1 Einleitung

Dieser Beitrag thematisiert die Rolle von Überzeugungen („beliefs“) in der Außenpolitik. Überzeugungen gelten als „mentale Schablonen“, durch welche Entscheidungsträger die Welt sehen. Die hierauf aufbauende Annahme lautet, dass die selektiven, sich aus den Überzeugungen ergebenden Wahrnehmungen praktische Konsequenzen für die von den Entscheidungsträgern verfolgte Politik haben. Dies soll deshalb der Fall sein, weil bestimmte Überzeugungen auch bestimmte Strategien, Handlungsoptionen, etc. nahe legen und zugleich andere Strategien, Handlungsoptionen, etc. ausschließen.

Um die außenpolitischen Überzeugungen von politischen Entscheidungsträgern analytisch fassbar zu machen, nutzt der Beitrag den Ansatz des „Operational Code“.Footnote 1 Dieser gibt Aufschluss sowohl über die grundlegende Weltsicht eines Akteurs (philosophische Überzeugungen) als auch über die Auswahl von politischen Zielen sowie den Instrumenten, die für die Zielerreichung als erforderlich angesehen werden (instrumentelle Überzeugungen). Der Ansatz zieht somit eine explizite Verbindung zwischen den Überzeugungen von Akteuren und deren Handeln. Die grundlegende kausale Annahme des Operational Code-Ansatzes lautet entsprechend, dass „a subject’s Operational Code has an effect on the state’s policy actions“ (Schafer und Walker 2006b, S. 45).Footnote 2

Mit Blick auf die deutsche Afghanistanpolitik verfolgt dieser Beitrag folgende drei Ziele. Erstens identifiziert der Beitrag den Operational Code von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zu Afghanistan. Damit verbunden untersucht der Beitrag, zweitens, ob sich der Operational Code von Kanzlerin Merkel seit ihrem Amtsantritt im November 2005 verändert hat. Drittens fragt der Beitrag, ob sich die aus den außenpolitischen Überzeugungen von Kanzlerin Merkel abzuleitenden Erwartungen für ihr Handeln mit der von ihr und ihren Regierungen verfolgten Politik deckt.

Mit der Analyse von außenpolischen Überzeugungen eines einzelnen Entscheidungsträgers geht der Beitrag eine Lücke im politikwissenschaftlichen Schrifttum zur deutschen Außenpolitik an. In der theoriegeleiteten Außenpolitikanalyse wird der Einfluss von Überzeugungen bzw. allgemein von nichtmateriellen Faktoren auf die deutsche Außenpolitik zwar ausführlich diskutiert. Dies geschieht jedoch vornehmlich aus einer strukturellen Perspektive, im Sinne des Einflusses von nichtmateriellen Faktoren auf die Außenpolitik „Deutschlands“, und nicht mit Blick auf einzelne Entscheidungsträger. Prominente Beispiele hierfür sind Beiträge zur „Zivilmacht Deutschland“ (u. a. Harnisch und Maull 2001)Footnote 3 oder zur strategischen Kultur des Landes (Longhurst 2004; Dalgaard-Nielsen 2006). Diese Ansätze gehen von einer uniformen Wirkung nichtmaterieller Faktoren auf die politischen Entscheidungsträger aus. Schließlich würde es analytisch auch wenig Sinn machen, bestimmte Rollenverständnisse bzw. den Einfluss der strategischen Kultur eines Landes von politischem Akteur zu politischem Akteur stets neu zu definieren bzw. festzulegen. Geschähe dies, würden Rollenbilder und strategische Kultur zu intervenierenden Variablen herabgestuft, die zwischen einer anderen – und zwar der eigentlichen erklärenden/unabhängigen – Variable und dem außenpolitischen Verhalten Deutschlands als zu erklärender/abhängiger Variable stünden. Die Konsequenz dessen ist, dass die genannten Ansätze in der Regel einzelne Entscheidungsträger und deren individuelle Besonderheiten und Eigenheiten aus dem Blick verlieren.Footnote 4 Ein solcher vorherrschender Fokus auf strukturelle Erklärungen findet sich auch im theoriegeleiteten Schrifttum zur deutschen Afghanistanpolitik (z. B. Gross 2007).

Der Rest des Beitrags gliedert sich wie folgt.Footnote 5 Als nächstes wird mit dem Operational Code-Ansatz der Analyserahmen dargestellt. Es folgt die Identifizierung des Operational Code von Kanzlerin Merkel mit Blick auf Afghanistan. Aus den Inhalten von Merkels Operational Code sowie etwaigen Veränderungen in diesem lassen sich Erwartungen für Merkels Afghanistanpolitik ableiten, die im folgenden Abschnitt mit der deutschen Afghanistanpolitik abgeglichen werden. Der Beitrag zeigt, dass sich seit dem zweiten Halbjahr 2008, und vor allem seit dem Jahr 2010, deutliche Veränderungen in Kanzlerin Merkels Operational Code ergeben haben. Diese sind als „Verschlechterungen“ zu sehen, verstanden u. a. als eine zunehmend pessimistische und negative Einschätzung der Entwicklungen in Afghanistan wie auch der eigenen Erfolgsaussichten. Unverändert bleibt allerdings die Betonung sowohl der Solidarität Deutschlands mit seinen Partnerstaaten wie auch der Notwendigkeit des Erfolgs der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan. Hieraus lässt sich die Erwartung einer zunehmenden Intensivierung des deutschen Engagements in Afghanistan ableiten. Diese Erwartung deckt sich mit der in den letzten Jahren zu beobachtenden „Eskalation“Footnote 6 der deutschen Afghanistanpolitik. Der Beitrag schließt mit einer Analyse der Ergebnisse und gibt Anregungen für die künftige Forschung.

2 Der Operational Code-Ansatz

Der Ansatz des Operational Code wurde bereits in den 1950er Jahren Leites (1951, 1953) entwickelt. Das Interesse von Leites galt den persönlichen Überzeugungen der Mitglieder des sowjetischen Politbüros und deren Auswirkungen auf die außenpolitischen Entscheidungen der Sowjetunion. Das Ziel war „to discover the rules which Bolsheviks believe to be necessary for effective political conduct“ (Leites 1951, S. xi). Auf dieser Grundlage sollten bessere Vorhersagen über das Verhalten des Politbüros möglich werden. Das Problem des Ansatzes bestand jedoch darin, dass Leites eine Vielzahl von Dimensionen darunter erfasste. In The Operational Code of the Politburo von 1951 führte Leites insgesamt 20 verschiedene Aspekte auf, die ein – obendrein nicht näher definierterFootnote 7 – Operational Code beinhaltet. Hinzu kam die spätere Einbettung des Operational Code-Ansatzes in einen übergeordneten sozio-psychologischen Ansatz zur historischen Herleitung und Bedeutung des Bolschewismus (Leites 1953). Die Folge dieser konzeptionellen Unklarheiten und Erweiterungen war, dass der Operational Code-Ansatz für empirische Studien weitgehend unbrauchbar wurde.

Zu einer Systematisierung des Ansatzes kam es durch George (1969). Der Ausgangspunkt von George war, dass die Bezeichnung Operational Code irreführend sei, da sie fälschlicherweise ein bestimmtes Bündel von Handlungsmöglichkeiten suggeriere, welche Akteure im Entscheidungsprozess mechanisch anwenden würden. Operational Codes verweisen laut George vielmehr auf

a set of general beliefs about fundamental issues of history and central questions of politics as these bear, in turn, on the problem of action. [¼] They serve [¼] as a prism that influences the actor’s perceptions and diagnoses of the flow of political events, his definitions and estimates of particular situations. These beliefs also provide norms, standards, and guidelines that influence the actor’s choice of strategy and tactics, his structuring and weighing of alternative courses of action. (George 1969, S. 191)

Vor diesem Hintergrund identifizierte George die kognitiven Elemente von Leites Operational Code-Ansatz. Er subsumierte diese Elemente unter zehn Fragen (s. Abb. 1), die er unter zwei Oberkategorien gruppierte. Diese Kategorien lauten „philosophische Überzeugungen“ und „instrumentelle Überzeugungen“ (George 1969, S. 201–216). Philosophische Überzeugungen beziehen sich auf grundlegende Annahmen und Prämissen über die Natur von Politik und politischen Konflikten sowie auf die Rolle von Individuen in der Geschichte. Sie thematisieren also die oben angeführten „Wahrnehmungen“ und „Diagnosen“. Instrumentelle Überzeugungen verweisen wiederum auf den Zusammenhang von Zielen und Mitteln im Kontext von politischen Handlungen. Sie beziehen sich demnach auf die oben angeführten „Normen“, „Standards“ und „Richtlinien“. Während philosophische Überzeugungen somit bei der Einschätzung einer Situation helfen, beeinflussen instrumentelle Überzeugungen die Auswahl von als angemessen erachteten Antworten auf die Situation.

Abb. 1
figure 1

Philosophische und instrumentelle Überzeugungen beim Operational Code-Ansatz. (Quelle: Eigene Darstellung basierend auf George 1969)

Auch wenn Überzeugungen die Situationswahrnehmungen und -bewertungen von Akteuren wie auch ihre Auswahl von Handlungsoptionen beeinflussen, legen sie das Entscheidungsverhalten der Akteure nicht unweigerlich fest. Sie bilden vielmehr einen Rahmen, innerhalb dessen Akteure ihre Entscheidungen treffen:

Of a general rather than a specific character, these beliefs concern fundamental issues of politics, history, and political action; they provide the basic framework within which the actor approaches the task of attempting to process available information and to engage in rational calculation in pursuit of his values and interests. (George 1979, S. 101)

Für den Einfluss von Überzeugungen auf Entscheidungsprozesse und Entscheidungen gelten deshalb die folgenden beiden Punkte (George 1979, S. 101–104). Erstens wirken Überzeugungen auf die Entscheidungsfindung von Akteuren auf indirekte Weise ein, indem sie die mit der Entscheidungsfindung einhergehende Informationsverarbeitung der Akteure beeinflussen. Überzeugungen dienen somit als „heuristical aids to decision“ (George 1979, S. 103). Zweitens sind es nicht ausschließlich Überzeugungen, welche die Handlungen und Entscheidungen von Akteuren bestimmen. Überzeugungen sind vielmehr „an important, but not the only, variable that shapes decision-making behavior“ (George 1969, S. 191).

