soziale Beziehungen sind keineswegs nur an bestimmte Altersgruppen gebunden. So erfährt auch das lange Zeit gedachte Ortsmodell des Alterns Veränderungen. Nicht nur bei älteren Migrantinnen und Migrantinnen zeigt sich, dass die aufgrund ihrer Einbettung in transnationale soziale Netzwerke und insbesondere transnationale Familienstrukturen häufig für das Pendeln im Alter optieren (Krumme2004). Studien zur Ruhestandsmigration verdeutlichen, dass auch breitere Bevölkerungsgruppen, z. B. durch grenzüberschreitende Arbeits- oder Urlaubserfahrungen über vielfältige grenzüberschreitende soziale Beziehungen verfügen oder diese aufbauen, wenn sie nach Betreuungsmöglichkeiten für das Alter im Ausland als Alternative zu den oft teuren und wenig auf individuelle Bedürfnisse ausgerichtete Altenhilfe vor Ort suchen (vgl. z. B. Oliver2007; Kaiser2011).

3 Grenzüberschreitende soziale Beziehungen – Nur eine Frage geographischer Entfernung?

Insgesamt steht die Forschung über die Formen und Verläufe transnationaler sozialer Beziehungen noch eher am Anfang. Dennoch zeigen mittlerweile viele Studien, dass die Annahme, Verbindlichkeit, normative Verpflichtung, Reziprozität und emotionale Nähe, physische Nähe oder die Anwesenheit der Interaktionspartnerinnen bzw. -partner voraussetze, differenziert werden muss (Mau2007, S. 71). Gerade aus der Transmigrationsforschung lassen sich vielfältige Befunde entnehmen, dass z. B. Transmigrantenfamilien auch über weite geographische Distanzen enge Beziehungen aufrechterhalten werden, sich ihr Verantwortungsgefühl gegenüber weit entfernt wohnenden Familienangehörigen nicht auflöst und vielfältige Sorge-, Betreuungs- und Hilfeverhältnisse aufrechterhalten (vgl. z. B. Bach2012; Baldassar2007; Bender et al.2012b; Bryceson und Fahy2002). Entsprechend wurde auch die These, die lange Zeit in der Unterstützungsforschung galt, dass die auf den Wohnsitz bezogene geographische Nähe von Personen mit hoher interpersoneller Kontaktfrequenz korreliere (Wellman und Wortley1990) und Personen, die im näheren geographischen Umfeld wohnen, demnach mehr und häufig auch viele verschiedene Arten sozialer Unterstützung leisten, relativiert. „ [G]eographical proximity or distance do not correlate straightforwardly with how emotionally close relatives feel to one another, nor indeed with how far relatives will provide support or care for each other“ (Mason2004, S. 421). In der transnationalen Unterstützungsforschung liegen mittlerweile viele Studien vor, die zeigen, dass und wie soziale Unterstützung auch aus der Ferne – grenzüberschreitend – geleistet wird (vgl. zusammenfassend Chambon et al.2011)

Wenig wurde bei den bisherigen Untersuchungen allerdings der Frage nachgegangen, welche Bedeutung die mit geographischer Entfernung veränderte sinnliche Wahrnehmung Sozialer Beziehungen hat. Auch in grenzüberschreitenden Beziehungen ist das Hören und Sehen der anderen möglich, sie sind aber in der Regel durch Medien vermittelt. Der unmittelbare Augenkontakt, das unmittelbare Hören der Stimme der anderen erfährt Veränderungen. Insbesondere aber fehlt körperliche Nähe und das körperliche Berühren und Fühlen. Gerade im Rahmen von Sorge-, Hilfe- und Unterstützungsbeziehungen, in denen körperliche Berührungen wichtige Bedeutungen zukommen können, z. B. durch das Umarmen bei Trost oder Freude oder das Berühren, wenn Kommunikation durch Sprache nicht mehr möglich ist, werden diese Fragen in besonderem Maße aufgeworfen.

