In seiner klassischen Studie „Folk Devils and Moral Panics“ charakterisiert Stanley Cohen das Phänomen der Moralpaniken als „a condition, episode, person or group of persons [who] become defined as a threat to societal values and interests“ (Cohen 2002, S. 1). Der massenmedialen Berichterstattung kommt nach Cohen bei der Konstitution, Verbreitung und Verallgegenwärtigung dieser auf Stereotypisierungen basierenden Klassifikation und der Wahrnehmung der so Klassifizierten als gesellschaftliche Bedrohung ein zentraler Stellenwert bei.

Die Veröffentlichung des Artikels „Voll Porno! Wenn Kinder nicht mehr lernen was Liebe ist“ des Journalisten Walter Wüllenweber im Boulevardmagazin STERN initiierte im Februar 2007 eine vorrangig massenmedial geführte Debatte über das sexuelle Verhalten der „neuen Unterschicht“. Kaum eine Zeitung, eine Zeitschrift oder ein Sender, der sich in den darauf folgenden Monaten nicht mit den tatsächlichen und vermeintlichen Praktiken der sexuellen Lebensführung von Angehörigen unterer sozialer Klassen beschäftigte. Der Tenor der massenmedial verbreiteten Problemdiagnose ist dabei auch gegenwärtig noch ebenso einhellig wie alarmierend: „Wir werden dem sexuellen Wahnsinn kaum noch Einhalt gebieten können. […] Vergewaltigung und Gewalt in der Sexualität werden eine immer größere Rolle spielen. Kleine Kinder werden Opfer ihrer größeren Brüder und Schwestern, weil diese einfach mal was ‚ausprobieren‘ wollen. Auch die Spielplätze sind nicht mehr sicher. Die Zahl der Geschlechtskrankheiten unter Jugendlichen wird steigen und es wird immer mehr Jugendliche geben, die sich mit HIV infizieren, Teenagerschwangerschaften und Abtreibungen werden zunehmen“ (Siggelkow u. Büscher 2008, S. 183 f, zit. nach Schmidt 2008, S. 26).

Das Bedrohungsszenario, das mit dieser nationalen „sexuelle Tragödie“ (Siggelkow u. Büscher 2008) verbunden ist, erlaubt – konform mit den ‚Anforderungen‘ von Moralpaniken im Sinne Cohens – eine klare Definition und Abgrenzung der „folk devils“ von den „moral entrepreneures“, der moralisch Verwerflichen von den moralisch Integeren, der Nicht(Mehr)Zugehörigen von den Zugehörigen, von „denen“ und „wir“ (vgl. zu diesen Unterscheidungen auch zuletzt: Feeley u. Simon 2007). Denn nicht die Gesamtheit der bundesrepublikanischen Jugend erscheint von der sexuellen Verwahrlosung bedroht, vielmehr seien es jene jungen Frauen und Männer aus den ohnehin bereits unterprivilegierten Schichten, die sich (auch) in sexueller Hinsicht durch Werte und Verhaltensweisen charakterisieren ließen, die außerhalb des normativ Akzeptablen stünden.

1 Zur Produktion der sexuell verwahrlosten Underclass: Die Komplizenschaft nominaler Klassifikationen

In dem Maße wie die Thematisierung sexueller Werte und Verhaltensweisen mit gesellschaftlich relevanten Bedrohungsszenarien ebenso verbunden wird, wie mit darauf aufbauenden sozialen und politischen Interventions- und Präventionsstrategien, erscheint zunächst einmal die grundlegende Einsicht zu berücksichtigen, dass diesen Strategien selbst bereits ein gesellschaftliches System von Klassifikationen zu Grunde liegt. Dieses Klassifikationssystem hat den Effekt, Zugangsmöglichkeiten von Akteuren und Gruppen zu materiellen, kulturellen und sozialen Gütern zu eröffnen oder zu verschließen. „So macht es“ – um auf die Formulierung von Sighard Neckel und Ferdinand Sutterlüty zurückzugreifen – „einen bedeutenden Unterschied, ob „Armut mit Klassifikationen verbunden wird, die Solidarität mobilisieren oder mit solchen die zum Anlass von Diffamierungen werden“ (Neckel u. Sutterlüty 2005, S. 410). Ein Beispiel für Ersteres wäre etwa die Miserabilität von Verhältnissen aufzuzeigen, für Letzteres, Arme als unmoralische Menschen zu beschreiben.