Trotz dieser beiden Eingrenzungen gehen Vertreter des Ansatzes davon aus, dass Operational Codes – gerade wegen ihres grundlegenden Charakters – nennenswerten Einfluss auf die Entscheidungen von politischen Akteuren haben:

The elements that constitute this construct [Operational Code] are of such a fundamental nature that, though not necessarily bounding thequo behavior of the leader and those with whom the leader interacts, they nonetheless affect the relative likelihood that a specific type of action will occur. (Crichlow 1998, S. 689)

Hieran anknüpfend lassen sich mehrere Kontexte bestimmen, in denen der Einfluss von Überzeugungen auf Entscheidungen am größten sein sollte. Laut Holsti (1976, S. 30) gilt dies bei neuartigen Entscheidungssituationen, bei langfristigen Planungsentscheidungen, bei Entscheidungen in komplexen bzw. uneindeutigen Situationen, bei Entscheidungen unter Stress oder bei Entscheidungen, die von Spitzenvertretern ihrer jeweiligen Institution getroffen werden. Für Operational Code-Analysen, die den Einfluss von Überzeugungen auf Entscheidungen nachzeichnen wollen, ergibt sich aus dem Gesagten fast zwangsläufig der Fokus auf politische Spitzenkräfte, da diese am ehesten mit den angeführten (Krisen-)Situationen konfrontiert werden und zudem aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung im politischen System eine gewisse Unabhängigkeit in ihren Entscheidungen haben:

The sum of the [¼] conditions under which beliefs are most likely to influence behavior indicate that the proper focus of study is ‚top figures‘ in international politics. These ‚elites‘ are most likely to be engaged in the type of tasks specified as most affected by beliefs, and to occupy the positions in relation to the environment with most scope for the impact of individual actions and differences. (Dyson 2001, S. 331; eigene Hervorhebung)

Walker et al. (1999) gehen noch einen Schritt weiter und verweisen darauf, dass Überzeugungen bzw. „kognitive Vorurteile“ (cognitive bias) auch in Situationen, in denen äußere Einflüsse gering sind, wesentlichen Einfluss auf Entscheidungsträger haben. Dies sei deshalb der Fall, weil Überzeugungen „comfortable anchors for decision making“ (Walker et al. 1999, S. 612) darstellten und zudem Ausdruck von sozialen Identitäten wie auch von persönlichen Eigenarten und Eigenheiten von Akteuren seien.

Die aktuelle Forschung zum Operational Code-Ansatz weist mehrere offene methodische Fragen auf (s. Schafer 2000). Diese beziehen sich unter anderem auf die Stabilität, die „Reichweite“, die angemessenen Quellen zur Herleitung sowie ganz grundsätzlich auf den passenden methodischen Zugang zur Identifizierung von Operational Codes. In der frühen Forschung zu Operational Codes wurden Überzeugungen als weitgehend stabil angesehen. Als unabänderlich galten sie jedoch von Anfang an nicht. So wies bereits George (1969, S. 219–220) darauf hin, dass sich Überzeugungen beispielsweise infolge von weitreichenden historischen Entwicklungen verändern können.Footnote 8 Diese Möglichkeit zur Veränderung von Überzeugungen hat sich in den letzten Jahren als die vorherrschende Sichtweise etabliert. Walker et al. (1998, S. 176) bezeichnen die Operational Codes von Akteuren als „a set of alternative ‚states of mind‘“, was Möglichkeiten für Veränderungen von Überzeugungen, etwa durch Lernen, ausdrücklich einschließt. Philosophische und instrumentelle Überzeugungen scheinen allerdings unterschiedlich „offen“ für Änderungen zu sein. Die Ergebnisse von mehreren empirischen Studien deuten darauf hin, dass philosophische Überzeugungen sich eher bzw. leichter verändern, wohingegen sich instrumentelle Überzeugungen als weitgehend stabil erweisen (Renshon 2008, S. 827). Dieser Beitrag greift die Frage der Stabilität auf, indem untersucht wird, ob sich Veränderungen im Operational Code von Angela Merkel aufzeigen lassen.

Die Frage nach der „Reichweite“ von Operational Codes beinhaltet, ob jeder Akteur über einen generalisierten Operational Code verfügt, der „von oben“ („top down“) auf einzelne Themenbereiche angewandt wird. Die in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewinnende Alternative hierzu ist eine Perspektive „von unten“ („bottom up“), die von gezielteren, themenbereichsspezifischen Operational Codes ausgeht (Walker und Schafer 2000, S. 535; auch Walker et al. 1998). In diesem Fall wäre der generalisierte Operational Code eines Akteurs die Zusammenführung der einzelnen themenbezogenen Operational Codes. In Einklang mit der aktuellen Diskussion wählt dieser Beitrag die „Bottom up-Perspektive“. Er geht somit von themenbereichsspezifischen Operational Codes – in diesem Fall von Kanzlerin Merkel mit Blick auf Afghanistan – aus. Dieser Zugang spiegelt sich in der nachfolgend zu schildernden Auswahl der zu analysierenden Quellen wider.

Mit Blick auf die für die Identifizierung von Operational Codes angemessenen Quellen stellt sich die Frage, ob hierfür öffentliche oder vertrauliche SprechakteFootnote 9 herangezogen werden sollen.Footnote 10 Während erstere zum Beispiel öffentliche Reden, Interviews und Presskonferenzen umfassen, beinhalten letztere u. a. Tagebucheinträge oder vertrauliche Gespräche mit Beratern. Das Argument gegen die Verwendung von öffentlichen Sprechakten ist, dass Entscheidungsträger diese ganz bewusst nutzen, um Zuhörer beispielsweise zu überzeugen oder gar zu täuschen (Tetlock und Manstead 1985). Zudem würden öffentliche Sprechakte häufig von Redenschreibern vorgefertigt. Auf einer solchen Grundlage könnten die Überzeugungen der Akteure nicht korrekt abgeleitet werden.

Demgegenüber lautet das – von maßgeblichen Vertretern des Operational Code-Ansatzes vorgebrachte – Argument für die Nutzung von öffentlichen Sprechakten, dass „a leader’s public behavior is constrained by his public image and that, over time, his public actions will consistently match his public beliefs“ (Walker et al. 2005, S. 223). Dies sei deshalb der Fall, weil Akteure Entscheidungen auf der Grundlage ihrer Überzeugungen träfen und weil zugleich andere Personen von ihnen erwarteten, dass sie sich in sozialen Situationen so verhielten (Walker et al. 2005, S. 224). Zugleich wird die Gefahr der Verzerrung von Inhalten durch den Einfluss von Redenschreibern als gering erachtet (Crichlow 1998, S. 690). Die Aufgabe von Redenschreibern bestünde schließlich darin, es ihren Auftraggebern zu ermöglichen, ihre Position bestmöglich zu vermitteln. Weiterhin würden Redner in der Regel kontrollieren, inwieweit sich ihre Überzeugungen in einem Text wiederfinden und diesen entsprechend anpassen. Als Folge sollten „a leader’s basic propensities [¼] be apparent in the general patterns that run through the text of policy statements regardless of whether the leader actually writes it“ (Crichlow 1998, S. 690).

Dieser Beitrag nutzt ausschließlich öffentliche Sprechakte von Kanzlerin Merkel. Vertrauliche Dokumente, wie etwa Kabinettsprotokolle, sind derzeit schlichtweg nicht verfügbar. Auch wenn solche Dokumente zu bevorzugen wären, sollten sich, wie angeführt, auch aus öffentlichen Sprechakten valide Aussagen zu den Operational Codes von politischen Akteuren treffen lassen. Der in diesem Beitrag analysierte Textkorpus speist sich aus Reden von Kanzlerin Merkel, die in dem vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung herausgegebenen Bulletin der Bundesregierung bis Ende März 2011 veröffentlicht wurden. Es gibt allerdings nur wenige Reden, in denen sich die Kanzlerin ausschließlich mit Afghanistan beschäftigte. So finden sich lediglich drei Reden, die das Wort „Afghanistan“ bereits im Titel führen. Zur Erweiterung der Quellenbasis wurden deshalb sämtliche Reden ausgewertet, in denen Merkel Afghanistan ausführlicher thematisierte. Auf diese Weise wurden insgesamt 19 Reden identifiziert und ausgewertet.Footnote 11

Die letzte, ganz grundsätzliche Frage bezieht sich darauf, welcher methodische Zugang am besten geeignet ist, um die Überzeugungen von Akteuren zu erfassen. Im Schrifttum zum Operational Code-Ansatz findet sich hierzu keine einheitliche Antwort. George (1969, S. 221) verwies darauf, dass die Methodenfrage „in an eclectic and pragmatic spirit“ angegangen werden sollte. An diese „Vorgabe“ haben sich die mit dem Operational Code-Ansatz arbeitenden Forscher bis heute gehalten. Lange Zeit gab es fast ausschließlich qualitative Studien (z. B. Leites 1951, 1953; Holsti 1970; Walker 1977; George 1979; Harnisch 2000; Dyson 2001). In jüngerer Zeit traten vermehrt quantitative Studien in den Vordergrund (u. a. Feng 2005; Malici 2006; Renshon 2009), die in den meisten Fällen das Verbs in Context System (VICS) nutzen.Footnote 12

Dieser Beitrag wählt ein qualitatives Vorgehen. Um den Einfluss der Operational Codes von Kanzlerin Merkel (als unabhängige Variable) auf ihre Afghanistanpolitik (als abhängige Variable) zu bewerten, wird die Kongruenz-Methode angewandt (George und Bennett 2005, S. 181–204). Hierbei wird zunächst der Operational Code von Merkel identifiziert. Auf der Grundlage des Operational Codes werden deduktiv Erwartungen für die deutsche Afghanistanpolitik abgeleitet. Diese werden abschließend mit der Afghanistanpolitik von Merkel verglichen. Stünden die Entscheidungen in Einklang mit dem Operational Code, bestärkte dies die Vermutung, dass Überzeugungen einen kausalen Einfluss auf die Entscheidungen von Kanzlerin Merkel hatten.Footnote 13

3 Der Operational Code von Angela Merkel

Für die Dimensionen P-4, P-5 und I-4 fand sich kaum Material, weshalb sie nachfolgend nicht berücksichtigt werden.