Hiermit wird angedeutet, dass transnationale soziale Beziehungen keineswegs nur eine geographische Ausweitung bedeuten. Es entstehen neue bzw. andere Beziehungskonfigurationen und Beziehungsstrukturen. Entsprechend verweist Mau (2007, S. 41) auf die Deutung des Präfix „trans“ durch die Anthropologin Ong. Ihr zufolge bezeichnet „trans“ sowohl das Bewegen über Grenzen hinweg sowie die Veränderungen des Charakters einer Sache. So lässt sich neben dem sozi-territorialen Aspekt auch ein qualitativer Veränderungsaspekt hervorheben, welcher darauf verweist, dass sich mit der Grenzüberschreitung auch die Natur und das Wesen von sozialen Beziehungen ändern. Neben geographischer Distanz sind Transnationale Soziale Beziehungen in unterschiedliche (nationale) Kontexte und Bezugsrahmen eingebunden, die keineswegs immer deckungsgleich sind. Bei aller Entgrenzung des Nationalstaats greift dieser weiterhin tief in die Lebensverläufe von Menschen ein, sei es durch die jeweiligen Jurisdiktionen, soziokulturellen Bedingungen oder wirtschaftlichen und politischen Systeme. In transnationalen sozialen Beziehungen treffen diese aufeinander und bedürfen der Bearbeitung, um Inkompatibilitäten zu moderieren und auszugleichen (vgl. Mau2007, S. 61). Transnationale Soziale Beziehungen erfordern Übersetzungs- und Adaptationsleistungen, um die unterschiedlichen Bezugsrahmen miteinander verbinden zu können. Durch diese Grenzverflechtungen werden in transnationalen Beziehungen entsprechend auch die Lebensverhältnisse des „Hier“ und „Dort“ relationiert und miteinander verwoben; die Lebensverhältnisse des einen lagern sich in die des anderen ein und umgekehrt. Dadurch dringen grenzüberschreitende soziale Beziehungen in die alltägliche Lebenswelt der Akteurinnen und Akteure ein und transnationalisieren diese mit. Sie wirken auch auf ganz konkrete Orte zurück. Transnationale Beziehungen dringen in Schulen, Wohnungen, Nachbarschaften, Soziale Einrichtungen etc. ein und verändern diese. Bender et al. (2012a) beschreiben beispielsweise anhand der Metapher des „Transnationalen Wohnzimmers“, wie ein Wohnzimmer zum transnationalen Ort wird, wenn über Medien transnationale Räume geschaffen werden, durch die das „geografisch Ferne vor Ort – ins Wohnzimmer – geholt und der „ferne“ Alltag „der anderen“ Bestandteil des eigenen Alltags wird“.

Die Überbrückung geographischer Distanz und die Übersetzungsleitungen zur Kompatibilisierung unterschiedlicher Bezugsysteme und Lebensverhältnisse stellen hohe Bewältigungsanforderungen an die Akteure und Akteurinnen, indem sie das, was auseinander zu fallen scheint, wieder verbinden und das, was nicht zusammen gehört, passend machen bzw. passend machen müssen (vgl. Mau2007, S. 61). Aber gerade hierdurch können sie auch riskant, krisenbehaftet oder überfordernd sein. Mau schreibt: „Man kann zu recht die Frage aufwerfen, ob mit der Transnationalisierung eine qualitativ neue Stufe der Reichweite, Fluidität und Heterogenität sozialer Beziehungen erreicht ist, die die Gefahren von Desintegration und individueller Überforderung übersteigern. Grenzüberschreitende Beziehungen sind per definitionem anspruchsvoller und daher oft prekärer [¼]. Wie bei jeder Form der Individualisierung und Optionsvergrößerung handelt es sich bei den neuen Möglichkeiten zur transnationalen Ausweitung des Handlungshorizontes um ‚Riskante Freiheiten‘ (Beck und Beck-Gernsheim 1994)“ (Mau2007, S. 61). Transnationale soziale Beziehungen hängen oft nicht nur von nationalen Rechtsordnungen und den damit verbundenen aufenthaltsrechtlichen Regelungen, staatsbürgerschaftlichen Status oder wohlfahrtsstaatlichen Regulierungen ab. Auch die Relationierung der unterschiedlichen Biographien und Lebenslagen können mit vielen Vereinbarkeitsproblemen verbunden sein.

