1 Ankündigung für das Heft-Inhaltsverzeichnis

Dieser Beitrag befasst sich mit der Rolle des europäischen Netzverbundes und dem Beitrag von nicht-netzseitigen Flexibilitätsoptionen für den Ausgleich zwischen Erzeugung und Nachfrage im deutschen Stromsystem im Rahmen einer modellbasierten Szenarienanalyse für den Zeitraum 2020 bis 2050.

2 Problemstellung und Zielsetzung

Mit zunehmendem Anteil erneuerbarer Energien im deutschen Stromsystem steigt auch der Bedarf an Flexibilität, d. h. die Fähigkeit, Erzeugung und Verbrauch, die zeitlich auseinander fallen, in Einklang zu bringen. Grundsätzlich sind für den permanenten Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch zeitliche und räumliche Flexibilitätsmechanismen nutzbar: thermische Kraftwerke, verschiedene Speichertechnologien (z. B. Pumpspeicherkraftwerke), unterschiedliche Formen des Lastmanagements auf der Nachfrageseite sowie der Ausbau der Stromnetze für den großräumigen Ausgleich im europäischen Netzverbund.

Bis heute ist der Ausbau der Stromnetze eine intensiv untersuchte Möglichkeit um Flexibilität im System bereitzustellen (50Hertz Transmission GmbH et al. 2013; Agricola et al. 2013; Schröder et al. 2012). Ein Grund ist dafür, dass der Netzausbau eine der kostengünstigsten Flexibilitätsoptionen darstellt. In Zukunft werden neben dem Ausbau der Netze jedoch auch andere Optionen relevant, weshalb diese in den Fokus verschiedener Untersuchungen rücken.

In der Vergangenheit wurde besonders die Notwendigkeit von Speichertechnologien untersucht. Flexibilitätsoptionen wie das Lastmanagement gingen zwar in diverse Untersuchungen mit ein, wurden jedoch oft nur anteilig berücksichtigt (VDE 2012). So standen in der Vergangenheit besonders die Verwendung von Elektromobilität oder die lastorientierte Nutzung von Wärmepumpen oder Klimatisierung im Fokus (Nitsch et al. 2010). Eine Berücksichtigung der Flexibilisierung von industriellen Prozessen, die über diese Kategorien hinausgehen, findet nicht immer statt (Pape 2014) oder eine Aufschlüsselung wird generell unterlassen (Agora Energiewende 2014).

Vor diesem Hintergrund geht es in diesem Beitrag um die folgenden Leitfragen:

  • Wie entwickelt sich der Flexibilitätsbedarf in Deutschland in einem Stromsystem mit einem steigenden Anteil erneuerbarer Energien?

  • Welchen Beitrag können die verschiedenen Flexibilitätsoptionen hinsichtlich der Systemintegration erneuerbarer Energien und der Bereitstellung von Erzeugungsleistung leisten?

  • Welche Rolle spielt dabei der europäische Netzverbund für die Integration erneuerbarer Energien im Vergleich zu nicht-netzseitigen Flexibilitätsoptionen?

Diese Fragen werden im Rahmen einer Szenarienanalyse und mit Hilfe einer Modellkopplung beantwortet.

3 Modellkopplung: europäisches Netzmodell und Strommarktmodell PowerFlex

Um sowohl den europäischen Netzverbund als netzseitige Flexibilitätsoption als auch die verschiedenen Flexibilitätsoptionen auf der Erzeugungs- und Nachfrageseite sowie die unterschiedlichen Speicheroptionen mit einem ausreichenden Detaillierungsgrad betrachten zu können, werden das europäische Netzmodell von Energynautics und das Strommarktmodell PowerFlex des Öko-Instituts im Rahmen der Szenarienanalyse in einem zweistufigen Verfahren gekoppelt (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Grundsätzlicher Aufbau der Szenarienanalyse. (eigene Darstellung, Öko-Institut e. V.)

In einem ersten Schritt wird zunächst das Referenzszenario berechnet. Es beinhaltet nur den deutschen Strommarkt ohne die Flexibilitätsoption „europäischer Netzverbund“ und ohne zusätzliche Flexibilitätsoptionen in Deutschland, d. h. es findet noch keine Modellkopplung statt (Schritt 0).

Danach wird der europäische Netzverbund als netzseitige Flexibilitätsoption hinzugenommen (Schritt 1). Die Modellkopplung mit dem europäischen Netzmodell basiert dabei auf einer vorgelagerten Lastflusssimulation. Die in der Lastflusssimulation berechneten Import- und Exportflüsse zwischen Deutschland und den europäischen Nachbarländern werden dann im Strommarktmodell PowerFlex mit der Stromnachfrage verrechnet (vgl. Formel 2, Parameter \(Stromaustausc{h_t}\) sowie Abb. 3).

Die Lastflüsse im europäischen Netzverbund werden dabei mittels einer DC-Lastflusssimulation bestimmt, d. h. es werden nur die Wirkflüsse berücksichtigt. Die Lastflussberechnung ist in der Simulationsumgebung von Digsilent Power Factory mit Hilfe des Optimal Power Flow Algorithmus implementiert und basiert auf der im Netzmodell hinterlegten Merit Order für Erzeugungstechnologien sowie der Zuordnung von Last und Erzeugungsleistung zu den Netzknoten. Durch Einbindung der Lastflusssimulation in einen Optimierer lassen sich die Erzeuger an den einzelnen Knoten nach Bedarf so beeinflussen (z. B. Abregelung von EE), dass es zu keiner Überlastung der Netze kommt (Redispatch) (vgl. Abschn. 3.1). Durch Festlegung der Rahmenbedingungen (z. B. maximal erlaubte Abregelung) kann somit bei Erkennung einer Netzüberlast an der jeweiligen Stelle ein Netzausbau vorgesehen werden. Die für Deutschland unterstellten Eingangsparameter (Tab. 1) sind auch im europäischen Netzmodell hinterlegt.

Tab. 1 EE-Anteil, Stromnachfrage und verfügbare elektrische Leistung des thermischen Kraftwerksparks in Deutschland

Darauf aufbauend werden abschließenden in Schritt 2 zusätzlich zu den in der Lastflusssimulation berechneten Import- und Exportflüssen nicht-netzseitige Flexibilitätsoptionen in Deutschland im Strommarkmodell PowerFlex sowohl einzeln als auch in Summe zugeschaltet.