3.1 Philosophische Überzeugungen

Mit Blick auf die „essentielle Natur des politischen Lebens“ (P-1) und die damit verbundene Harmonie, oder aber auch Konfliktträchtigkeit, der Politik verweist Kanzlerin Merkel auf „fundamentale Veränderungen unserer Sicherheitslage“ (Bulletin 2006c) sowie auf eine veränderte „Bedrohungslage“ (Bulletin 2006b) für Deutschland nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Diese sei die Folge eines Übergangs von „den symmetrischen Bedrohungen des Kalten Krieges [hin zu] asymmetrische[n] Bedrohungen völlig neuer Art“ (Bulletin 2006a). Im Zentrum der Sicherheitspolitik stünde somit nicht länger die Gefahr zwischenstaatlicher Kriege. Stattdessen traten neue Bedrohungen in den Vordergrund. Hierzu gehörten die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, regionale Konflikte, die Folgen von Staatszerfall sowie der internationale Terrorismus (u. a. Bulletin 2006a, b, c, 2007c, 2008a, 2010c).

Die sicherheitspolitische Lage ist nach Einschätzung von Kanzlerin Merkel jedoch nicht nur „[v]on hoher Komplexität“ (Bulletin 2006c) geprägt. Hinzu käme, dass kein Staat den neuen Bedrohungen ausweichen könne. Die Bedrohungen könnten vielmehr „auch aus weiter Entfernung in Windeseile direkt zu uns [nach Deutschland; KB] gelangen“ (Bulletin 2010c). Letzteres sei die Folge der immer größeren Offenheit von Gesellschaften in Verbindung mit einer zunehmenden Verflechtung der Welt bei „Investitionsströmen, Kapitalströmen, Kommunikationsströmen und Informationen“ (Bulletin 2006a). Hieraus ergebe sich insgesamt eine nennenswerte Anfälligkeit von Gesellschaften: „Unsere Sicherheit, in einem freien Rechtsstaat leben zu können, wird heute von Entwicklungen gefährdet, die weit außerhalb unserer Grenzen entstehen können. Das ist an sich keine neue Entwicklung, aber in Zeiten der Globalisierung hat es eine neue Qualität erlangt“ (Bulletin 2010c).

Aus diesen grundlegenden Veränderungen in der Sicherheitspolitik folgert Kanzlerin Merkel, dass kein Staat dazu in der Lage sei, sich alleine den neuen, nicht an staatlichen Grenzen Halt machenden Herausforderungen und Bedrohungen zu stellen (Bulletin 2006a, c, 2007a, c). Stattdessen bedürfte es eines gemeinsamen Vorgehens und partnerschaftlicher Lösungen:

Die Probleme gehen uns alle an – die Deutschen ebenso wie unsere Nachbarn, Partner und Verbündete. Niemand kann sich diesen Problemen entziehen. So wie die Gefahren keine Grenzen kennen – das ist meine feste Überzeugung –, müssen auch die Antworten nationale Grenzen überwinden. Kein Land der Welt kann der Gefahren allein Herr werden. Deshalb ist deutsche Sicherheitspolitik immer auch partnerschaftliche Politik. Deutsche Sicherheitspolitik kann nicht als nationale Politik gedacht werden. (Bulletin 2006c)

Gemeinschaftliches Gegenhandeln gegen asymmetrische Bedrohungen ist aus Sicht von Kanzlerin Merkel zwingend geboten. Das Gegenhandeln müsse dort erfolgen, wo die Bedrohungen für Deutschland entsprängen. Laut Merkel gelte es, „den Gefahren für das Recht, die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes dort zu begegnen, wo sie entstehen“ (Bulletin 2010c). Daraus ergibt sich laut Merkel eine veränderte Aufgabenstellung für die deutschen Streitkräfte. Das Schlagwort lautet „Auslandseinsätze“, mittels derer die Bundeswehr im veränderten sicherheitspolitischen Kontext ihren Beitrag zum Schutz Deutschlands leiste:

Diese Einsätze, obgleich weit entfernt von zu Hause, dienen unseren nationalen Sicherheitsinteressen. Dies, den nationalen Sicherheitsinteressen weit entfernt von der Heimat zu dienen, ist eine Aufgabe, die wir heute haben, die neu ist, die es viele Jahrzehnte lang so nicht gab und die uns noch viele Jahre durch das 21. Jahrhundert begleiten wird. [¼] Für mich gibt es keinen Zweifel: Das Wohlergehen von uns allen und das politische und wirtschaftliche Gewicht unseres Landes hängen wesentlich von Frieden, Stabilität und Freiheit ab, und dies in einer zusammenwachsenden Welt mehr denn je. Dies verändert eben auch die Aufgaben der Bundeswehr. (Bulletin 2009b)

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan fügt sich bei Merkel in die veränderte Aufgabenstellung der Bundeswehr ein, welche darin bestünde, die Sicherheit Deutschlands durch Einsätze jenseits der Landesgrenzen zu gewährleisten: „Niemand täusche sich: Die Folgen von Nichthandeln werden uns genauso zugerechnet wie die Folgen von Handeln. Das sollte jeder bedenken, der ein Zurseitetreten Deutschlands bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus auch und gerade in Afghanistan fordert“ (Bulletin 2009c). Die Kanzlerin verweist mit Blick auf Afghanistan ausdrücklich auf den asymmetrischen Charakter – und somit die Neuartigkeit oder zumindest Besonderheit – der Auseinandersetzung:

Wir müssen sagen, dass sich unsere Soldaten in einer Auseinandersetzung, in einem Kampf mit einem oft unsichtbaren Gegner befinden. Sie haben es mit einer Gefahr zu tun, die etwas anderes ist als das, was wir bisher erlebt haben. Genau auf diese Herausforderung müssen sie vorbereitet sein. Es ist eine asymmetrische Auseinandersetzung und deshalb eine völlig neue Qualität der Auseinandersetzung. (Bulletin 2008c)

Die Charakterisierung des Einsatzes in Afghanistan durch Kanzlerin Merkel veränderte bzw. verschärfte sich jedoch in den letzten beiden Jahren. In ihren Reden aus dem Jahr 2010 bezog sie sich erstmals öffentlich auf den Begriff „Krieg“, um die Situation in Afghanistan zu beschreiben. In einer Regierungserklärung anlässlich der Londoner Afghanistankonferenz Ende Januar 2010 sagte die Kanzlerin: „Wir sehen nicht darüber hinweg: Es herrscht immer noch kein Frieden in diesem leidgeprüften Land. Zerstörung und Tod sind tägliche, bittere Erfahrungen. Unsere Soldaten erleben vor Ort hautnah, was es bedeutet, wenn wir von kriegsähnlichen Zuständen sprechen“ (Bulletin 2010a). Merkel griff in der Folgezeit diese Beschreibung der Entwicklungen in Afghanistan wiederholt auf (Bulletin 2010b, c, d). In einer Regierungserklärung zum Afghanistaneinsatz im April 2010 sagte sie etwa:

Dass die meisten Soldatinnen und Soldaten das, was sie in Afghanistan täglich erleben, Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg nennen, das verstehe ich gut. Wer täglich fürchten muss, in einen Hinterhalt zu geraten oder unter gezieltes Feuer zu kommen, der denkt nicht in juristischen Begrifflichkeiten. Wer so etwas erlebt, der fürchtet vielmehr, dass derjenige, der völkerrechtlich korrekt vom nicht internationalen bewaffneten Konflikt spricht, die Situation zu verharmlosen versucht. (Bulletin 2010c)

Hinsichtlich der Erfolgsaussichten (P-2) des westlichen Handelns in Afghanistan zeigt sich Kanzlerin Merkel insgesamt „optimistisch“ dahingehend, dass die von Deutschland im Verbund mit der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan verfolgten grundlegenden Ziele erreicht werden können. Sie nahm jedoch von Anfang an eine differenzierte Position ein, indem sie nicht nur auf Fortschritte verwies, sondern auch auf fortbestehende Herausforderungen und Unzulänglichkeiten. Im Februar 2006 sagte sie beispielsweise:

Ich denke, Afghanistan ist ein hochinteressantes Beispiel dafür, wie wir es aus der zentralen Bedrohung des 21. Jahrhunderts heraus, nämlich den Gefahren des Terrorismus, und aus der Situation eines quasi nicht aktionsfähigen Staates heraus schaffen können, Schritt für Schritt stabile politische Strukturen aufzubauen. (Bulletin 2006a)

Grundlage für Merkels Einschätzungen waren Fortschritte und Erfolge, die durch die Aktivitäten der internationalen Staatengemeinschaft in und für Afghanistan erzielt werden konnten. Die Kanzlerin nannte in diesem Zusammenhang unter anderem Entwicklungen im afghanischen Staatswesen (u. a. Wahlen, Verfassung), in der medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung, im Schulwesen, in der Infrastruktur (u. a. Verkehrswege, Stromversorgung) sowie mit Blick auf die Situation und Stellung von Frauen (z. B. Bulletin 2007b, 2008c, 2009c).