4 Soziale Beziehungen im Kontext von „Remittances“

Am Beispiel monetärer Transfers innerhalb von transnationalen Familien lassen sich die komplex verwobenen und riskanten Strukturierungen grenzüberschreitenden sozialer Beziehungen verdeutlichen.

Die Forschung hat mittlerweile vielfach auf die enormen Höhen von finanziellen Rückflüssen durch Migrantinnen und Migranten aufmerksam gemacht, die sie an Familienmitglieder in den Herkunftsländern leisten (vgl. Schweppe2011). Auch unter Bedingungen der Armut der Familienmitglieder in den Ankunftsländern senden Menschen finanzielle Mittel an die noch ärmeren Familienmitglieder in den Herkunftsländern (vgl. Hollstein et al.2009). Hier zeigt sich, dass sich die Verantwortung gegenüber der Familie trotz geographischer Distanz nicht auflöst und die Familie auch unter belasteten Bedingungen (Armut) aus der Distanz eine verlässliche Hilfeinstanz ist. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass dieses Hilfesystem prekär ist. Finanzielle Transfers erfolgen im Rahmen von Familienbeziehungen zwischen Familienmitgliedern mit sehr ungleichen sozioökonomischen Lebensverhältnissen, die Einfluss auf familiale Verpflichtungs- und Solidaritätsnormen nehmen. Sowohl die Erwartungen der Familienmitglieder in den Herkunftsländern und als die Verpflichtungsgefühle der Familien in den Herkunftsländern erfahren eine besondere Zuspitzung. Die (teilweise) vermutete bzw. zugeschriebene Vorstellungen der Familienangehörigen im Herkunftsland über die in relativem Reichtum lebenden Familienmitglieder in Deutschland lassen angesichts familialer Solidaritätsnormen besondere Erwartungen wecken, die eigene Lebenssituation zu verbessern. Diese Erwartungen stoßen auf Seiten der in Deutschland lebenden Familienmitgliedern auf ein Verantwortungsgefühl gegenüber den im Herkunftsland lebenden Familienmitgliedern, das angesichts der ungleichen und möglicherweise noch schlechteren Lebensbedingungen im Herkunftsland ebenso einen besonderen Nachdruck erfährt. Dabei werden auch Ängste deutlich, den Erwartungen der Familienmitglieder in den Herkunftsländern nicht gerecht zu werden, sowie erhebliche verwandtschaftliche Konflikte und Spannungen, wenn befürchtet wird, den Erwartungen der Familie nicht entsprechen zu können. Damit verbunden ist häufig auch ein erheblicher Druck, dem Bild eines ökonomisch erfolgreichen Migranten zu entsprechen.

Angesichts knapper Ressourcen auf Seiten der Gebenden wird dies jedoch zum Dilemma: Unterstützungen leisten zu wollen bzw. zu müssen und diese eigentlich nicht leisten zu können. Dieses Dilemma wird zur Bewältigungsaufgabe von armen Migrantinnen und Migranten in den Zielländern. Sie entwickeln diesbezüglich vielfältige Mechanismen, die häufig nicht nur zu weiteren finanziellen Einschränkungen führen und mit folgenreichen Belastungen (z. B. Schulden) einhergehen können. Auch erhebliche familiale Konflikte sowohl mit den Familienmitgliedern der Herkunftsländer als auch mit denen der Zielländer können die Folge sein, die letztendlich auf Fragen familialer Verteilungsgerechtigkeit gründen.