3.1 Europäisches Netzmodell

Das europäische Übertragungsnetzmodell bildet die Höchstspannungsebene in Europa ab und wurde von Energynautics in den vergangen Jahren entwickelt und validiert. Varianten des Modells wurden in verschiedenen Projekten zur Berechnung des nötigen Netzausbaus verwendet, so beispielsweise im Rahmen mehrerer von Greenpeace beauftragter Studien zur Integration hoher EE-Anteile in das europäische Übertragungsnetz (Teske 2014; Tröster et al. 2011) sowie in der in Zusammenarbeit mit dem Energiewirtschaftlichen Institut in Köln erstellten Roadmap 2050 (Glotzbach et al. 2011). Es basiert auf öffentlich erhältlichen Informationen der ENTSO-E (European Network of Transmission System Operators for Electricity), welche die Netzstrukturen in Europa skizzieren.

Das Original-Modell umfasst das komplette ENTSO-E Netz, d. h. sowohl Kontinentaleuropa, als auch Groß Britannien, Irland, Skandinavien und die baltischen Staaten. Da der Fokus in diesem Projekt auf Deutschland liegt, wurde es dahingehend vereinfacht, dass nur Deutschland und die direkten Nachbarn detailliert nachgebildet werden, während entferntere Regionen, wie z. B. die Spanische Halbinsel, in einem Knoten zusammengefasst werden. Abbildung 2 zeigt die Knotenpositionen und die geographische Überdeckung des verwendeten Netzmodells.

Abb. 2
figure 2

Vereinfachtes Netzmodell des europäischen Übertragungsnetzes. (eigene Darstellung, Energynautics GmbH)

Das deutsche Netz ist durch 36 Knoten und 96 Verbindungsleitungen nachgebildet, von denen 21 Leitungen grenzüberschreitend sind. Die Knoten wurden so platziert, dass sie Lastzentren bzw. Erzeugungszentren darstellen. Leitungen zwischen diesen Zentren wurden aggregiert und so skaliert, dass sie den Übertragungskapazitäten der realen Leitungen entsprechen.

Der verwendete Algorithmus zur Bestimmung der Einspeisung bildet die Kraftwerks Merit Order in vereinfachter Form ab und verwendet zwei Erzeugungsparameter pro Knoten: Die verfügbare EE-Leistung als Mindesterzeugung abzüglich der erlaubten Abregelung sowie die Maximalerzeugung, die sich aus der Leistung von erneuerbaren und konventionellen Kraftwerken zusammensetzt. Der Optimierer sorgt dafür, dass an keinem Knoten die Mindesterzeugung unterschritten wird und zudem die Nachfrage gedeckt wird. Um diese Vorgaben einhalten zu können, ist ggf. Netzausbau erforderlich. Dieser wird somit entweder durch hohe erneuerbare oder durch fehlende konventionelle Kapazitäten verursacht. Diese Vorgehensweise erlaubt Aussagen darüber ob

  • genug Netzkapazitäten vorhanden sind, um lokal überschüssige Erneuerbare zu anderen Knoten zu exportieren und

  • zu jedem Zeitpunkt genug konventionelle Kapazitäten an den entsprechenden Netzknoten verfügbar sind, um die Residuallast zu decken.

Die den berechneten Lastflüssen zugrunde liegende Einsatzentscheidung des Optimierers priorisiert erneuerbare Energien und lastnahe Erzeugung und stellt keine gesamtkostenminimale Einsatzentscheidung dar. Der Fokus liegt vielmehr auf einer Lösung, die einen großräumigen Leistungsausgleich im europäischen Netzverbund beinhaltet. Die Nutzung der Erzeugungskapazitäten erfolgt dabei länderübergreifend. Dies entspricht einem Flow-Based Market Coupling mit grenzüberschreitendem Redispatch.

3.2 Strommarktmodell PowerFlex

Das am Öko-Institut entwickelte Strommarktmodell PowerFlex ist ein Fundamentalmodell, welches thermische Kraftwerke, die Stromeinspeisung aus erneuerbaren Energien und verschiedene Flexibilitätsoptionen kostenminimal einsetzt, um die Stromnachfrage und den Bedarf an Regelleistung zu decken (Öko-Institut e. V. 2014). Das Modell ist als gemischt-ganzzahliges, lineares Optimierungsproblem formuliert, in GAMS implementiert und wird mit dem cplex-Solver (Simplex Algorithmus) gelöst.

Die Minimierung der Gesamtkosten (Variable \({K^{ges}}\)) im Optimierungszeitraum t stellt die Zielfunktion des Strommarktmodells dar (Formel 1). Die Gesamtkosten setzen sich dabei aus den Grenzkosten der Kraftwerke (Parameter \(K_{kw}^{Grenz}\) bzw. \(K_{ee}^{Grenz}\)) multipliziert mit der jeweiligen elektrischen Einspeiseleistung (Variable \(P_{kw,t}^{elektrisch}\) bzw. \(P_{ee,t}^{elektrisch}\)) im konventionellen und erneuerbaren Kraftwerkspark, den variablen Kosten der Fernwärmeerzeugung (Parameter \(K_{}^{Kessel}\)) multipliziert mit der jeweiligen thermischen Leistung der Heizkessel (Variable \(P_{kw,t}^{Kessel}\)) und den variablen Kosten der einzelnen Flexibilitätsoptionen (Parameter \(K_{flex}^{{\mathop\textrm{var}}}\)) für die Beladeleistung von Speichern bzw. die Lasterhöhung bei flexiblen Verbrauchern (Variable \(P_{flex,t}^{Beladung}\)) zusammenFootnote 1. Die variablen Kosten sind somit vollständig der Stromverbrauchsseite der Flexibilitätsoption zugeordnet.

Für die Flexibilitätsoption Power-to-Gas werden in dem Parameter \(K_{flex}^{{\mathop\textrm{var}}}\) zudem Erlöse für die Einspeisung von synthetischem Wasserstoff bzw. Erdgas berücksichtigt, so dass der Parameter \( K_{flex}^{{\mathop{\rm var}} } \) für Power-to-Gas negativ wird. Er ist so gesetzt, dass der Betrieb der Elektrolyseure nur mit den Grenzkosten Erneuerbarer Energien zu einer Minimierung der Zielfunktion führt und der Einsatz konventioneller Kraftwerke für Power-to-Gas unterbleibt. Bei Power-to-Heat konkurrieren die Heizstäbe mit den variablen Kosten des Heizkessels bzw. den Grenzkosten der KWK-Anlage.