Von Anfang an verwies die Kanzlerin jedoch auch auf fortbestehende Schwierigkeiten und ungelöste Probleme in Afghanistan, die noch angegangen werden müssten. Hierzu zählte sie den Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte und die Bewältigung der Drogenanbauproblematik ebenso wie die Entwicklung staatlicher Institutionen im Allgemeinen (Bulletin 2007b). Die folgende Aussage steht stellvertretend für mehrere Stellungnahmen der Kanzlerin (s. Bulletin 2007a, b, 2008c), in denen sie sowohl auf Fortschritte wie auch auf anhaltende Handlungsnotwendigkeiten verwies: „Zwei oder drei Jahre sind eine kurze Zeit, um ein Land wie Afghanistan aus einer quasi zerstörten staatlichen Struktur heraus wieder voranzubringen. Deshalb glaube ich, dass wir hier, bei allen Erfolgen, die wir bereits erzielt haben, noch viel zu tun haben“ (Bulletin 2008a).

In den letzten beiden Jahren rückten in den Ausführungen der Kanzlerin die „pessimistischen“ Aspekte sogar in den Vordergrund. Im Vorfeld der Londoner Afghanistankonferenz Ende Januar 2010 sprach die Kanzlerin mit Blick auf die International Security Assistance Force (ISAF) nicht nur davon, dass „die Bilanz dieses Einsatzes gemischt“ (Bulletin 2010a) sei. Sie verwies ausdrücklich auf ein Missverhältnis zwischen Erfolgen und Misserfolgen, welches dazu führe, dass das von der internationalen Gemeinschaft anvisierte Ziel noch nicht verwirklicht worden sei: „Es gab manche Fortschritte und zu viele Rückschläge. Außer Zweifel steht: Die internationale Staatengemeinschaft hat das Ziel ihres Einsatzes noch nicht erreicht“ (Bulletin 2010a). In den folgenden Monaten wiederholte Merkel mehrmals ihre Einschätzung von „zu vielen Rückschlägen“ (Bulletin 2010b, c).

Neu war hingegen das Eingeständnis der Kanzlerin, dass einer der Grundfehler der in Afghanistan engagierten Staaten darin bestanden habe, mit falschen Erwartungen bzw. Zielvorstellungen gestartet zu sein. Die Ziele der internationalen Gemeinschaft waren laut Merkel „zum Teil unrealistisch hoch oder sogar falsch“ (Bulletin 2010c). Sie bezog sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Organisation des afghanischen Staatswesens, welches nicht westlichen Vorlagen entsprechen könne, weshalb eine solche Zielvorstellung auch nicht verfolgt werden dürfe (Bulletin 2010a, c, 2011b). Laut Merkel sei bekannt, „dass wir Afghanistan nicht zu einer Demokratie nach westlichem Vorbild machen können. Darum hat es auch gar nicht zu gehen“ (Bulletin 2010c). Trotz dieser im Laufe der Jahre immer weniger optimistischen Einschätzung der Entwicklungen und des Erreichten könne die internationale Gemeinschaft laut Merkel ihre Ziele noch immer erreichen, sofern die notwendigen Entscheidungen getroffen würden. Nach ihrer Einschätzung geschah dies unlängst auf dem im November 2010 abgehaltenen NATO-Gipfel von Lissabon (Bulletin 2011a).

Im Zusammenhang mit der Vorhersehbarkeit politischer Entwicklungen (P-3) lassen sich drei Aspekte anführen: die Unübersichtlichkeit globaler Entwicklungen, Unwägbarkeiten bezüglich der Dauer des Engagements in Afghanistan sowie unüberblickbare Folgen eines vorschnellen Abzugs. Wie bereits angedeutet (siehe Aspekt P-1), hat sich der internationale sicherheitspolitische Kontext in der Wahrnehmung von Kanzlerin Merkel seit dem Ende des Ost-West-Konflikts nachhaltig verändert, und dies „in atemberaubender Geschwindigkeit“ (Bulletin 2008a). Folge dessen ist, dass Regelmäßigkeiten bislang nur schwer auszumachen seien. Die Kanzlerin spricht deshalb von Schwierigkeiten, „die Muster, in denen die großen Konfliktlinien des 21. Jahrhunderts verlaufen, heute schon vollkommen klar zu erkennen“ (Bulletin 2008a).

Unklarheiten ergaben sich auch mit Blick auf die Dauer des deutschen Engagements in Afghanistan. Nach Einschätzung von Kanzlerin Merkel bedürfe es eines langfristigen Engagements. Die Betonung dieser Notwendigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Aussagen. Häufig betonte sie in diesem Zusammenhang allerdings, dass die längere Zeitspanne so nicht eingeplant war, sondern eher überraschend gekommen sei. Im November 2006 sagte die Kanzlerin etwa: „Nach unserem [¼] Bericht über die Lage in Afghanistan mussten wir feststellen, dass wir mehr Zeit für die Entwicklung Afghanistans brauchen, als wir es uns gedacht und gewünscht hätten“ (Bulletin 2006d). Im Januar 2010 merkte sie wiederum an: „Ja, es ist wahr: Der Einsatz dauert länger, und er ist schwieriger, als wir zu seinem Beginn vor gut acht Jahren gedacht haben“ (Bulletin 2010a; ähnlich zuvor in Bulletin 2009a). Folge dessen sei, dass Deutschland mit Blick auf das Engagement in Afghanistan einen „langen Atem“ (Bulletin 2006b; auch Bulletin 2010b) haben müsse.

Seit Jahren betont Kanzlerin Merkel jedoch, dass der Zeitrahmen des internationalen Engagements in Afghanistan – und somit auch das deutsche Engagement im Land – nicht unbegrenzt sein könne. Das Ziel sei es laut Merkel, die Afghanen dazu in die Lage zu versetzen, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Im September 2007 sagte die Kanzlerin: „Ich muss ganz unumwunden sagen: Solange die afghanischen Sicherheitskräfte nicht selbst für ein sicheres Umfeld sorgen können, halte ich die internationale Truppenpräsenz für weiterhin notwendig. So lange halte ich auch den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan für notwendig“ (Bulletin 2007b).

Auch wenn die Kanzlerin in der Folge an diesem Ziel selbsttragender Sicherheit in Afghanistan festhielt (Bulletin 2008c), hat sich in jüngster Zeit das Argumentationsmuster verschoben. Während früher der Aufbau von Sicherheitskräften, wie allgemein von selbsttragenden staatlichen Strukturen, durch die westliche Präsenz ermöglicht werden sollte, soll nunmehr der westliche Abzug durch den Aufbau von Sicherheitskräften und staatlichen Strukturen ermöglicht werden. Grundlage ist das Konzept der „Übergabe in Verantwortung“, welches auf der Londoner Afghanistankonferenz vereinbart wurde und welches laut Merkel eine Reduzierung der deutschen Truppenpräsenz ab Ende 2011 ermöglichen soll (Bulletin 2010a). Sie bemerkte hierzu: „Unter der Verantwortung der jetzigen Bundesregierung wird nun die Übergabe in Verantwortung eingeleitet. Wir können kein Abzugsdatum nennen. Das jetzt zu tun, wäre verantwortungslos. Aber die internationale Gemeinschaft kann und wird die im Januar dieses Jahres beschlossene Übergabe in Verantwortung erfolgreich vollziehen“ (Bulletin 2010b).

Während die Kanzlerin somit einerseits eine Perspektive für einen Abzug eröffnet, dürfe dieser andererseits nicht übereilt erfolgen. Ein solcher Schritt hätte nach Einschätzung von Merkel nicht nur Folgen für Afghanistan als solches, welches „in Chaos und Anarchie versinken“ (Bulletin 2010c) würde. Weiterhin wären die Konsequenzen eines Abzugs für die internationale Gemeinschaft wie auch für die Sicherheit Deutschlands „unabsehbar“ (Bulletin 2010c). Darüber hinaus hätte ein übereilter Abzug politische Folgen, zumal dann, wenn sich Deutschland vor seinen Partnern zurückzöge. Einem „deutschen Alleingang“ (Bulletin 2010a) erteilt die Kanzlerin entsprechend eine klare Absage. Ihrer Einschätzung nach wären die Folgen eines solchen Schritts weit reichend: „Die internationale Gemeinschaft ist gemeinsam hineingegangen; die internationale Gemeinschaft wird auch gemeinsam hinausgehen. Handelte sie anders, wären die Folgen – das ist meine Überzeugung – weit verheerender als die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001“ (Bulletin 2010c).

3.2 Instrumentelle Überzeugungen

Kanzlerin Merkel benennt klare Vorgaben hinsichtlich des besten Weges zur Auswahl von politischen Zielsetzungen (I-1). Die eigenen sicherheitspolitischen Interessen und Prinzipien, sowie die hieraus abgeleiteten konkreten Ziele, müssten regelmäßig bewusst gemacht und gegebenenfalls angepasst werden (Bulletin 2006c, 2010b, c). Als Leitlinien des deutschen Handelns nennt die Kanzlerin „Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde“ (Bulletin 2008a). Für Merkel gibt es dabei kein Gegeneinander von Interessen auf der einen und Werten auf der anderen Seite. Beides gehöre zusammen. Laut Merkel sei eine „an Werten ausgerichtete Politik [¼] die beste Politik [¼], um unsere Interessen in der Welt wahrzunehmen“ (Bulletin 2008a).