Genau diese letztgenannte Thematisierungsweise evoziert die Debatte um die „neue Unterschicht“, in die ich die gegenwärtig dominante Thematisierung sexueller Werte und Verhaltensweisen, den Diskurs um „sexuelle Verwahrlosung“ einordnen möchte. In moralisch-individualisierenden Zuschreibungen werden innerhalb des Diskurses um die „neue Unterschicht“ jegliche relationalen Analysen und redistributiven Ansätze zurückgewiesen. Stattdessen sind es die individuellen Werte und Verhaltensweisen der Betroffenen, die fokussiert werden. Diese hätten sie vorgeblich aufgrund ihrer Abhängigkeit von wohlfahrtstaatlichen Versorgungsleistungen erworben. Typisch für diese Perspektive ist es, Angehörige unterer sozialer Klassen als eine „Underclass“ zu verhandeln, welche weniger durch ihre sozial-ökonomische Position, als durch ihr moralisches Handeln und kulturelles Sein bestimmt wird (vgl. auch Heite et al. 2006: Klein et al. 2005).

Die Underclass – so lässt sich zusammenfassen – wird also im Wesentlichen gerade nicht durch ihre sozial-strukturelle Position in gesellschaftlichen Machtverhältnissen definiert, sondern durch Einstellungen und Verhaltensweisen, die sie und ihre Lebensweise ‚außerhalb der Gesellschaft‘ und des normativ Akzeptablen stellen. „Teenager, die schwanger werden, gehören zur „underclass“, Familien, denen eine junge Frau vorsteht, Schulversager, Leute, die Fürsorgeleistungen einkalkulieren, solche, die eine extreme Gegenwartsorientierung zeigen, jedoch keine Bereitschaft, Pflichten zu übernehmen, Bildungsaspirationen nachzugehen und zu arbeiten. Die Zurechnung zur „underclass“ erfolgt nach etwas, das man ein „soziales Profil“ nennen könnte“ (Cremer-Schäfer 2006, S. 55).

In dem Maße wie das „soziale Profil“ von (weiblichen) minderjährigen Mitgliedern der Underclass eine Neigung zur Promiskuität ebenso umfassen soll wie die Tendenz, uneheliche Kinder in die Welt zu setzen, die sie jedoch weder angemessen zu versorgen noch zu erziehen bereit seien, verbindet sich der Diskurs um eine „Kultur der Armut“ mit dem Diskurs um „sexuelle Verwahrlosung“. „ ,Feckless mothers‘ get pregnant to obtain state welfare; they raise children who will be the criminals of the future; absent fathers are present somewhere, unemployed and also living off the state. All this points to the same underclass culture that created the problem in the first place“ (Cohen 2002, xviii).

Ein zentrales Problem bei der Thematisierung sozialer Ungleichheitsverhältnisse unter dem Topos „Kultur der Armut“ liegt bereits darin, dass genau jene Verhältnisse, also die mehr oder weniger institutionalisierten ökonomischen, politischen und sozialen Prozesse, die über die Verweigerung von Ressourcen Ausschließung und Deprivation erzeugen, ausgeblendet bleiben, während ein als defizitär klassifizierter Sozialcharakter der Armen ins Zentrum rückt. Es sind gerade nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, die in dem Diskurs um eine „Kultur der Armut“ als das zu bearbeitende Problem angesehen werden, sondern die Armen, die in diesem Verhältnissen leben (müssen). Dementsprechend argumentiert etwa auch Helga Cremer-Schäfer, dass es sich bei dem Konstrukt der „Kultur der Armut“ um eine Denkfigur handle, „die die Bearbeitung sozialer Ausschließung als kollektives und individuelles Projekt entpolitisiert: Sie wird als eine Sache der Bildung, der Disziplinierung und der fürsorglichen Erziehung der armen Leute gedeutet und organisiert. Damit verbindet sich immer eine soziale Degradierung, die Zuschreibung eines Defizits der Person“ (Cremer-Schäfer 2005, S. 148).