Formel 1: Zielfunktion im Strommarktmodell PowerFlex

$$ {K^{ges}}= \sum_t {(\sum_{kw} {K_{kw}^{Grenz} \cdot P_{kw,t}^{elektrisch} + \sum_{ee} {K_{ee}^{Grenz} \cdot P_{ee,t}^{elektrisch}}+ \sum_{kw} {K_{}^{Kessel} \cdot P_{kw,t}^{Kessel}}+ \sum_{flex} {K_{flex}^{{\mathop\textrm{var}}}\cdot P_{flex,t}^{Beladung}}}}) $$

3.2.1 Stromnachfrage, Fernwärmenachfrage und Regelleistung

Die konventionellen und erneuerbaren Kraftwerke müssen zusammen mit den Speichern, anderen Flexibilitätsoptionen und dem Stromaustausch (Parameter \(Stromaustausc{h_t}\)) mit dem europäischen Netzverbund die Stromnachfrage (Parameter \(Last_t^{}\)) in jedem Zeitschritt t decken (Formel 2) (Abb. 3). Der Stromaustausch mit dem europäischen Netzverbund wird in einer der Strommarktmodellierung vorgelagerten Lastflusssimulation berechnet (vgl. Abschn. 3).

Das Stromnachfrageprofil setzt sich aus der Netzlast des betrachteten Referenzjahres und einer angenommenen Gleichverteilung des Industriestromanteils (Eigenerzeugung) zusammen. Dieses normierte Lastprofil wird mit dem szenario-spezifischen Stromverbrauch skaliert.

Formel 2: Nebenbedingung zur Deckung der Stromnachfrage

$$ Las{t_t} = \sum_{kw} {P_{kw,t}^{elektrisch} + \sum_{ee} {P_{ee,t}^{} + \sum_{flex} {P_{flex,t}^{Entladung}}- \sum_{flex} {P_{flex,t}^{Beladung}}+ Stromaustausc{h_t}}}$$

Der Bedarf an Regelleistung wird vereinfacht über eine ganzjährig durch thermische Kraftwerke zu deckende Sockellast (Parameter \(Sockellas{t_t}\)) berücksichtigt (Formel 3) (Abb. 3). Im Szenario-Jahr 2020 wird eine Sockellast in Höhe von 15 GW unterstellt, in den Szenario-Jahren 2030 und 2050 fällt diese auf 10 GW bzw. 5 GW ab (Ritter et al. 2014). Damit wird unterstellt, dass die rotierende Reserve durch thermische Kraftwerke langfristig durch andere Technologien ersetzt wird.

Formel 3: Nebenbedingung zur Deckung der Sockellast

$$ Sockellas{t_t} \le \sum_{kw} {P_{kw,t}^{elektrisch}}$$

Für den Einsatz der KWK-Kraftwerke ist neben der Deckung der Stromnachfrage auch die Deckung der Fernwärmenachfrage (Parameter \(Last_{kw,t}^{Fernwaerme}\)) relevant (Formel 4). Neben dem KWK-Kraftwerk (Variable \(P_{kw,t}^{thermisch}\)) stehen auch ein Heizkessel (Variable \(P_{kw,t}^{Kessel}\)) und ein Heizstab (Variable \(P_{kw,t}^{Heizstab}\)) zur Verfügung (Abb. 3). Zur Flexibilisierung der KWK-Anlage steht darüber hinaus ein Wärmespeicher (Variable \(Speicher_{kw,t}^{Waerme}\)) bereit. Die Wärmespeicherung ist mit geringen stündlichen Verlusten in Höhe von \({\eta_{Waerme}}= 0,995\)verbunden.

Abb. 3
figure 3

Nebenbedingungen zur Deckung der Strom- und Fernwärmenachfrage sowie der Sockellast. (eigene Darstellung, Öko-Institut e. V.)

Formel 4: Nebenbedingung zur Deckung der Fernwärmenachfrage

$$ Last_{kw,t}^{Fernwaerme} = P_{kw,t}^{thermisch} + P_{kw,t}^{Kessel} + P_{kw,t}^{Heizstab} + Speicher_{kw,t - 1}^{Waerme} \cdot {\eta_{Waerme}}- Speicher_{kw,t}^{Waerme} $$

3.2.2 Betrieb des konventionellen und erneuerbaren Kraftwerksparks

Die einzelnen Kraftwerke werden im Modell detailliert mit Hilfe technischer und ökonomischer Parameter beschrieben. Thermische Kraftwerke mit einer installierten elektrischen Leistung größer 100 MW werden unter Berücksichtigung der Betriebszustände „An- und Abfahren“ und „Volllastbetrieb“ abgebildet. Diese Differenzierung führt zu einem gemischt-ganzzahligen Optimierungsproblem. Neben technologiespezifischen Parametern, wie z. B. Mindestlast oder Laständerungsgradienten, werden auch unterschiedliche Wirkungsgrade in den einzelnen Betriebszuständen berücksichtigt. Für Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) ist auch die maximale Fernwärmeauskopplung zur Skalierung eines normierten Wärmenachfrageprofils relevant (Formel 4).

Kleinere thermische Stromerzeugungsanlagen werden in technologie- und baujahrspezifischen Gruppen zusammengefasst und mit Hilfe von typspezifischen Parametern charakterisiert. Diese Anlagen können ihre Leistung entlang eines vorgegebenen Lastgradienten über den gesamten Leistungsbereich ändern. Biomassekraftwerke, die Biogas, Holz oder Pflanzenöl einsetzen, werden über Technologieaggregate als Teil des thermischen Kraftwerksparks im Modell abgebildet. Ihr Einsatz ist unter Berücksichtigung von technologiespezifischen Restriktionen ebenfalls flexibel und Teil der Optimierung.

Das zur Verfügung stehende Stromangebot aus Laufwasser, Photovoltaik, Wind Onshore und Wind Offshore wird in stündlicher Auflösung exogen vorgegeben. Diese Angebotsprofile basieren auf normierten und um den unterjährigen EE-Zubau bereinigten historischen Einspeiseprofilen eines Referenzjahres. Die tatsächlich eingespeiste Menge an Wasser-, Wind- und PV-Strom wird modellendogen bestimmt, so dass das zur Verfügung stehende fluktuierende Stromangebot notfalls auch abgeregelt werden kann (z. B. bei negativer Residuallast und unzureichender Speicherkapazität). Im Gegensatz dazu wird für must-run-Kraftwerke, wie z. B. Gichtgas- oder Müllverbrennungsanlagen, eine gleichverteilte Stromeinspeisung unterstellt, die nicht abgeregelt werden kann.