4.1 Zwischenfazit

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass grenzüberschreitende soziale Beziehungen durch das aktive Handeln von Akteurinnen und Akteuren entwickelt, aufrechterhalten oder wieder verändert werden. Aktives Handeln ist notwendig, um nicht nur geographische Distanzen zu überbrücken, sondern auch die durch nationalstaatliche Referenzrahmen konnotierten Lebensverhältnisse aufeinander zu beziehen und kompatibel zu machen. Durch diese Grenzarbeit werden in transnationalen Beziehungen die Lebensverhältnisse mit denen des jeweils anderen verwoben und in die des jeweils anderen eingeschrieben. Dadurch wirken transnationale Beziehungen auf die (all)täglichen Lebenswelt der Beteiligten zurück und transnationalisieren diese mit. In transnationalen sozialen Beziehungen verändern sich bislang bekannten Muster der Beziehungsstrukturierung, die nicht immer in vorhandene rechtliche, institutionelle und normative Interpretationsfolien passen und die weitere Bewältigungsanforderungen an die Beteiligten stellen. Insgesamt bergen grenzüberschreitende soziale Beziehungen Potentiale zur Handlungserweiterung aber auch Gefahren für die Handlungsmächtigkeit der Akteure und Akteurinnen in sich.

5 Grenzüberschreitende soziale Beziehungen als Herausforderung für die Soziale Arbeit

Vor diesem Hintergrund lassen sich die anfänglich dargelegten Beispiele analytisch genauer fassen und als Diskrepanzen zwischen den gelebten transnationalen, sozialen Beziehungen der Adressatinnen und Adressaten und dem in den Einrichtungen eingeschriebenen Nahbezug sozialer Beziehungen beschreiben.

Im ersten Beispiel verfügt die Jugendliche über wichtige soziale Beziehungen, die sich trotz geographischer Distanz nicht auflösen. Die Internetznutzung bringt ihren Wunsch nach und ihre Initiative zur Aufrechterhaltung dieser Beziehungen zum Ausdruck. Indem die Internetnutzung in der Einrichtung realisiert werden soll, wirken diese Beziehungen auf den konkreten Ort zurück, weil sie spezifische Anforderung an die Zeitregulierung der Internetnutzung stellen. Die Zeitregulierung der Einrichtung entspricht diesen Anforderungen nicht, weil sie soziale Beziehungen im Rahmen ungleicher Zeitzonen nicht berücksichtigt. Die Zeitregulierung der Einrichtung lässt sich als Ausdruck eines begrenzten Bezugs zur Lebenswelt der Adressatin deuten, der nicht nur durch die konfliktreiche Auseinandersetzung zwischen der Adressatin und den MitarbeiterInnen folgenreich ist. Auch Anforderungen, die an die Adressatin zur Aufrechterhaltung der Beziehungen gestellt werden, geraten wenig in den Blick ebenso wie die Bedeutung der Telefonate und der in diesen Beziehungen enthaltenen Ressourcen oder Begrenzungen der eigenen Lebensgestaltung und Lebensbewältigung.

Im zweiten Beispiel wird deutlich, dass sozialpädagogische Arbeitsbeziehungen sich im Rahmen von Transmigrationsprozessen und insbesondere im Kontext von Pendelmigration verändern können. Während bislang sozialpädagogische Arbeitsbeziehungen als eher linear bzw. kontinuierlich gedacht wurden, d. h. eine Nutzerin oder ein Nutzer einen sozialen Dienst aufsucht oder von diesem kontaktiert, eine Arbeitsbeziehung aufgebaut und mehr oder weniger kontinuierlich fortgesetzt wird, wird in diesem Fall das Arbeitsbündnis immer wieder unterbrochen, neu aufgenommen und verändert. Auf der Beziehungsebene bedeutet dies eine hohe Anforderung für die professionellen Beraterinnen und Berater, die in dem o. g. Beispiel zur Sprache kommt.