Mit Blick auf die empirischen Befunde der dynamischen Armutsforschung sind diese unterstellten „Sozialhilfekarrieren“ äußerst fragwürdig. Empirisch lässt sich etwa die Vererbungen einer „Sozialhilfeabhängigkeit“ nicht nachweisen. Starke, kausale Zusammenhänge zwischen einer vorgeblichen ‚Wohlfahrtsabhängigkeit‘ der Herkunftsfamilie und dem Empfang von Wohlfahrtsleistungen der Kinder sind empirisch nicht zu finden (vgl. Goetze 1992; Ulrich 2003). Ein dauerhafter und generationenübergreifender Bezug sozialstaatlicher Transferleistungen ist vergleichsweise selten. Die Mobilität aus dem Bezug sozialer Hilfen heraus ist dagegen hoch. In der Analyse von SOEP-Daten zeigen Gebauer, Petschauer und Vobruba (2002), dass 59 % der Betroffenen nach einem, 78 % nach drei und 83 % nach fünf Jahren keine Hilfen mehr beziehen.

Somit lässt sich zunächst einmal festhalten, dass es Sinn macht, die Unterstellung einer „Kultur der Armut“ weniger als empirische Tatsache, sondern vielmehr als Ausdruck einer spezifischen Thematisierung sozialer Ungleichheitsverhältnisse zu betrachten. Eine Thematisierung, die auf der Basis nominaler Klassifikationen – als „qualitative Urteile der Andersartigkeit“ (Neckel u. Sutterlüty 2008, S. 19) – sowohl entpolitisierend als auch entsolidarisierend gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse verschleiert und in ihren tatsächlichen wie vermeintlichen Konsequenzen moralisiert und individualisiert. Bezeichnender Weise war es Ronald Reagan der zur Klassifizierung der personalisierten Einheit von weiblichen Angehörigen einer von der „Kultur der Abhängigkeit“ geprägten „Underclass“ und unehelichen Kindern als Ausdruck moralisch verwerflichen Sexualverhaltens den Begriff der „Welfare Queens“ geschaffen hat. In die sozialwissenschaftliche Diskussion über Armut, soziale Ungleichheit und staatlichen Transferleistungen wurde der Begriff von Charles Murray mit „Losing Ground“ eingeführt. Dabei werden jene Frauen als „welfare queens“ klassifiziert, bei denen sozialstaatlichen Transferleistungen einen sexuell ausschweifenden Lebensstil und die Entfernung von der ‚respektablen‘ Moral der Arbeiterklasse verursacht hätten (Murray 1984).

Doch es ist bei weitem nicht nur Murray, der auf eine robuste empirische Fundierung der entsprechenden Klassifikationen verzichtet hat. Eine empirisch gesättigte relationale Analyse zwischen sexueller Lebensführung und sozialer Position der Akteure steht auch in der aktuellen Debatte ebenso aus wie bislang darauf verzichtet wird, die generierten „sozialen Profile“ hinsichtlich ihrer distinktiven Nützlichkeit für andere gesellschaftliche Gruppen abzufragen. Im Mittelpunkt der gegenwärtigen Debatte um „sexuelle Verwahrlosung“ stehen in der Regel weder sozialinfrastrukturelle noch die möglichen Realisierungsprobleme der Lebensziele und -vorstellungen von Jugendlichen aus unteren sozialen Schichten, sondern die die prognostizierte Konsequenzen ihrer attestierten „Culture of Dependency“.