Eine gleichmäßigere Einspeisung von Wind- und PV-Anlagen wird über eine Anpassung der dargebotsabhängigen Einspeiseprofile als Variante bei den Inputparametern des Modells abgebildet. Bei PV-Anlagen betrifft dies die Einbeziehung von Ost-West ausgerichteten Anlagen und bei Windenergieanlagen den Einsatz von Schwachwindturbinen. Dadurch fallen weniger EE-Überschüsse an, und es steht mehr gesicherte Erzeugungsleistung zur Verfügung.

3.2.3 Virtuelle Backupkraftwerke und EE-Überschüsse

Damit das Optimierungsproblem in jedem Zeitschritt lösbar ist, enthält der konventionelle Kraftwerkspark zusätzliche „virtuelle Backupkraftwerke“. Diese Kraftwerke sind am Ende der Merit Order einsortiert und verlängern diese mit steigenden Grenzkosten je Backupkraftwerk. Der Einsatz von Backupkraftwerken entspricht dann einem Erzeugungsdefizit. Aus dem Einsatzprofil der virtuellen Backupkraftwerke werden die Ergebnisindikatoren „Kapazitätsbedarf“ (maximale Leistung der eingesetzten Backupkraftwerke) und „Strommenge Backup“ (insgesamt erzeugte Strommenge aller Backupkraftwerke) auf der Defizitseite gebildet (vgl. Abschn. 5.1).

Das nicht genutzte EE-Angebot bildet den Ergebnisindikator „Strommenge EE-Überschuss“. Da EE-Überschüsse nicht mit einer steigenden Pönale in der Zielfunktion belegt sind, ist die Ausweisung des maximalen EE-Überschusses im Gegensatz zur maximalen Leistung der virtuellen Backupkraftwerke kein verlässlicher Ergebnisindikator.

3.2.4 Abbildung von Flexibilität

Die energiewirtschaftliche Einbindung von verschiedenen Flexibilitätsoptionen in die Strommarktmodellierung ist ein zentrales Element des PowerFlex Modells. Folgende Flexibilitätsoptionen sind modular in die Strommarktmodellierung integriert:

  • Flexibilisierung von Biogasanlagen und KWK-Kraftwerken

  • Pumpspeicherkraftwerke und Druckluftspeicherkraftwerke

  • Lastmanagement

  • Elektromobilität

  • Power-to-Heat

  • Power-to-Gas

Die Erschließung von zusätzlicher Flexibilität im Kraftwerkspark betrifft in erster Linie KWK- und Biogasanlagen. Biogas-BHKW müssen ein kontinuierlich anfallendes Biogasprofil (Parameter \(Biogasanfal{l_{kw,t}}\)) verwerten. Flexibilität wird bei Biogasanlagen über einen Biogasspeicher (Variable \(Speicher_{kw,t}^{Biogas}\)) und zusätzliche BHKW-Kapazität (höhere obere Schranke der Variable \({P_{kw,t}}\)) erschlossen, so dass die Stromerzeugung reduziert und zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden kann (Ackermann et al. 2014).

Formel 5: Nebenbedingung für die Bilanzgleichung des Biogasspeichers

$$ {P_{kw,t}}=(Biogasanfal{l_{kw,t}}- Speicher_{kw,t}^{Biogas} + Speicher_{kw,t - 1}^{Biogas}) \cdot \eta_{kw}^{el} $$

Der Betrieb von KWK-Anlagen wird mit einem Wärmespeicher oder mit zusätzlichen Wärmequellen, wie z. B. einem Heizkessel oder einem elektrischen Heizstab, flexibilitsiert (Formel 4) (vgl. Abschn. 3.2.1).

Pumpspeicherkraftwerke stellen eine bereits etablierte Flexibilitätsoption dar. Sie sind im Modell kraftwerksscharf mit den technischen Parametern Pump- und Turbinenleistung, Speicherkapazität und Wirkungsgrad hinterlegt. Die Bilanzgleichung der Pumpspeicherkraftwerke berücksichtigt sowohl die Turbinenleistung (Variable \(P_{flex,t}^{Entladung}\)) als auch die Pumpleistung (Variable \(P_{flex,t}^{Beladung}\)) und den Speicherfüllstand (Variable \(Speicher_{flex,t}^{elektrisch}\)). Der Speicherwirkungsgrad \({\eta_{flex}}\) ist vollständig der Speicherbeladung zugeordnet. Druckluftspeicherkraftwerke sind analog dazu implementiert.

Formel 6: Nebenbedingung für die Bilanzgleichung der Pumpspeicherkraftwerke

$$ P_{flex,t}^{Entladung} = P_{flex,t}^{Beladung} \cdot {\eta_{flex}}- Speicher_{flex,t}^{elektrisch} + Speicher_{flex,t - 1}^{elektrisch}\ \forall{} flex:flex = PSW $$

Lastmanagement (Demand Side Management, DSM) als Flexibilitätsoption auf der Nachfrageseite setzt sich aus zahlreichen DSM-Prozessen in privaten Haushalten, im Sektor Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (GHD) sowie in der Industrie zusammen. Als flexible Verbraucher werden in erster Linie folgende Prozesse betrachtet:

  • Prozesse mit einem thermischen Speicher, wie z. B. Geräte zur elektrischen Kälte- und Wärmebereitstellung (Kühlhäuser, Wärmepumpen, Elektroboiler, Klimatisierung,…)

  • Prozesse, die bisher schon im Intervallbetrieb betrieben werden (z. B. Pump- und Rührwerke)

  • Prozesse mit zeitvariablem Einsatz (manuelles Lastmanagement), wie z. B. Wasch- und Spülmaschinen

Die Flexibilitätsoption Lastmanagement wird im PowerFlex Modell mit Hilfe eines virtuellen Durchflussspeichers modelliert (Formel 7). Die zu deckende Lastkurve der einzelnen DSM-Prozesse (Parameter \(Las{t_{flex,t}}\)) wird dabei exogen als Modellparameter vorgegeben.