Das Beispiel aus dem Migrationsdienst macht aber auch deutlich, dass die rechtlichen und institutionellen Strukturen unter Bedingungen von Pendelmigration mühsam werden. Sozialpädagogische Fallarbeit hat zwar einen Anfang, aber nicht unbedingt ein Ende, weil nach Rückkehr in das Zielland bestimmte Dinge immer wieder aufs Neue geregelt werden müssen. Der Arbeitsprozess wird eher zu einem (nie endenden) zirkulären Prozess. Obwohl dies vor allem rechtlich bedingt ist, sind die Konsequenzen für die professionelle Arbeit weitgreifend und das Gefühl der Mitarbeiterin von Hilflosigkeit und Überforderung gekennzeichnet.

Das dritte Beispiel macht deutlich, dass die Adressatin einhergehend mit der Entwicklung transnationaler sozialer Beziehungen und Netzwerke auch ein Wissen aufgebaut hat, das ihr grenzüberschreitende Handlungsoptionen für ihre Betreuung im Alter eröffnet (vgl. Bender et al.2012b). Dieses Wissen ist nicht unmittelbar anschlussfähig an das der Einrichtung, die die Beratung im Rahmen nahräumlichen Wissens über Altenbetreuungen aufspannt. Die Diskurse der Altenhilfe über die Bedeutung nahräumlicher Betreuungsstrukturen, die in der Aufrechterhaltung und Kontinuität wichtiger Sozialbezüge ihre Begründung finden, stoßen in diesem Fall an ihre Grenzen und bedürfen der empirischen Überprüfung.

Schließlich zeigt sich am Phänomen der Rücküberweisungen, wie sich durch die Verwobenheit der unterschiedlichen Lebensverhältnisse, die Lebenslagen der Beteiligten neu justieren können und sie mit Problemen konfrontiert werden, die möglicherweise noch gar nicht in den Blick der Sozialen Arbeit geraten sind.

Letztendlich zeigen alle drei Beispiele, wie die aus transnationalen sozialen Beziehungen der Adressatinnen und Adressaten entstehenden Anforderungen und Optionen der Lebensgestaltung und Lebensbewältigung durch den eingeschriebenen Nahbezug sozialer Beziehungen wenig Anerkennung, sozialen Rückhalt und Unterstützung durch die Soziale Arbeit erfahren.

Diese Ungleichzeitigkeiten ließen sich an vielen weiteren Beispielen verdeutlichen. Insgesamt wird die Soziale Arbeit durch transnationale soziale Beziehungen in Theorie und Praxis auf vielfältige Weise herausgefordert. Soziale Arbeit bedarf der kritischen Überprüfung und Reflexion des in ihr eingeschriebenen Ortsbezugs sozialer Beziehungen und der Frage, wie dieser in ihren Alltag einfließt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die kritische Reflexion normativer Muster, denn der Ortsbezug sozialer Beziehungen ist verbunden mit Normalitätsvorstellungen, die ins Wanken geraten. Insbesondere erfordert es aber eine Sensibilisierung und Öffnung ihrer theoretischen Bezüge, Begrifflichkeiten und Forschungsperspektiven gegenüber sozialen Beziehungen, die grenzüberschreitend entwickelt und aufrechterhalten werden. Forschungsmethodisch impliziert dies auch die Reflexion „ortsgebundener“ Operationalisierungen im Forschungsdesign und die Öffnung in den transnationalen Raum.

Transnationale Soziale Beziehungen sind keineswegs mehr nur ein „Sonderfall“ und betreffen auch nicht mehr nur bestimmte Gruppen, wie bspw. die der Migrantinnen und Migranten, sondern weite Teile der Bevölkerung (vgl. Schröer und Schweppe2012). Es stellt sich somit nicht nur die Frage, wie die Soziale Arbeit ihre Wissensbestände, institutionellen Gestaltungsprozesse und professionellen Praktiken erweitern kann, um auf transnationale soziale Beziehungen reagieren, sondern möglicherweise auch die Herausforderung, wie sie grenzüberschreitende Sozialbezüge von Menschen fördern kann, damit sie die Anforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten zunehmend transnationalisierender Lebenswelten bewältigen können.