2 Facetten sexueller Verwahrlosung in der empirischen Prüfung

Die gegenwärtige Auseinandersetzung um die sexuelle Verwahrlosung von Angehörigen unterer sozialer Klassen bedient sich eines „vicious circle“, der folgendermaßen beschrieben werden kann: Die durch die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen erworbenen Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen evozierten eine spezifische sexuelle Lebensführung, die durch medialisierte Sexualisierung, sexuelle Verantwortungslosigkeit und mangelnde sexuelle Handlungsfähigkeit bestimmt sei und in Promiskuität und unzulänglicher Verhütung münde. Die damit verbundene Mutterschaft in jungen Jahren verstärke wiederum die (generationsübergreifende) Abhängigkeit von sozialstaatlichen Transferleistungen.

Dieses Teufelskreismodell liegt bei weitem nicht nur der medialen Berichterstattung zu Grunde. Auf sozialpolitischer Ebene findet sich dieses Argumentationsmuster etwa ebenso in den Programmbegründungen der von New Labour implementierten „Social Exclusion Units“ (SEU). „Teenage mothers are less likely to finish their education, less likely to find a good job, and more likely to end up both as single parents and bringing up their children in poverty. The children themselves run a much greater risk of poor health, and have a much higher chance of becoming teenage mothers themselves“ (SEU 1999, S. 4). Und auch in Deutschland etablieren sich zunehmend analoge Argumentationsmuster entsprechender „moral entrepreneurs“. So vermeldet etwa der Bundesverband der Frauenärzte in einer Pressemeldung des Jahres 2004, dass „Teenager-Müttern ohne Schulabschluss und Ausbildung […] meistens die Enttäuschung sozialer Ausgrenzung [droht]. Gefangen in der Armutsspirale jahrelanger Abhängigkeit von der Sozialhilfe drückt sich der Kindsvater vor der Verantwortung und macht sich nicht selten aus dem Staub.“ (Bundesverband der Frauenärzte: Pressemeldung 2004). Und auch auf der unmittelbaren Ebene der parlamentarischen EntscheidungsträgerInnen werden die so beschriebenen Entwicklungen von jugendlichen Schwangeren bereits als „dramatisch“ und „besorgniserregend“ eingeschätztFootnote 1.

Wenn es zum ‚Wesen‘ von Moralpaniken gehört, dass der empirische Gehalt eines klassifizierten Phänomens nur nachrangige Bedeutsamkeit besitzt, erscheint es unvermeintlich die zentrale Thesen in der gegenwärtigen Konstruktion einer „sexuell verwahrlosten Underclass“ mit vorhandenen empirischen Daten zu konfrontieren.

3 Historischer Höchststand von Teenagerschwangerschaften?

Die gegenwärtige Konstruktion von jungen Müttern als soziales Problem suggeriert zunächst einmal ganz grundlegend, dass es sich hierbei um ein soziales Phänomen handelt, das in seiner quantitativen Ausbreitung einen historischen Höchststand erreicht habe. Empirisch ist dies nicht zutreffend. Die vergleichenden Zahlen, die 2001 von der Unicef vorgelegt wurden, zeichnen länderübergreifend vielmehr hinsichtlich der Veränderungen in den letzten 30 Jahren ein entgegengesetztes Bild:

Abb. 1
figure 1

Länderüberblick im Zeitvergleich: Geburtenrate von Frauen zwischen 15 und 19 Jahren zwischen 1970 und 1998; Rate auf 1000 Frauen (Auswahl aus: Unicef 2001, 4; eigene Darstellung)

Für Deutschland lässt sich auf der Basis der Zahlen des statistischen Bundesamts darüber hinaus festhalten, dass im Jahr 2007 junge Frauen unter 18 Jahren insgesamt 5812 Kinder zur Welt gebracht haben. Eine Mutterschaft im Alter von 15 Jahren oder jünger entsprach im Jahr 2007 der Realität von 733 jungen Frauen (Statistisches Bundesamt 2009). Zwischen der quantitativen Verbreitung der Schwanger- und Elternschaft von Teenagern auf der einen Seite und der diskursiven Problematisierung derselben als „soziales Problem“ auf der anderen Seite besteht offenbar ein deutliches Ungleichgewicht. Unabhängig davon, dass die Zahlen von Teenagerschwangerschaften insgesamt rückläufig sind und die Elternschaft Minderjähriger in den 1960er Jahren dreimal und in den 1970er bis 80er Jahren doppelt so hoch war wie heute, werden in den gegenwärtigen Debatten vor allem minderjährige, alleinerziehende und wohlfahrtsleistungsempfangende Mütter zu einer Art Prototyp dessen, was die weiblichen Mitglieder der neuen „Underclass“ auszeichnen soll.