Ein wichtiges Element bei der Benennung und Anpassung von Zielen sei es, klare Maßstäbe zu haben, an denen Entwicklungen überprüft werden könnten. Entsprechend positiv äußerte sich die Kanzlerin über die auf der Londoner Afghanistankonferenz angenommene Strategie, da diese „ausdrücklich eine regelmäßige Überprüfung von Benchmarks, Zielen und Maßnahmen“ vorsehe (Bulletin 2010c). Der von der Kanzlerin befürwortete Prozess der regelmäßigen Bewusstmachung der eigenen Prinzipien und Ziele dürfe allerdings nicht ausschließlich hinter verschlossenen Türen erfolgen, sondern müsse gegenüber der Öffentlichkeit vermittelt werden (Bulletin 2006c). Dies gelte umso mehr, wenn politische Entscheidungen zur Gefährdung von Menschenleben führten. Hierzu gehörten ohne Zweifel die Entscheidungen zur Entsendung von deutschen Soldat/innen in Auslandseinsätze wie demjenigen in Afghanistan, „wo ihre Gesundheit an Leib und Seele und ihr Leben immer wieder in Gefahr sind“ (Bulletin 2010b). Das regelmäßige Bewusstmachen der verfolgten Ziele ist laut Merkel auch deshalb notwendig, weil sich die politischen Akteure auf diese Weise ihren Zweifeln stellten, die mit Entscheidungen zur Entsendung der Bundeswehr ins Ausland unweigerlich verbunden seien. Würden diese Zweifel überwunden, könnten die Akteure glaubwürdig ihre Positionen nach außen vertreten:

Es ist wieder und wieder wichtig, dass wir Politiker die Tatsachen klar benennen. Es ist wieder und wieder wichtig, sich auch als Mitglieder der Bundesregierung und als Abgeordnete zu den menschlichen Zweifeln zu bekennen, die jeder von uns schon hatte oder hat: die Zweifel, ob dieser Kampfeinsatz in Afghanistan tatsächlich unabweisbar ist. Erst wenn wir uns diesen Zweifeln stellen, können wir den Einsatz glaubhaft verantworten. (Bulletin 2010c)

Auf die Frage, wie sich die Handlungsziele Deutschlands und seiner Partnerstaaten in Afghanistan am effektivsten verwirklichen lassen (I-2), hat Kanzlerin Merkel eine eindeutige und über die Jahre hinweg gleichbleibende Antwort. Sie lautet „integrierter Ansatz“ bzw. „vernetzte Sicherheit“.Footnote 15 Asymmetrische Bedrohungen wären gerade deshalb so problematisch, weil die Instrumente des Kalten Krieges, allen voran das Konzept der Abschreckung, hier nicht zu greifen scheinen (Bulletin 2006c). Rein militärische Antworten reichten somit nicht aus, um unter den veränderten Bedingungen Sicherheit herzustellen. Laut Merkel bräuchte man stattdessen einen vernetzten Ansatz, verstanden als die Verbindung von verschiedenen Akteuren und Instrumenten auf unterschiedlichen Handlungsebenen. Darüber hinaus verweist die Kanzlerin auf zwei weitere Punkte, die für ein effektives, und dadurch Erfolg ermöglichendes, Vorgehen notwendig sind: innenpolitische Geschlossenheit sowie die Inpflichtnahme der afghanischen Seite.

Die Betonung der Notwendigkeit eines vernetzten Ansatzes zieht sich wie ein „Mantra“ durch die Aussagen der Kanzlerin zu Afghanistan. In fast allen der 19 analysierten Texte finden sich diesbezügliche Anmerkungen (u. a. Bulletin 2006a, 2007a, 2008c, 2009a, 2010a, 2011a). Dabei lassen sich in Merkels Aussagen drei unterschiedliche Facetten des Begriffs bzw. Konzepts der vernetzten Sicherheit unterscheiden: die Verbindung von militärischen und nicht-militärischen Instrumenten, die Verbindung von Akteuren aus unterschiedlichen Ministerien auf der nationalen Ebene sowie die Verbindung von verschiedenen internationalen Akteuren (v. a. internationale Organisationen) bzw. Missionen (v. a. ISAF und Operation Enduring Freedom, OEF). Zu den beiden erstgenannten Dimensionen der Verbindung militärischer und ziviler Maßnahmen sowie der Verbindung nationaler Akteure sagt die Kanzlerin:

Wichtig ist, dass wir einen Ansatz haben, der Sicherheit und Wiederaufbau klug und durchdacht miteinander verbindet. Es kann keine rein militärische Lösung geben, aber ohne ein militärisch gesichertes Umfeld kann es auch keinen Aufbau in Afghanistan geben. [¼] Es ist eine politische Aufgabe, eine militärische Aufgabe, eine Aufgabe der inneren Sicherheit und eine Aufgabe für unsere Entwicklungspolitik. Die Bundesregierung hat sehr früh in einem ganz neuen Ansatz die Gemeinsamkeit der betroffenen Ressorts gesehen. Es gibt eine ganz regelmäßige Zusammenarbeit zwischen dem Entwicklungshilfeministerium, dem Innenministerium, dem Verteidigungsministerium und dem Außenministerium. Dieser Ansatz muss weiterentwickelt und zu einem Standardansatz bei all unseren Aktivitäten werden. Sie können heute nicht mehr zwischen den einzelnen Ressorts unterscheiden. Ich bin sehr froh, dass wir das am Beispiel Afghanistan auch praktizieren. (Bulletin 2006d)

Des Weiteren betonte die Kanzlerin wiederholt die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von internationalen Akteuren – „Wir brauchen auch in Afghanistan eine gute Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der NATO“ (Bulletin 2006c)Footnote 16 – wie auch zwischen den in Afghanistan laufenden internationalen Missionen. Zu letzterem sagte sie beispielsweise:

Für mich hat Vorbildcharakter das Zusammenwirken von Operationen wie Enduring Freedom, die einen klar militärischen Charakter haben, mit Operationen wie ISAF, die stabilitätsbildend sind und von militärischen Aufgaben über polizeiliche Aufgaben bis hin zu politische Strukturen aufbauenden Aufgaben reichen, und die auch Tätigkeiten von Nicht-Regierungsorganisationen, von Entwicklungshilfe und Wiederaufbauarbeit mit einbeziehen. Sie umfassen das gesamte Spektrum, wie man quasi von einer völlig instabilen Struktur zu einem politisch stabilen Land hinkommen könnte. (Bulletin 2006a)

Dass der Ansatz der vernetzten Sicherheit inzwischen zum Leitmotiv des Vorgehens der internationalen Gemeinschaft gegenüber Afghanistan wurde, wertete Kanzlerin Merkel als Erfolg der deutschen Politik. Trotz mancher Vorbehalte habe Deutschland seine Partner von der Richtigkeit und Notwendigkeit dieses Vorgehens überzeugen können:

Es ist weitgehend auf das beharrliche Engagement der Bundesregierung und auch des Deutschen Bundestages zurückzuführen, dass nunmehr alle unsere Partner, auch alle in der NATO, von diesem Ansatz überzeugt sind. Wurde die Bundeswehr in der Vergangenheit oft als Brunnenbauer verspottet, so ist die Politik der vernetzten Sicherheit heute Konsens unter den Verbündeten. Das ist ein nachhaltiger Erfolg deutscher Afghanistan-Politik. (Bulletin 2009c)

Wesentlicher ist freilich, dass der Ansatz der vernetzten Sicherheit laut Merkel zu praktischen Erfolgen geführt hat. Die Kanzlerin verwies beispielsweise auf die Arbeit der deutschen Provincial Reconstruction Teams (PRT) in Kunduz und Feyzabad, die sich durch die Verknüpfung ziviler und militärischer Leistungen auszeichneten (Bulletin 2007b).

Auch wenn die Kanzlerin bis heute von der Notwendigkeit des vernetzten Ansatzes überzeugt ist, finden sich in ihren Ausführungen wiederholt kritische Aussagen hierzu. Diese hinterfragen jedoch nicht das Konzept der vernetzten Sicherheit als solches, sondern dessen praktische Umsetzung. Dies gilt sowohl für die Abstimmung zwischen militärischen und zivilen Elementen als auch für die Koordinierung der Akteure im Feld. So sagte die Kanzlerin beispielsweise im Vorfeld des Ende November 2006 in Riga abgehaltenen NATO-Gipfeltreffens: „In Riga wird es [¼] darum gehen, das Zusammenwirken ziviler und militärischer Elemente und die Zusammenarbeit zwischen der NATO, den Vereinten Nationen und der EU sowie mit den Nichtregierungsorganisationen zu verbessern“ (Bulletin 2006d). Rund zwei Jahre später bemerkte sie: „Wir haben im letzten Jahr die Koordinierung einiger internationaler Organisationen in Afghanistan verbessert. Ich mache auch kein Hehl daraus: Es sind noch viele Synergieeffekte nutzbar, um hier zu einem noch koordinierteren Vorgehen zu kommen“ (Bulletin 2008c). Trotz dieser kritischen Anmerkungen zur praktischen Umsetzung sei das Konzept der vernetzten Sicherheit laut Merkel jedoch „ohne jede Alternative“ (Bulletin 2008b) und müsse deshalb „zum strategischen Allgemeingut der NATO [¼] werden“ (Bulletin 2009a).

Neben der Verfolgung eines vernetzten sicherheitspolitischen Ansatzes nennt die Kanzlerin zwei weitere Voraussetzungen für ein effektives Vorgehen. Dies ist zum einen ein möglichst großer innenpolitischer Konsens in der Afghanistanpolitik. Laut Merkel dürften Fragen der Sicherheit Deutschlands nicht von parteipolitischen Interessen bestimmt werden (Bulletin 2010a). Das von Merkel gezeichnete Idealbild ist eine so weit wie möglich geschlossene Haltung von Regierung, ParlamentFootnote 17 – einschließlich der Opposition – und BevölkerungFootnote 18 zu den Einsätzen der Bundeswehr. Eine solche einvernehmliche Haltung herzustellen, sei die Aufgabe von Regierung und Parlamentsfraktionen. Mit Blick auf eine Bundestagsabstimmung zur Verlängerung der deutschen Beteiligung an OEF sagte die Kanzlerin:

Deshalb ist es richtig – wie wir es heute wieder bei der Operation ‚Enduring Freedom‘ getan haben –, im Bundestag um einen möglichst breiten Konsens der Fraktionen zu ringen. Denn je größer die Unterstützung im Deutschen Bundestag ist, desto größer und breiter ist auch das Fundament der repräsentierten Gesellschaft, die diese Mission unterstützt. (Bulletin 2006c; ähnlich in Bulletin 2009b)

Darüber hinaus sei eine breite Mehrheit für die Einsätze im Parlament laut Merkel auch deshalb wichtig, weil auf diese Weise den im Einsatz befindlichen Soldat/innen ein Zeichen der Unterstützung gesendet würde (Bulletin 2009c, 2010b, c).