Formel 7: Nebenbedingung für die Bilanzgleichung von Lastmanagement

$$ Las{t_{flex,t}}= P_{flex,t}^{Beladung} - Speicher_{flex,t}^{elektrisch} + Speicher_{flex,t - 1}^{elektrisch} \cdot {\eta_{flex}}\ \forall{} flex:flex = DSM $$

Die Kapazität des virtuellen Durchflussspeichers je Zeitschritt ist ebenfalls ein Modellparameter (obere Schranke der Füllstandvariable \(Speicher_{flex,t}^{elektrisch}\)) und entspricht dem Produkt aus flexibler Last und der möglichen Verschiebedauer des DSM-Prozesses. In Zeiten, in denen kein Lastmanagement stattfinden kann (z. B. nachts bei manuellem Lastmanagement in privaten Haushalten) ist die Speicherkapazität Null. Das Verschieben des Stromverbrauchs ist mit geringen Speicherverlusten je Stunde in der Höhe von \({\eta_{flex}}= 0,995\ \forall{} flex:flex = DSM\) verbunden. Der tatsächliche Stromverbrauch der einzelnen DSM-Prozesse wird über die Variable \(P_{flex,t}^{Beladung}\) modellendogen bestimmt und ist nach oben durch die installierte Leistung des DSM-Prozesses beschränkt.

Analog zur Flexibilitätsoption Lastmanagement ist auch die Flexibilitätsoption „smart charging“ im Modul Elektromobilität aufgebaut. Die Variable Stromverbrauch zur Beladung der Elektrofahrzeuge wird in diesem Fall jedoch mit einem zeitabhängigen Profil beschränkt, welches die Stillstandzeiten der Fahrzeuge bzw. die Verfügbarkeit von Ladestationen darstellt. Die Option zur Stromrückspeisung und damit die Nutzung der Elektrofahrzeuge als Batterie („vehicle-to-grid“) ist ebenfalls im Modul Elektromobilität integriert. Im Rahmen der hier diskutierten Studie wird dies jedoch nicht betrachtet.

Die Flexibilitätsoptionen Power-to-Heat und Power-to-Gas sind im Modell als zusätzliche Stromverbraucher implementiert. Im Fall von Power-to-Heat werden KWK-Anlagen mit elektrischen Heizstäben als zusätzliche Wärmequelle ausgestattet (vgl. \(P_{kw,t}^{Heizstab}\) in Formel 4). Reine Heizsysteme, wie z. B. Zentralheizungen (\(P_t^{Heizkessel}\)), werden zu einer Technologiegruppe zusammengefasst und ebenfalls mit einem Heizstab nachgerüstet (\(P_t^{Heizstab}\)). Dieses bivalentes System deckt über einen Wärmespeicher (\(Speicher_t^{Waerme}\)) die Wärmenachfrage (\(Last_t^{Waerme}\)) (Formel 8).

Formel 8: Nebenbedingung für die Bilanzgleichung von Power-to-Heat bei reinen Heizsystemen

$$ Last_t^{Waerme} = P_t^{Heizkessel} + P_t^{Heizstab} + Speicher_{t - 1}^{Waerme} \cdot {\eta_{Waerme}}- Speicher_t^{Waerme} $$

In der Flexibilitätsoption Power-to-Gas werden sowohl die Wasserstoffelektrolyse und Wasserstoffbeimischung in das Erdgasnetz als auch die katalytische Methanisierung von Wasserstoff mit biogenem CO2 aus Biogasanlagen und der Methaneinspeisung in das Erdgasnetz berücksichtigt. Die maximale elektrische Leistungsaufnahme der Power-to-Gas Prozessketten (obere Schranke der Variable \(P_{flex,t}^{Beladung},\forall flex:flex = PtG\) in Formel 2) wird dabei vom Erdgasverbrauch je Zeitschritt, der Wasserstoffbeimischungsgrenze und der Verfügbarkeit von biogenem CO2 aus Biogasanlagen bestimmt.

3.2.5 Rollierender Optimierungszeitraum

Die zeitliche Auflösung des Optimierungsproblems beträgt eine Stunde, der Betrachtungszeitraum liegt bei einem Kalenderjahr (d. h. 8760 Zeitschritte). Innerhalb dieses Betrachtungszeitraums werden sequenziell Lösungen für einen Optimierungszeitraum von jeweils drei Tagen (d. h. 72 Zeitschritte) berechnet. Dieser Optimierungszeitraum rolliert mit einer Schrittweite von einem Tag durch das Kalenderjahr, so dass insgesamt 363 Optimierungsprobleme gelöst werden. Als Startpunkt für den jeweils aktuellen Optimierungszeitraum dient Zeitschritt 24 des vorangegangenen Optimierungszeitraums. Die Ergebnisse der Zeitschritte 25 bis 72 werden somit im nachfolgenden Optimierungszeitraum überschrieben. Hierdurch wird ein über einen Optimierungszeitraum hinausgehender Speicherbetrieb ermöglicht.

Die Länge des Optimierungszeitraums und der Schrittweite sind grundsätzlich frei einstellbar, sie werden jedoch von der damit einhergehenden Problemkomplexität und den zur Verfügung stehenden Rechnerressourcen limitiert. Ein Optimierungszeitraum von drei Tagen entspricht in etwa den gängigen Prognosen für Last- und EE-Schwankungen und damit auch der Vorausschau der realen Marktakteure.

Flexibilitätsoptionen werden im Strommarktmodell PowerFlex nur dann eingesetzt, wenn die Speicherbeladung (bzw. Lasterhöhung) und die Speicherentladung (bzw. Lastreduktion) innerhalb eines Optimierungszeitraums stattfinden kann und dies zur Minimierung der Zielfunktion führt. Der typische Speicherzyklus sollte daher deutlich kleiner 72 h betragen. Bis auf Power-to-Gas und teilweise auch Power-to-Heat ist das für alle betrachteten Flexibilitätsoptionen der Fall.

Um dieses Problem zu umgehen, wird bei Power-to-Gas nur die Speicherbeladung berücksichtigt. Die Einsatzentscheidung ist abhängig von den Kosten des Grenzkraftwerks und damit von den erzielbaren Erlösen für die Einspeisung von synthetischem Wasserstoff bzw. synthetischem Methan (Formel 1). Die Rückverstromung von Power-to-Gas ist nicht Teil der Modellierung, sie kann jedoch ex-post dem Einsatz von Gaskraftwerken oder der Nutzung in anderen Sektoren zugeordnet werden. Power-to-Gas ist somit als offenes Speichersystem abgebildetFootnote 2.

Power-to-Heat konkurriert mit der Wärmebereitstellung durch Heizkessel oder KWK-Anlagen. Auch in diesem Fall kann eine Verschiebung im Wärmeerzeugungsmix ex-post dem Stromsystem angerechnet werdenFootnote 3.

Für den langfristigen Einsatz von Speichern und Flexibilität ist ein Optimierungszeitraum von drei Tagen jedoch zu kurz gewählt. So kann beispielsweise bei einer mehrwöchigen Windflaute der optimale Entladezeitpunkt eines Speichers im Modell nicht erkannt werden. Dies ist allerdings auch in der Realität aufgrund des begrenzten Prognosehorizonts nicht der Fall.