Problematisiert werden dabei jedoch nicht nur ihre sexuellen Praxen im Sinne einer Neuauflage der klassischen Kategorie „sexueller Verwahrlosung“, sondern diese repräsentieren nur einen Aspekt ihrer insgesamt als problematisch angesehenen Lebensführung: Die Verantwortungslosigkeit ihrer Handlungen, ihre mangelnde Investition in Schule, Ausbildung und Beruf sowie nicht zuletzt das generelle Versagen ihrer eigenen Eltern. Der Fokus auf die prognostizierte ‚Sozialhilfekarriere‘ richtet sich vorrangig darauf, dass diese Mütter nun nicht mehr in der Lage seien, ihre Existenz durch Lohnarbeit selbst zu sichern. Gleichzeitig wird damit implizit oder explizit auch der traditionelle Geschlechterstereotyp einer Vollzeit-Mutterschaft reproduziert, die eines solventen männlichen Ernährers bedarf. Wie Judi Kidger herausgestellt hat, sehen sich die jungen Frauen nicht nur den strukturellen Problemen ihrer Lebenssituation ausgesetzt, sondern auch einem weiteren – klassifizierenden – Dilemma: Entweder sehen sie sich der Bewertung ausgesetzt, schlechte Mütter zu sein, die nicht für ihre Kinder da sind oder sie gelten als schlechte, da nicht erwerbstätige Bürgerinnen, die keine bessere Position verdient hätten. „They face judgement either as ,bad‘ mothers who are not there for their children, or as,bad‘ [worker-]citizens who have not earned inclusion“ (Kidger 2004, S. 296). Dass das dieser Einschätzung mit zugrunde liegende konservative Ideal der Vollzeitmutter durchaus hegemonial ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass auch für die auf Wohlfahrtsleistungen verwiesenen Mütter die generelle Devise gilt, dass die beste Mutter, jene Mutter sei, die ganztägig für ihre Kinder da ist: „The full-time stay-at-home mother is still the best mother“ (West 2002, S. 15). Auf der Basis der Analysen von Laurel Parker West geht damit jedoch die Ironie einher, dass etwa (verheiratete) Mittelschichtsmütter dafür gelobt werden, zuhause bei ihren Kindern zu bleiben, während die Frauen aus den unteren sozialen Klassen genau damit kritisiert werden, dass sie den ganzen Tag zu Hause sitzen würden. „Middle class and wealthier Soccer Moms are praised for ‚staying home‘ welfare mothers are severely criticized for ,sitting home all day‘ “ (West 2002, S. 15).

4 Überproportional hohe Geburtenrate in der „Unterclass“?