Die andere Voraussetzung für ein erfolgreiches Handeln ist die Einbeziehung bzw. Inpflichtnahme der afghanischen Seite. Dabei zeigt sich eine Verschiebung in der Argumentation der Kanzlerin. Zunächst betonte sie vor allem die unterstützende und ermöglichende Rolle der internationalen Gemeinschaft für Afghanistan. Seit dem zweiten Halbjahr 2008 finden sich in den Aussagen von Kanzlerin Merkel hingegen zusehends Aufforderungen und Anforderungen an die afghanische Seite. Grundsätzlich müsse Afghanistan laut Merkel eine Bereitschaft zur Eigenständigkeit aufbringen und diese auch nach außen zeigen. Das Land solle „den festen Willen noch deutlicher zum Ausdruck bring[en], dass das Volk dieses Auf-eigenen-Füßen-Stehen auch politisch wirklich will“ (Bulletin2008c). Die internationale Gemeinschaft wiederum müsse laut Merkel

die afghanische Führung noch stärker in die Pflicht nehmen, damit diese alles, aber wirklich auch alles unternimmt, um ihr Land gut und effizient zu regieren, Kriminalität zu bekämpfen und vor allem mit aller Kraft gegen den unsäglichen Drogenhandel anzugehen. Das ist eine Erwartung, die wir an Afghanistan haben. (Bulletin 2009a)

Später sprach die Kanzlerin davon, dass die internationale Gemeinschaft Vorgaben zu definieren habe, welche die afghanische Regierung „auf gute Regierungsführung, auf Rechtsstaatlichkeit und auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichten“ (Bulletin 2009c; ähnlich in Bulletin 2010a). Das hinter diesen Forderungen stehende Ziel lautete, Afghanistan dazu in die Lage zu versetzen, selbst für seine Sicherheit zu sorgen – und damit den Abzug der westlichen Staaten aus Afghanistan zu ermöglichen:

[U]nser übergeordnetes politisches Ziel ist und bleibt ein Afghanistan, das selbst für seine Sicherheit sorgen kann, ein Afghanistan, das wirksam verhindert, dass seine Regionen erneut Heimstatt des internationalen Terrorismus werden können. Innerhalb der nächsten fünf Jahre [¼] müssen hier substanzielle, qualitative Fortschritte erzielt werden, die es den internationalen Truppen Schritt für Schritt ermöglichen, sich mehr und mehr zurückzuziehen. (Bulletin 2009c)

Kanzlerin Merkel erkannte und akzeptierte die mit dem Einsatz in Afghanistan verbundenen Risiken (I-3). Worauf sie Risiken vornehmlich bezog, hat sich jedoch im Laufe der Zeit verändert. Zunächst standen mit dem Einsatz verbundene politische Risiken im Vordergrund, vor allem hinsichtlich des Ansehens sowie der Zukunft(sfähigkeit) der NATO. Mehrmals bezeichnete die Kanzlerin den Einsatz in Afghanistan als „Lackmustest“ (Bulletin 2006b, d) für die Organisation. Später nannte sie den Einsatz als „die wichtigste aktuelle Bewährungsprobe für die NATO“ (Bulletin 2009a). Als wesentlich für das künftige Ansehen und die Handlungsfähigkeit der Organisation erachtete die Kanzlerin die Frage, inwiefern die NATO das Konzept der vernetzten Sicherheit (siehe Punkt I-2) praktisch umsetzen könne:

Afghanistan ist die Herausforderung für die NATO. Von der Lösung der Frage, wie wir die Herausforderung in einem Konzept der vernetzten Sicherheit bewältigen, wird sehr viel für die Akzeptanz der NATO, für den Erfolg der Operationen der NATO und auch für das Ansehen der NATO weltweit abhängen. (Bulletin 2008c)

Aus diesen Herausforderungen und Risiken erwuchs nach Einschätzung der Kanzlerin Druck auf die Organisation, den Einsatz zum Erfolg zu führen (Bulletin 2006d, 2008a).

In späteren Aussagen trat eine andere Dimension des mit dem Einsatz in Afghanistan verbundenen Risikos in den Mittelpunkt von Merkels Erwägungen, und zwar dasjenige für Leib und Leben der eingesetzten deutschen Kräfte. Für die ersten Amtsjahre der Kanzlerin finden sich nur vereinzelte Hinweise zu dieser Frage. Merkel sprach etwa von einer „gefährliche[n] Aufgabe“ (Bulletin 2006d), welche die Bundeswehr erfülle, und erinnerte an Personen, „die ihr Leben bei der Aufbauarbeit verloren haben“ (Bulletin 2007b). In den letzten Jahren, und insbesondere seit dem Jahr 2010, thematisiert die Kanzlerin die Risiken des Einsatzes für die deutschen Kräfte in fast jeder der analysierten Reden (Bulletin 2008c, 2009b, 2010a, b, c, d). Die Kanzlerin zollte den eingesetzten Kräften nicht nur Respekt und Dank, sondern benannte ausdrücklich die mit dem Einsatz verbundenen Risiken und erinnerte ferner an die im Einsatz ums Leben gekommenen deutschen Kräfte:

Ich möchte [¼] an dieser Stelle allen Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfern und Diplomaten aufrichtig Dank sagen, die in Afghanistan schwierige und zum Teil sehr gefährliche Aufgaben schultern. Dafür gebühren ihnen Respekt und Anerkennung. Ich verneige mich vor all denen, die in diesen Einsätzen für unsere Sicherheit schwere Verwundungen erlitten oder gar ihr Leben gelassen haben. (Bulletin 2008c)

Zur Begründung und Rechtfertigung der Akzeptanz der Risiken stellte die Kanzlerin die Leistungen der im Einsatz befindlichen deutschen Kräfte als Dienst für Deutschland dar, dessen Sicherheit auf diese Weise gewährleistet würde: „Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständig in Angst, verletzt oder getötet zu werden. Sie leben in dieser Angst, damit wir zu Hause in Deutschland nicht Angst haben müssen“ (Bulletin 2010c).

Auch wenn die Kanzlerin die Risiken des Einsatzes akzeptierte, versuchte sie, diese möglichst gering zu halten. Das Mittel hierzu war die Fokussierung des deutschen Einsatzes auf den Norden Afghanistans. Immer wieder rechtfertigte die Kanzlerin die räumliche Begrenzung des Einsatzgebiets der deutschen Kräfte (Bulletin 2006d, 2007b, 2008a). Die Rechtfertigung erfolgte zwar zumeist nicht mit Argumenten der Risikobegrenzung, sondern mit der Relevanz des Nordens für die Gesamtoperation oder mit den im Norden erreichten Erfolgen. In einer Rede schien das Motiv, im Norden zu bleiben, weil dort das Risiko zumindest geringer ist als in anderen Landesteilen Afghanistans, aber durch. Mit Blick auf eine mögliche Ausweitung des deutschen Einsatzgebiets sagte die Kanzlerin: „Ich halte [¼] nichts davon [¼], dass wir jetzt in einen Wettlauf der Gefährlichkeit eintreten. Diejenigen, die im Norden engagiert sind, wissen, dass es dort alles andere als völlig ungefährlich ist“ (Bulletin 2008a; eigene Hervorhebung). Eine andere Facette der – auch innenpolitisch motivierten – Risikoeingrenzung durch die Kanzlerin bestand darin, beim Einsatz in Afghanistan Opfer unter der dortigen Zivilbevölkerung zu vermeiden:

Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zu viel. Wir trauern um jeden Einzelnen. Jeder unschuldig Verletzte ist einer zu viel. Wir fühlen mit ihnen und ihren Angehörigen. Unschuldig verletzte und zu Tode gekommene Menschen, auch und gerade infolge deutschen Handelns, bedauere ich zutiefst. (Bulletin 2009c)

Entsprechend bedauerte die Kanzlerin ausdrücklich die Opfer des Luftschlags von Kunduz (Bulletin 2010a, c).

Zum Abschluss bleibt die Frage nach der Einschätzung von Kanzlerin Merkel bezüglich der Nützlichkeit und Bedeutung von bestimmten Mitteln zur Umsetzung der eigenen Ziele (I-5). Der Operational Code-Ansatz – genauer dessen Operationalisierung in Form von VICSFootnote 19 – fokussiert auf Verben und unterscheidet diese nach „positiven Worten“ (Kategorien „Appeal/Support“ und „Promise Benefits“) und „positiven Taten“ („Rewards“) auf der einen sowie „negativen Worten“ („Oppose/Resist“ und „Threaten Cost“) und „negativen Taten“ („Punishments“) auf der anderen Seite (vgl. Walker et al. 1998, S. 568). Auch wenn diese Kategorisierung insbesondere für quantitative Studien nützlich ist, lässt sie sich auch für qualitative Analysen einsetzen. So ist unter Bezugnahme auf diese Kategorien in den Aussagen Merkels eine klare Zweiteilung festzustellen. Während die Kanzlerin gegenüber der afghanischen Regierung zumeist positive Kategorien (v. a. „Appeal/Support“) verwendet, fallen Aussagen gegenüber aufständischen Kämpfern und Terroristen in die negativen Kategorien („Oppose/Resist“ wie auch „Punishments“).Footnote 20