3.3 Kritische Würdigung des Modellansatzes

Die in diesem Beitrag verwendete Modellkopplung integriert den europäischen Netzverbund als Flexibilitätsoption in die Einsatzoptimierung für nicht-netzseitige Flexiblitätsoptionen. Er stellt damit eine Weiterentwicklung im Vergleich zu Speicheranalysen dar, die den europäischen Netzverbund nicht berücksichtigen (wie z. B. (VDE 2012)).

Die dabei unterstellte Priorisierung der Flexibilitätsoptionen (der europäische Netzverbund steht an erster Stelle, erst danach decken die nicht-netzseitigen Optionen den verbleibenden Flexibilitätsbedarf) begründet sich zunächst damit, dass der europäische Netzverbund im Gegensatz zu den meisten nicht-netzseitigen Flexibilitätsoptionen bereits heute schon besteht. Darüber hinaus deckt sich diese Priorisierung mit dem Ziel der EU-Kommission den europäischen Binnenmarkt für Strom und Gas zu stärken (Europäisches Parlament 2009), was den europäischen Netzverbund als gut ausgebaute Infrastruktur ebenfalls voraussetzt.

Auch würde bei einem simultanen Ansatz das Netz als Flexibilitätsoption bevorzugt eingesetzt werden um EE-Überschüsse zu integrieren und fossile Stromerzeugung an anderer Stelle zu substituieren, da das Netz im Vergleich zu Speichern wesentlich geringere Wirkungsgradverluste aufweist. Zudem setzt eine simultane Modellierung von netzseitiger und nicht-netzseitiger Flexibilität voraus, dass Lastflusssimulation, Kraftwerkseinsatz und Einsatz von Flexibilität- und Speicheroptionen in einem Gesamtmodell integriert sind. Dies würde im Vergleich zu den beiden Einzelmodellen zu deutlichen Einbußen beim Detaillierungsgrad führen.

Auf eine erneute Lastflusssimulation, die auch den in der Strommarktmodellierung berechneten Einsatz von Kraftwerken und Flexibilitätsoptionen in Deutschland in einem iterativen Ansatz berücksichtigt, haben wir zudem verzichtet. In diesem Fall hätten für Deutschland die Einsatzentscheidungen des Optimal Power Flow Algorithmus im europäischen Netzmodell mit denen des Cplex Algorithmus im PowerFlex Modell konkurriert.

4 Szenariendefinition und Szenarienanalyse

4.1 Entwicklung von Stromnachfrage, Kraftwerkspark und Ausbau erneuerbarer Energien in Deutschland

In der Szenarienanalyse werden die Szenario-Jahre 2020, 2030 und 2050 betrachtet, welche für Deutschland die Annahmen der BMU Leistudie hinsichtlich EE-Ausbau und Stromnachfrage möglichst detailliert nachbilden (Nitsch et al. 2012a, b). Ergänzend zur BMU Leistudie wird für das Szenario-Jahr 2050 noch ein weiteres Szenario betrachtet, in dem der EE-Anteil in Deutschland auf 97 % erhöht wird. Die so gewählte Szenariendefinition umfasst somit auch den Bereich der Transformation des Stromsystems mit einer nahezu vollständig auf erneuerbaren Energien beruhenden Erzeugung.

Im Gegensatz zur BMU Leistudie wird in diesem Projekt jedoch von einem „sterbenden“ konventionellen Kraftwerkspark ausgegangen. Dazu werden alle heute im Betrieb bzw. im Bau befindlichen Kraftwerke gemäß ihrer technischen LebensdauerFootnote 4 nach und nach abgeschaltet (Tab. 1). BHKW sind von dieser Vorgehensweise ausgenommen. Die BHKW-Leistung entspricht der BMU Leitstudie im Szenario A’. Der Rückgang der Kernenergie folgt dem vereinbarten Ausstieg aus der Kernkraft in Deutschland bis zum Jahr 2022.

4.2 Entwicklung von Stromnachfrage, Ausbau erneuerbarer Energien und Netzausbau in Europa

Die getroffenen Annahmen zur Entwicklung der erneuerbaren Energien und der Stromnachfrage in Europa basieren größtenteils auf dem EU Energiefahrplan 2050 (European Commission 2011). Beim Ausbau des europäischen Netzverbundes wird zwischen den drei Unterszenarien „kein Netzausbau (2012er Netz)“, „minimaler Netzausbau“ und „maximaler Netzausbau“ unterschieden. Das Unterszenario „minimaler Netzausbau“ basiert auf den Angaben des Zehnjahresplans der Europäischen Übertragungsnetzbetreiber (Ten Year Network Development Plan, TYNDP) bzw. dessen linearer Fortschreibung bis 2050 (ENTSO-E 2014). Im Unterszenario „maximaler Netzausbau“ wird hingegen ausgehend vom TYNDP Netz der zusätzlich benötigte Netzausbau modellendogen bestimmt (Tab. 2). Der Ausbau erfolgt dabei so, dass der erzeugte EE-Strom vollständig im System aufgenommen werden kann, d. h. es findet keine EE-Abregelung in der Lastflusssimulation statt.

Tab. 2 Definition der Szenario-Jahre hinsichtlich EE-Anteil, Stromnachfrage und Netzausbau in Europa (ENTSO-E 2014; European Commission 2011)

4.3 Potenziale für Flexibilitätsoptionen

Die grundsätzliche Leitfrage der Potenzialerhebung ist, inwieweit die technischen Potenziale ausreichen, um zukünftig den Flexibilitätsbedarf zu decken. Heutige ökonomische Rahmenbedingungen beschränken in dieser Betrachtung das verfügbare Gesamtpotenzial nicht. Das in der Szenarienanalyse zur Verfügung stehende Potenzial wird mit Hilfe eines Erschließungsfaktors abgeleitet, welcher verschiedene Faktoren, wie beispielsweise die Anzahl der Akteure, die spezifische Leistung je Flexibilitätsoption oder die benötigte Zeitspanne für die Bau- und Inbetriebnahme, berücksichtigt.