Eine weitere Kernthese der Debatte lautet, dass bei Frauen aus der „Underclass“, den Sozialhilfeempfängerinnen, denjenigen ohne Ausbildung, den auf Wohlfahrtsleistungen verwiesenen Schichten der Gesellschaft, die Geburtenrate überproportional hoch sei. Auch hier ergibt sich etwa mit Blick auf die empirischen Daten des Mikrozensus ein gänzlich anderes Bild: Knapp die Hälfte der Frauen, die über das geringste Haushaltsnettoeinkommen verfügen, bekommen gar keine Kinder. Und auch in der zweitärmsten Gruppe bleiben noch 39 Prozent ohne Kinder (Stutzer u. Hin 2005). Anders formuliert heißt das, dass keine anderen Einkommensgruppen häufiger kinderlos bleiben, als diejenigen am untersten Ende der Einkommensskala. Die Gruppen, die in der Bundesrepublik am seltensten kinderlos bleiben, sind folglich nicht die Angehörigen der ‚Underclass‘, sondern – nimmt man Berufsgruppen als Indikator – jene Frauen, die konventionell der Arbeiter- und unteren Mittelklasse zuzuordnen und in aller Regel mit ebensolchen Männern verheiratet sind (Rösler u. Bertram 2005). Damit lässt sich zwar durchaus sagen, dass die Wahrscheinlichkeit – auch zur frühen – Mutterschaft zwar durchaus klassen- aber eben nicht ‚underclass‘-spezifisch ist. Im Anschluss an Heinz-Günter Micheel (2003) kann vielmehr argumentiert werden, dass nicht nur die Tatsache das, sondern auch der Zeitpunkt zu dem sich Frauen dafür entscheiden Mütter zu werden, weniger durch distinkte (Sub)Kultur- und Wertorientierungen als vielmehr durch eine – relational zu ihrer Lebens- bzw. Klassensituation – rationale Orientierung beeinflusst wird.

5 Promiskuität und schlampige Verhütung?

Ein weiteres Argument in der Debatte um die vermeintliche sexuelle Verwahrlosung der Underclass richtet sich auf deren distinkte Werte und Verhaltensweisen in der sexuellen Lebensführung selbst. Hier lautet die zentrale These, dass schon die Heranwachsenden in ihren sehr frühen sexuellen Erfahrungen ein zunehmend instrumentelles Verhältnis zur Sexualität und zu ihren PartnerInnen entwickeln und bei diesen Jugendlichen eine egoistische Bedürfnisbefriedigung sexuelle Beziehungen, die auf Liebe und Treue basieren, abgelöst hättenFootnote 2.

Empirisch zeigt sich dagegen das romantische Liebesideal, das Ende des 18. Jahrhunderts seinen Siegeszug als allgemein gültige Norm angetreten hat, auch die sexuelle Praxis Jugendlicher einschließt. Eine Vielzahl empirischer Studien zeigt, dass die exklusive Bindung von sexuellen Erfahrungen an ein Liebesarrangement bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht nur den Status eines Ideals besitzt, sondern mehrheitlich versucht wird, seine Realisierung zu leben. Während in den 1970er Jahren im Zuge der gesellschaftspolitischen Transformationen die enge Bindung von Liebe, fester Partnerschaft und Sexualität hinterfragt wurde und sexuelle Exklusivität zumindest zeitweise an Relevanz verlor, sind es insbesondere die Zeitreihenuntersuchungen der Forschungsgruppe um Gunter Schmidt die belegen, dass die Bedeutung sexueller Treue seitdem – klassen- und geschlechtsübergreifend – kontinuierlich gestiegen ist (Schmidt et al. 1993). Mit dem Begriff der sukzessiven Monogamie (Dannenbeck u. Stich 2002) wird in diesem Zusammenhang jenes – ebenfalls klassen- und geschlechtsübergreifende – Phänomen bezeichnet, wonach von der deutlichen Mehrheit aller Jugendlichen das Experimentieren mit sexuellen Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen Konstellationen (wenn überhaupt) als eine vorübergehende Praxis mit geringerer Legitimität erlebt wird. Und gerade auch mit Blick auf jene Jugendliche, die bereits früh ihre ersten sexuellen Erfahrungen zeigen die Auswertungen des Potsdamer DFG-Projekt zur Jugendsexualität, dass sich diese Gruppe weder hinsichtlich ihrer Präferenz für eine sexuell monogame Beziehung noch hinsichtlich der Bedeutung, die sie sexueller Treue beimessen von denjenigen unterscheiden, die ihre sexuellen Erfahrungen in einem als „passender“ klassifizierten Alter machen. Auch ein ‚lockereres‘ Verhältnis im Umgang mit sexueller Treue lässt für diese Gruppe nicht feststellen (vgl. ausführlich: Klein in Druck). Wird die Anzahl ihrer Beziehungen berücksichtigt, erweist sich diese Gruppe als ebenso treu bzw. untreu, wie diejenigen, die später sexuell aktiv wurden. Dieser Befund erweist sich darüber hinaus als anschlussfähig an jene Ergebnisse, die aus einem aktuellen Forschungsprojekt zu jugendlichen Schwangeren hervorgegangen sind. Auch für diese Gruppe finden sich empirisch keine Hinweise darauf, dass sie etwa „zu einem für heutige Jugendliche ungewöhnlich hohen Partnerwechsel neigen“ würden (Thoß et al. 2006, S. 28).