Am deutlichsten zeigt sich die Betonung der unterstützenden Funktion Deutschlands und der internationalen Gemeinschaft gegenüber der afghanischen Regierung – welche laut Merkel „das internationale Engagement ausdrücklich erbeten“ (Bulletin 2008c) habe – beim Aufbau von politischen Institutionen und von staatlichen Sicherheitsstrukturen (Armee und Polizei). Mit Blick auf die Entwicklung rechtsstaatlicher Strukturen in Afghanistan bemerkte die Kanzlerin etwa:

[E]rst wenn der Staat in der Lage ist, das elementare Bedürfnis seiner Bevölkerung nach Sicherheit zu erfüllen, erst dann gewinnen Menschen auch den Freiraum, ja die Freiheit, sich dem Aufbau ihres Landes zu widmen, ihrer Bildung, ihrer Wirtschaft, ihrem sozialen Ausgleich. Es ist die vornehme Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, Afghanistan beim Aufbau einer solchen Ordnung zu unterstützen, und zwar weil das unserer eigenen Sicherheit dient. (Bulletin 2010c)

Hinsichtlich des Aufbaus von staatlichen Sicherheitsstrukturen betonte Merkel wiederum mehrfach die Notwendigkeit, sich mit der afghanischen Seite darüber zu verständigen, wie die Entwicklung in ihrem Land gestaltet werden soll (z. B. Bulletin 2007c, 2008c). Nur auf einer solchen Grundlage könnten die westlichen Unterstützungsleistungen Früchte tragen. Mit Blick auf den Aufbau des afghanischen Polizeiwesens betonte die Kanzlerin beispielsweise: „Bevor man die Polizei aufbaut, muss man einmal mit den Afghanen gesprochen haben, wie sie sich Polizeiarbeit eigentlich vorstellen, wenn sie sich ihr Land malen könnten“ (Bulletin 2007c). Die unterstützende Funktion Deutschlands gegenüber der afghanischen Seite zeige sich ganz konkret in den – nach der Konferenz von London Ende Januar 2010 abermals ausgeweiteten – personellen und finanziellen Leistungen für die Ausbildung von afghanischen Armee- und Polizeikräften (Bulletin 2010a). Durch diese Unterstützung sollen „die afghanischen Sicherheitskräfte in die Lage [versetzt werden], selbst die Verantwortung für die Sicherheit in ihrem Land zu übernehmen“ (Bulletin 2010b).

Gegenüber den aufständischen Kämpfern sowie Terroristen wählte die Kanzlerin eine andere Sprache. Hier zeigt sich eine Überzeugung in die Notwendigkeit, sich diesen Akteuren zu widersetzen und aktiv entgegenzutreten: „Wir müssen alles tun, damit Afghanistan nie wieder in die Situation kommt, dass Taliban und al-Qaida von dort aus – sozusagen frei und ohne Struktur von staatlicher Stelle – agieren können“ (Bulletin 2007b). Das von Merkel anvisierte Handeln Deutschlands beinhaltete, dass „wir Terroristen bekämpfen, und zwar entschlossen“ (Bulletin 2007b). Entsprechend bezeichnete die Kanzlerin die Mission in Afghanistan als „Kampfeinsatz der Bundeswehr“, dessen Aufgabe darin liege, „den weltweiten Frieden und Leib und Leben der Menschen hier in Deutschland vor dem Übel des internationalen Terrorismus zu schützen. Das stand am Anfang dieses Einsatzes, und das gilt bis heute“ (Bulletin 2009c).

Auch wenn sich die Kanzlerin für die Bekämpfung von Aufständischen und Terroristen auch mit militärischen Mitteln ausspricht, erachtet sie den Einsatz des Militärs in Afghanistan als „Ultima Ratio“ (Bulletin 2010c). In dieses Bild fügt sich ihre Offenheit, mit ehemaligen Kämpfern, welche der Gewalt abgeschworen haben, zu kooperieren und diesen eine Chance zur Rückkehr zu geben.Footnote 21 Diejenigen hingegen, die nicht der Gewalt abschwören, müssten weiterhin bekämpft werden:

Meine Auffassung ist, dass mit allen, die unzweideutig Terror, Gewalt und feigen Attentaten gegen Vertreter der internationalen Gemeinschaft abschwören, zusammengearbeitet werden kann. Es kann und muss stärker mit denjenigen zusammengearbeitet werden, die ihr Land wieder aufbauen wollen, die die wesentlichen rechtsstaatlichen Prinzipien respektieren, wie auch immer sie sich nennen. Das gilt vor allem für die regionalen Stammesfürsten. Diejenigen aber, die den Wiederaufbau bekämpfen, die mit Gewalt und Terror drohen und die wesentlichen Menschenrechte mit Füßen treten, können für uns keine Partner sein. Sie müssen wir gemeinsam mit den Afghanen konsequent bekämpfen. (Bulletin 2009a)

4 Die deutsche Afghanistanpolitik unter Kanzlerin Merkel

Die obigen Ausführungen zeigen, dass sich der Operational Code von Kanzlerin Merkel seit ihrem Amtsantritt im November 2005 verändert hat. Die Veränderungen betreffen zwar nicht alle, aber doch mehrere Elemente sowohl der philosophischen als auch der instrumentellen Überzeugungen. In zeitlicher Hinsicht fällt auf, dass sich die meisten Veränderungen seit 2008 andeuteten und seit 2010 deutlich hervortraten. Sie beginnen somit in einer Zeit, in der die Kanzlerin eine Verschlechterung der Lage in Afghanistan konstatierte: „Wir spüren alle, dass die Situation in Afghanistan nicht einfach ist, dass die Sicherheitslage auch im Norden komplizierter wird“ (Bulletin 2008b). Diese Verschlechterung der SicherheitslageFootnote 22, in Verbindung mit der steigenden Zahl an Toten und Verwundeten unter den deutschen Einsatzkräften, auf welche die Kanzlerin in ihren Reden immer wieder zu sprechen kam, könnte die Ursachen für diese Veränderungen sein.

In inhaltlicher Hinsicht weisen die Veränderungen bei den philosophischen Überzeugungen des Operational Codes auf eine Einschätzung der Entwicklungen in Afghanistan hin, die im Laufe der Zeit kritischer wie auch negativer wird (P-1). Die Kanzlerin geht von einer komplexen, unübersichtlichen und von asymmetrischen Bedrohungen geprägten internationalen Lage aus. Afghanistan sieht sie als ein Beispiel für, wie auch als einen Ausdruck von, diesen Entwicklungen. Infolge der Veränderungen vor Ort in Afghanistan – im Sinne der deutlichen Verschlechterung der Sicherheitslage – erfährt der Einsatz jedoch eine neue Zuschreibung: Seit 2010 bezeichnet die Kanzlerin die Zustände als „kriegsähnlich“. In das Bild dieser veränderten Charakterisierung der Situation in Afghanistan fügt sich die zunehmende Herausstellung pessimistischer Elemente bei der Einschätzung der Erfolgschancen (P-2). Begriffe wie „Rückschläge“ und „gemischte Bilanz“ sowie das Eingeständnis der ausbleibenden Zielerreichung, die u. a. auf falsche Zielvorstellungen („Demokratie nach westlichem Vorbild“) zurückgehen, kennzeichnen Merkels Aussagen.

Veränderungen zeigen sich auch in den instrumentellen Überzeugungen der Kanzlerin. Zwar hält sie unvermindert an der Notwendigkeit und Richtigkeit des Konzepts der vernetzten Sicherheit fest (I-2). Es finden sich allerdings immer häufiger kritische Aussagen bezüglich der praktischen Umsetzung des Konzepts, laut denen etwa das Zusammenspiel ziviler und militärischer Elemente oder die Koordinierung zwischen internationalen Organisationen noch weiter verbessert werden müsse. Zugleich nimmt die Kanzlerin die afghanische Seite immer eindeutiger in die Pflicht, ihren Beitrag für eine Konfliktlösung zu leisten. Hierzu zählen wiederholte Aufforderungen zur guten Regierungsführung sowie Kriminalitäts- und Drogenbekämpfung. Veränderungen zeigten sich auch bei der Einschätzung des mit dem Afghanistaneinsatz verbundenen Risikos (I-3). Während die Kanzlerin zunächst politische Risiken für das Ansehen und die Zukunft der NATO sah, rückten zusehends die mit dem Einsatz einhergehenden Risiken für die Sicherheit der deutschen Kräfte in Afghanistan in den Mittelpunkt, die „ständig in Angst, verletzt oder getötet zu werden“, lebten. Hierzu passt die von der Kanzlerin betonte Notwendigkeit, in einem „Kampfeinsatz“ den internationalen Terrorismus zu „bekämpfen“.

Insgesamt deuten die Veränderungen im Operational Code von Kanzlerin Merkel auf eine zusehends negativere und pessimistischere Einschätzung der Entwicklungen vor Ort in Afghanistan wie auch der eigenen Erfolgschancen hin. Ausdruck dessen ist die Anpassung – verstanden als Absenkung – der eigenen Ansprüche und Zielsetzungen in bzw. für Afghanistan. Das Ziel einer „Demokratie nach westlichem Vorbild“ wird aufgegeben. Andererseits spricht sich die Kanzlerin ausdrücklich gegen einen übereilten oder gar einseitigen Abzug Deutschlands aus. Sie bekennt sich vielmehr zu einem Einsatz im Verbund mit den deutschen Partnerstaaten, der jedoch zeitlich begrenzt bleiben müsse. Das primäre Ziel des Einsatzes besteht nunmehr in der Herstellung von Sicherheit, welche als Voraussetzung für eine deutliche Reduzierung des internationalen Engagements angesehen wird. Die sich aus der Veränderung des Operational Code ergebende Erwartung für die Politik Merkels lautet demnach, dass die Kanzlerin aufgrund der deutlich verschlechterten Lageeinschätzung bei gleichzeitiger Betonung der Notwendigkeit des Erfolgs der internationalen Gemeinschaft bereit gewesen ist, den deutschen Einsatz in Afghanistan zu intensivieren.