Die in der Szenarienanalyse verwendeten Potenziale für Flexibilitätsoptionen basieren auf einer umfangreichen Literaturstudie, wobei die Unsicherheit naturgemäß von 2020 bis 2050 zunimmt. Die verwendeten Potenziale werden in Flexibilitätspotenziale zur Deckung eines Erzeugungsdefizits sowie in Flexibilitätspotenziale zur Verwendung von EE-Überschüssen unterschieden. Das Flexibilitätspotenzial ist vor allem in Defizitsituationen zur Gewährleistung der Lastdeckung von Bedeutung. EE-Überschüsse können notfalls auch abgeregelt werden.

Bei Speichern wird das Flexibilitätspotenzial zur Defizitdeckung durch die Entladeleistung, bei Lastmanagement durch das Lastreduktionspotenzial und bei flexiblen Erzeugungsanlagen durch die flexibilisierte Erzeugungsleistung bestimmt. Das technische Gesamtpotenzial hängt bei Lastmanagement auch von der Entwicklung der Stromnachfrage ab. Die in der Szenarienanalyse verwendeten Potenziale sind nachfolgend in Tab. 3 dargestellt.

Tab. 3 In der Szenarienanalyse verwendete Potenziale für Speicherentladung, Lastreduktion oder flexibilisierte Erzeugungsleistung

Dabei fällt u. a. das hohe Potenzial für Pump- und Druckluftspeicherkraftwerke sowie das hohe Lastreduktionspotenzial von Elektromobilität als zunehmend relevanter Stromverbraucher auf. Der angenommene Stromverbrauch von Elektrofahrzeugen basiert dabei auf verschiedenen Fahrprofilen und Fahrzeugtypen sowie einer entsprechend zusammengesetzten Ladeinfrastruktur für die zukünftige Fahrzeugflotte (vgl. hierzu (Hacker et al. 2011, 2014)).

Für Pumpspeicherkraftwerke wird davon ausgegangen, dass bis 2020 bis auf die Erweiterung des Kraftwerks ViandenFootnote 5 um 200 MW kein Zubau an Kraftwerkskapazität stattfinden wird. Für das Jahr 2030 wird das Potenzial für neue Pumpspeicherkraftwerke basierend auf den heute in Planung befindlichen Projekten abgeschätzt (BDEW 2013). Für das Szenario-Jahr 2050 werden die Potenzialstudien für Thüringen und Baden-Württemberg herangezogen (EnBW Energie für Baden-Württemberg AG 2012; Schmid et al. 2012). Das in diesen Studien eher hoch eingeschätzte Potenzial wird in dieser Arbeit für Gesamtdeutschland angenommen, da auch in anderen Bundesländern von weiteren Potenzialen für den Zubau von Pumpspeicherkraftwerken ausgegangen werden kann.

Für Druckluftspeicherkraftwerke wird für die Zeitspanne 2030 bis 2050 ein Zubau in Höhe von 30 GW unterstellt. Dieses Potenzial ist v. a. in Nord- und Mitteldeutschland und damit in der Nähe von Windstandorten lokalisiert. Da es bislang jedoch nur vereinzelt Pilotanlagen gibt, ist dieses Potenzial mit einer höheren Unsicherheit behaftet und setzt zudem eine hohe Umsetzungsrate im Zeitraum 2030 bis 2050 voraus.

Zur Verwertung von EE-Überschüssen ist bei Speichern die Beladeleistung, bei Lastmanagement das Potenzial zur Lasterhöhung und bei flexibilisierten Erzeugungsanlagen die Möglichkeit zur Verringerung der Erzeugungsleistung relevant. Dieses Potenzial ist in etwa mit dem Potenzial zur Deckung von Erzeugungsdefiziten vergleichbar (Tab. 3).

Durch die Umwandlung von Strom in Wärme bzw. Wasserstoff oder Methan können auch Power-to-Heat und Power-to-Gas einen Beitrag als zusätzliche Stromverbraucher leisten und EE-Überschüsse nutzen. Die dafür ermittelten Potenziale sind in Tab. 4 aufgeführt. Die installierte Leistung von Power-to-Heat entspricht der maximalen Fernwärmeauskopplung von KWK-Anlagen. Das in der Szenarienanalyse berücksichtigte Power-to-Heat Potenzial geht daher proportional zur Entwicklung der KWK-Anlagen zurück.

Tab. 4 In der Szenarienanalyse verwendete Potenziale für Power-to-Heat und Power-to-Gas

5 Ergebnisse

Die Szenarienanalyse spiegelt verschiedene Phasen in der Entwicklung des Stromsystems hin zu 100 % erneuerbaren Energien wider. Das Szenario-Jahr 2020 mit einem EE-Anteil von 40 % repräsentiert die erste Phase. Hier zeigen sich noch keine Kapazitätsdefizite und nur punktuelle EE-Überschüsse. Die bestehenden Flexibilitätsoptionen (Kraftwerkspark und Pumpspeicherkraftwerke) reichen aus, um Erzeugung und Verbrauch auszugleichen. Der EE-Ausbau hängt in dieser Phase nicht von einem parallel stattfinden Aufbau neuer Flexibilitätsoptionen ab. Neue Flexibilitätsoptionen treten somit vorrangig in Konkurrenz zu bestehenden Flexibilitätsoptionen und führen in erster Linie zu einem kosteneffizienteren Einsatz der konventionellen Kraftwerke.

Bei einem EE-Anteil von 60 % (Szenario-Jahr 2030) treten nun sowohl sichtbare Kapazitätsdefizite als auch EE-Überschüsse auf, so dass zusätzliche Flexibilitätsoptionen zur EE-Integration in das Stromsystem benötigt werden (Phase 2). In der dritten Phase zeigt sich bei einem EE-Anteil größer 75 % (Szenario-Jahr 2050) erstmals ein Bedarf für Flexibilitätsoptionen, die auch längere Defizitzeiträume überbrücken können. Die im Szenario-Jahr 2030 relevanten Flexibilitätsoptionen mit einer Speicherkapazität kleiner 24 h sind dafür nicht mehr geeignet und es werden die Flexibilitätsoptionen Power-to-Heat und Power-to-Gas mit zusätzlicher Stromerzeugungskapazität (z. B. Gasturbinen) benötigt.

5.1 Flexibilitätsbedarf in Deutschland

Der Bedarf an Optionen zur Speicherung und Flexibilisierung von Angebot und Nachfrage ist eine zentrale Größe für die Transformation des Stromsystems hin zu erneuerbaren Energien (Bundesregierung 2014). Bei der Modellkopplung und der Modellierung der einzelnen Flexibilitätsoptionen wird in diesem Projektansatz dem Netz eine prioritäre Rolle zugesprochen und untersucht, welchen Beitrag das heutige Netz mit den vorhandenen Kuppelkapazitäten bzw. mit zusätzlichem Netzausbau leisten kann. Dabei wird von einer optimalen Bewirtschaftung der Kuppelkapazitäten ausgegangen.