Schließlich belegen jene empirischen Studien ebenfalls, dass sich auch das Verhütungsverhalten in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert hat. So machen etwa die aktuellen Repräsentativdaten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung deutlich, dass 95 Prozent der sexuell erfahrenen Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren bei ihrem letzten Geschlechtsverkehr mit zuverlässigen Mitteln verhütet haben (BzgA 2006). Und auch in der differenzierteren Betrachtung des Verhütungsverhaltens ergeben sich keine nachweisbaren Unterschiede zwischen Hauptschülerinnen und Gymnasiastinnen (BzgA 2006, vgl. auch Thoß et al. 2006). Darüber hinaus zeigen die Hamburger, dass weniger das Alter beim ersten Mal, als vielmehr die Qualität sexueller Kommunikations- und Interaktionskompetenzen die Wahrscheinlichkeit unsicherer Verhütung und Schwangerschaften im Jugendalter beeinflussen (Schmidt et al. 2006b, S. 356). Mit Blick auf den in dieser Studie ebenfalls nachgewiesenen Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und der Wahrscheinlichkeit von Teenagerschwangerschaften gelangten die AutorInnen außerdem zu dem Ergebnis, dass auch bei Mädchen aus unteren sozialen Schichten eine Schwangerschaft vor dem 18. Lebensjahr ein sehr seltenes Ereignis ist und stereotypisierende Schlussfolgerungen wie eine proklamierte sexuelle Verwahrlosung damit empirisch nicht zu belegen sind. „Insgesamt sind die Unterschiede im Sexualverhalten junger Frauen verschiedener Bildungsschichten, soweit Daten darüber vorliegen, heute sehr gering. […] Teenager-Schwangerschaften sind, statistisch gesehen ein sehr seltenes Ereignis […] Es genügen offenbar schon geringe Unterschiede im Sexualverhalten von Teilpopulationen, um deutliche Differenzen im Hinblick auf statistisch „seltene Ereignisse“ zu erzeugen. […] Dieser Befund verbietet generalisierende Äußerungen über die betroffenen Teilpopulationen, also etwa in dem Sinne, dass ‚die‘ Hauptschülerinnen besonders früh anfangen oder besonders sorglos verhüten“ (Schmidt et al 2006, S. 344). Wohl aber zeigt sich, dass die Prävention von Teenagerschwangerschaften voraussetzt, die sozialen Chancen und Perspektiven unterprivilegierter Mädchen (und Jungen) zu erhöhen (Schmidt et al. 2006b; Matthiesen 2008; zur Debatte in den USA und Großbritannien: Duncan 2007; Selman 2003).