Diese Erwartung deckt sich mit der Politik der Regierungen Merkel seit 2005.Footnote 23 Kurz vor dem Antritt der Regierung der Großen Koalition hatte die rot-grüne Vorgängerregierung das Mandat für die Beteiligung der Bundeswehr an ISAF abermals verlängert (Deutscher Bundestag 2005). Das Mandat sah eine Anhebung der personellen Obergrenze von 2250 auf 3000 Soldat/innen vor. Es eröffnete zugleich die Möglichkeit, deutsche Kräfte nicht nur in den ISAF-Regionen „Kabul“ und „Nord“ einzusetzen, sondern nunmehr auch in der Region „West“ sowie, zeitlich und vom Umfang begrenzt, in anderen Regionen Afghanistans.Footnote 24

Unter der Kanzlerschaft von Angela Merkel hat sich der militärische Beitrag Deutschlands zu ISAF nochmals deutlich ausgeweitet. Die personelle Obergrenze wurde sukzessive angehoben, zunächst auf 3500 Soldat/innen im Oktober 2007, dann auf 4500 im Oktober 2008 und schließlich auf 5350 Soldat/innen im Februar 2010. Zudem übernahm Deutschland mehr Verantwortung innerhalb der Mission, allen voran in der ISAF-Region Nord. Seit dem Juni 2006 führt die Bundeswehr das Regionalkommando Nord (RC North) der ISAF. Im Juli 2008 übernahm sie zudem von Norwegen die schnelle Eingreiftruppe (Quick Reaction Force, QRF) für das Regionalkommando, was eine „deutliche qualitative Erweiterung“ (Bulmahn et al. 2009, S. 100) des deutschen Einsatzes bedeutete.

Nicht verändert hat sich der geografische Einsatzschwerpunkt der deutschen Kräfte, d. h. zumindest nicht derjenige der Bodentruppen. Dieser liegt auf den Regionen „Kabul“ und „Nord“, wobei Hilfsmaßnahmen in anderen Regionen weiterhin möglich sind. Zugleich beteiligte sich die Bundeswehr an offensiven Maßnahmen zur Zurückdrängung von Aufständischen in anderen ISAF-Regionen, etwa im Westen (z. B. Operationen Harekate Yolo und Karez in den Jahren 2007/2008). Eine weitere „Aufweichung“ des Einsatzgebiets fand durch die im März 2007 beschlossene Entsendung von Aufklärungstornados („RECCE-Tornados“) statt, die im gesamten Verantwortungsbereich von ISAF – und somit in ganz Afghanistan – eingesetzt werden konnten (Deutscher Bundestag 2007).

Ebenfalls einen Einsatz in bzw. über ganz Afghanistan hätte die Entsendung von AWACS-Flugzeugen nach sich gezogen, welche der Bundestag Juli 2009 beschlossen hatte. Aufgrund fehlender Überflugsrechte über Nachbarländer Afghanistans kamen die AWACS damals jedoch nicht zum Einsatz. Das Problem mit den Überflugrechten wurde in der Zwischenzeit gelöst. Seit Anfang 2011 kontrollieren AWACS-Flugzeuge der NATO den Luftraum über Afghanistan. Während sich die Bundesregierung zunächst noch gegen eine deutsche Beteiligung an den Flügen aussprach, hat sich die deutsche Haltung im Zuge der Einbringung der NATO in den Libyenkonflikt verändert. Ende März 2011 beschloss der Bundestag auf Antrag der Regierung die deutsche Beteiligung an den AWACS-Flügen der NATO über Afghanistan. Das von der Kanzlerin damit verbundene Ziel lautete, „unsere NATO-Verbündeten beim Einsatz von AWACS-Flugzeugen über Afghanistan [zu] entlasten“ (Bulletin 2011c). Nach dem Ende 2010 erfolgten Abzug der Tornados aus Afghanistan engagiert sich die Bundeswehr somit erneut in bzw. über ganz Afghanistan. In Einklang mit den aus dem Operational Code der Kanzlerin abgeleiteten Erwartungen kam es somit insgesamt zu einer deutlichen Ausweitung und Intensivierung des deutschen Afghanistaneinsatzes unter den Regierungen Merkel.Footnote 25

5 Schlussfolgerungen

Im Unterschied zu strukturellen Analysen deutscher Außenpolitik rückt dieser Beitrag individuelle Entscheidungsträger in den Mittelpunkt der Analyse. Untersucht werden die außenpolitischen Überzeugungen von Kanzlerin Angela Merkel und deren Einfluss auf die deutsche Afghanistanpolitik seit dem Amtsantritt der Kanzlerin im November 2005. Zur „Sichtbarmachung“ der Überzeugungen der Kanzlerin nutzt der Beitrag den Ansatz des Operational Code, der sowohl philosophische wie auch instrumentelle Überzeugungen von Akteuren in den Blick nimmt. Der Beitrag argumentiert, dass sich der Operational Code von Angela Merkel mit Blick auf Afghanistan im Laufe ihrer Regierungszeit verändert hat. Dies gilt sowohl für Elemente der philosophischen als auch der instrumentellen Überzeugungen. In beiden Dimensionen weisen die Veränderungen auf eine zusehends negativere Einschätzung der Entwicklung vor Ort sowie eine pessimistischere Einschätzung der eigenen Erfolgschancen hin. Konstant bleibt jedoch die Betonung partnerschaftlichen Handelns Deutschlands wie auch der Notwendigkeit des Erfolgs der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan. Die sich hieraus ergebende Erwartung für die deutsche Afghanistanpolitik – genauer für die deutsche Beteiligung an ISAF – lautet, dass sich diese während der Kanzlerschaft Merkels zusehends ausgeweitet wie auch intensiviert haben müsste. Diese Erwartung deckt sich mit der deutschen Politik der letzten Jahre, die nicht nur eine deutliche Aufstockung der personellen Beteiligung an ISAF mit sich brachte, sondern auch eine neue Qualität bei den übernommenen Aufgaben (u. a. QRF).

Aus Einzelfallstudien lässt sich freilich kein abschließendes Urteil über die Erklärungskraft eines Ansatzes ableiten. Gleichwohl deutet dieser Beitrag darauf hin, dass Überzeugungen – möglicherweise sogar maßgeblichen – kausalen Einfluss auf das Handeln von politischen Entscheidungsträgern haben. Aus dieser Anmerkung ergibt sich sogleich ein erster Ansatzpunkt für die weitere theoriegeleitete Forschung. Während dieser Beitrag einen Kongruenztest leistete, in dem er die aus den Überzeugungen abgeleiteten Erwartungen mit empirischen Entwicklungen abglich, ließe sich diese „Lücke“ zwischen Überzeugungen und Handlungen mit einem detaillierten Nachzeichnen der kausalen Verbindung in Form des „process tracing“ schließen. Der Fokus läge dann auf den intervenierenden Schritten zwischen Überzeugungen und Entscheidungen, sprich auf der Bewertung von neuen Informationen, der Situationsdefinition von Akteuren, der Identifizierung und Bewertung von Handlungsoptionen sowie schließlich der Auswahl einer Option. Auf diese Weise würden die mit einem Kongruenztest verbundenen Risiken einer Scheinkorrelation abgemildert. Ferner würde die Frage angegangen, ob Überzeugungen eine notwendige Bedingung für eine getroffene Entscheidung darstellen oder vielleicht „nur“ eine bestimmte Entscheidung favorisieren helfen. Ein anderer Ansatzpunkt für künftige Forschung wäre, alternative akteursbezogene Theorien bzw. Modelle auf die Afghanistanpolitik Merkels anzuwenden (z. B. Expected Utility Theory, Prospect Theory, Governmental Politics Model).

Um jenseits des Falls Afghanistan den Einfluss von Überzeugungen auf außenpolitisches Handeln zu untersuchen, ließe sich wiederum ein „kontrollierter Vergleich“ durchführen, sprich Fälle untersuchen, in denen Akteure in (möglichst) allen Aspekten bis auf ihre Überzeugungen – und somit ihrem Operational Code – übereinstimmen. Verhalten bzw. entscheiden sich die Akteure in einem solchen Fall unterschiedlich, bekräftigte dies den kausalen Einfluss von Überzeugungen. Die Voraussetzungen für einen solchen kontrollierten Vergleich sind freilich in den seltensten Fällen gegeben.

Die in diesem Beitrag gewählte „Bottom up-Perspektive“ auf Operational Codes bietet ebenfalls einen Ansatzpunkt für künftige Forschung. Die Sichtweise „von unten“ verweist darauf, dass Kanzlerin Merkel mit Blick auf andere Fragen der internationalen Politik andere Überzeugungen aufweisen könnte, etwa bezüglich des Umgangs mit aufstrebenden globalen Mächten wie China, mit der Demokratiebewegung im Nahen Osten oder mit nach Atomwaffen strebenden Staaten. Mittels der Untersuchung des Operational Code der Kanzlerin in diesen und anderen Fragen ließe sich ein vollständigeres Bild der außenpolitischen Überzeugungen der Kanzlerin herstellen. Alternativ könnten freilich auch die Ergebnisse dieses aus der „Bottom up-Perspektive“ geschriebenen Beitrags mit einer „Top down-Perspektive“ kontrastiert werden, d. h. auf der Grundlage von grundsätzlichen – und somit nicht themenbereichsspezifischen – außenpolitischen Reden von Kanzlerin Merkel ließe sich ein „allgemeiner“ Operational Code ableiten, der mit dem in diesem Beitrag aufgezeigten themenbereichsspezifischen Operational Code abgeglichen werden könnte. Stimmten die Operational Codes (weitgehend) überein, würde dies die Annahme unterstützen, dass Überzeugungen von Akteuren konsistent über Themenfelder hinweg sind. Eine fehlende Übereinstimmung wiese hingegen auf die Notwendigkeit von themenbereichsspezifischen Analysen von Operational Codes hin, wie sie dieser Beitrag geleistet hat.