6 Arm durch Teenagerschwangerschaft?

Diese Einsicht erweist sich nicht zu letzt gerade auch mit Blick auf jenes Argument als bedeutsam, das als These der Armutsspirale den gegenwärtigen Diskurs um die sexuelle Verwahrlosung maßgeblich prägt. Auch diese These, die eine kausale Verschlechterung der materiellen Lebenslage durch eine frühe Schwangerschaft postuliert, erweist sich empirisch als zweifelhaft. Internationale Studien zeigen vielmehr, dass – die Berücksichtigung der Klassensituation der Frauen vor der Schwangerschaft vorausgesetzt – das Alter bei der Mutterschaft selbst keinen oder nur einen marginalen eigenständigen Einfluss auf die soziale und finanzielle Situation der Frauen bzw. Familien in späteren Lebensjahren hat. Der von Saul Hoffman (1998) auf der Basis eines umfassenden Reviews US-amerikanischer Studien attestierte „zero effect“ wurde mittlerweile auch von einer Vielzahl anderer empirischer Analysen reproduziert (Ermisch u. Pevalin 2003; Robson u. Berthoud 2003; Hawkes 2004, vgl. zum Überblick: Rhode u. Lawson 1995; Duncan 2007). Mit Blick auf den Bezug wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zeigt etwa auch Melissa Cox (2003) in ihren statistischen Analysen, dass die Angewiesenheit auf solche Leistungen auch unter jungen Müttern nicht die Folge distinkter (sub-)kultureller Orientierungen ist, sondern vorrangig die Konsequenz struktureller Barrieren innerhalb des Erwerbssystems und der Kinderbetreuung darstellt. Darüber hinaus machen qualitative Untersuchungen deutlich, dass ein positives Erleben der Erfahrungen die mit Mutterschaft verbunden sein können, keinesfalls auf jene Frauen beschränkt bleibt, die in jenem Zeitraum Mutter werden, der gesellschaftlich als angemessen betrachtet wird. „Age at which pregnancy occurs seems to have little effects on future outcomes, and many young mothers express positive attitudes to motherhood, and describe how motherhood has made them feel stronger, more competent, more connected and more responsible“ (Duncan 2007, S. 308).

7 Die Wiederentdeckung der Moralpanik

Insgesamt zeigen sämtliche empirischen Studien, dass sich hinsichtlich der kulturellen Einschätzungen, Bewertungen und Anerkennungsformen von Fragen der Sexualität im Allgemeinen wie der Mutterschaft im besonderen zwischen der so genannten „Underclass“ und dem so genannten ‚Mainstream‘ kaum substanzielle Unterschiede finden. Schon gar nicht solche, die es erlauben würden, von einer Kultur der „Welfare Queens“ oder von „sexueller Verwahrlosung“ zu sprechen (vgl. hierzu auch: Dean u. Tayler-Gooby 1992; Duncan 2007; Kaplan 1997; Klein et al. 2007; Luker 1996; Schmidt 2008). Auch bei jungen Müttern resultiert die Angewiesenheit auf staatliche Transferleistungen vor allem aus erheblich eingeschränkten Lebenslagen durch relative Armut und nicht aus devianten sexuellen Verhaltensweisen und/oder Werten. Das Problem ist weder Schwanger- noch Mutterschaft in jungen Jahren, sondern das Problem sind die materiellen, infrastrukturellen und kulturellen Beschränkungen, denen diese Frauen sowohl vor als auch nach ihrer Schwangerschaft ausgesetzt sind (vgl. hierzu auch: Phoenix 1991; Rhode u. Lawson 1995; Duncan 2007). Bereits 1995 haben Deborah Rhode und Annette Lawson die zentralen Probleme und Widersprüche bei der Thematisierung von (Jugend)Sexualität und sozialer Benachteiligung, folgendermaßen zusammengefasst: „Too much blame has been placed at the individual level, on teenagers who ‚want too much too soon‘ in sexual relationships. Inadequate attention has focused on the societal level, on the institutions that offer ‚too little too late‘ – too little birth control and prenatal assistance, too little reason to complete school, and too few opportunities for childcare and meaningful employment“ (Rhode u. Lawson 1995). Diese Einschätzung erweist im Hinblick auf die einseitigen – und gleichermaßen moralisierenden wie stigmatisierenden – Aufmerksamkeits- und Klassifizierungspraktiken, wie sie in der gegenwärtigen Debatte um sexuelle Verwahrlosung hervor gebracht werden, als ebenso gültig, wie sich die nunmehr dreißig Jahre alte Prognose Stanley Cohens mit Blick auf die Erzeugung neuer Moralpaniken bewahrheitet hat. „More moral panics will be generated and other, as yet nameless, folk devils will be created. This is not because such developments have an inexorable inner logic, but because our society as present structured will continue to generate problems for some if its members – like working-class adolescents – and then condemn whatever solution these groups find.“ (Cohen 2002).