Der Flexibilitätsbedarf in Deutschland ist in Tab. 5 für das Referenzszenario sowie für das Szenario mit europäischem Netzverbund in der Variante mit minimalem Netzausbau dargestellt. Als nicht-netzseitige Flexibilitätsoptionen werden die bestehenden konventionellen Kraftwerke und Pumpspeicherkraftwerke zum Ausgleich von Erzeugung und Nachfrage eingesetzt. Dabei zeigt sich, dass der Flexibilitätsbedarf von 2020 bis 2050 kontinuierlich zunimmt und im Szenario mit europäischem Netzverbund deutlich kleiner ausfällt als im Referenzszenario. Der zusätzliche Netzausbau entsprechend der im TYNDP ausgewiesenen Projekte bzw. der Fortschreibung des TYNDP bis 2050 leistet somit einen Beitrag zur EE-Integration in Deutschland und in Europa. Ferner wird deutlich, dass der Stromaustausch im europäischen Netzverbund in allen Szenarien und Phasen des Transformationsprozesses eine zentrale Rolle spielt und den Flexibilitätsbedarf stark reduziert.

Tab. 5 Flexibilitätsbedarf in Deutschland

Hinsichtlich des Erzeugungsdefizits tritt im Szenario-Jahr 2020 noch keine nennenswerte Kapazitätslücke auf. Im Szenario-Jahr 2030 zeigt sich dann ein Kapazitätsbedarf von 17 GW (Referenzszenario) bzw. 8 GW (Szenario mit europäischem Netzverbund), allerdings nur in wenigen Stunden. Ein signifikantes Erzeugungsdefizit bei Kapazitätsbedarf und Strommenge wird erst im Szenario-Jahr 2050 bzw. ab einem EE-Anteil von 75 % deutlich (Phase 3).

Auch EE-Überschüsse treten im Szenario-Jahr 2020 nur punktuell auf. Im Szenario-Jahr 2030 liegt im Referenzszenario ein EE-Überschuss von 17 TWh vor, der jedoch größtenteils im Ausland genutzt werden kann (es verbleibt nur noch ein EE-Überschuss von 1 TWh im Szenario mit minimalem Netzausbau). Mit einem Anstieg des EE-Anteils in Deutschland auf 75 % (Szenario-Jahr 2050a) bzw. 97 % (Szenario-Jahr 2050b) nehmen dann auch die EE-Überschüsse im Referenzszenario deutlich zu. Während im Szenario-Jahr 2050a durch den europäischen Netzverbund die EE-Überschüsse in Deutschland auf ein Sechstel sinken, ist im Szenario-Jahr 2050b nur noch eine Reduktion um knapp die Hälfte möglich. Damit zeigt sich auch auf der Seite der EE-Überschüsse die Notwendigkeit für eine Sektorkopplung mittels Power-to-Heat und Power-to-Gas.

Um die Projektergebnisse mit anderen Arbeiten vergleichen zu können, wurden die Ergebnisse von ähnlichen Modellierungsprojekten ausgewertet. Einige Studien beschäftigen sich mit der zukünftigen Entwicklung der Residuallast (IAEW – RWTH Aachen & Consentec 2011; Krzikalla et al. 2013; Schill 2014). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass ein positiver Zusammenhang zwischen dem Anteil erneuerbarer Energien an der Gesamterzeugung und der Überschuss- und Defizitzeiten der Erzeugung besteht, was sich indirekt auch auf den Flexibilitätsbedarf auswirkt (Schaber et al. 2011). Diese Einschätzung deckt sich mit unseren Projektergebnissen.

Neben Optionen im Kraftwerkspark oder auf der Nachfrageseite (Lastmanagement) weist der internationale Ausgleich von Defiziten im europäischen Stromnetz ein großes Potenzial für die Reduktion des Flexibilitätsbedarfs in Deutschland auf (Schaber et al. 2012; Teske 2014). Untersuchungen, die für eine nationale Bilanzierung die Berücksichtigung des europäischen Stromaustausches unterlassen (siehe z. B. (VDE 2012)), kommen zu einem deutlich höheren Erzeugungsdefizit bzw. EE-Überschuss als jene, die die Möglichkeit von Import und Export explizit berücksichtigen (wie z. B. (Schill 2014)). Auch diesen Zusammenhang können wir mit unseren Projektergebnissen bestätigen.

Auch im quantitativen Vergleich mit anderen Studien finden sich Übereinstimmungen mit unseren Projektergebnissen. So errechnen (VDE 2012) einen Kapazitätsbedarf von 55 GW für ein Szenario mit einem Anteil von 80 % erneuerbaren Energien, was mit dem Ergebnis im Referenzszenario 2050a vergleichbar ist (47 GW). Für ein 50 % EE-Szenario mit Berücksichtigung von Import und Export berechnen (IAEW – RWTH Aachen & Consentec 2011) einen Kapazitätsbedarf von 17 GW, was in etwa dem Szenario mit minimalem Netzausbau 2030 (60 % EE-Anteil) entspricht.

Auch für EE-Überschüsse lassen sich bei Berücksichtigung eines möglichen europäischen Ausgleichs ähnliche Werte in der Literatur finden. (Schill 2014) untersucht den Einfluss einer steigenden Einspeisung von fluktuierenden erneuerbaren Energien in das deutsche Stromnetz im europäischen Verbund. Im Bereich der Überschussenergie errechnet dieser für EE-Anteile von 50 und 75 % Überschussmengen von 0,5 TWh und 7,5 TWh. Dies ist mit unseren Ergebnissen in den Szenarien 2030 und 2050a mit minimalem Netzausbau vergleichbar (1 TWh EE-Überschuss bei 60 % EE-Anteil bzw. 11 TWh bei 80 % EE-Anteil).

5.2 Rolle des europäischen Netzverbunds

5.2.1 Netznutzung

In der Fachwelt wird immer wieder kritisiert, dass die Grenzkuppelstellen nicht ausreichend ausgebaut sind bzw. nur suboptimal genutzt werden. Sollte letzteres der Fall sein, wäre durch eine bessere Ausnutzung ein Flexibilitätspotential zu heben. Um dieser Fragestellung nachzugehen, wurden die im Simulationsmodell auftretenden grenzüberschreitenden maximalen Lastflüsse mit den durch ENTSO-E auf der Transparenzplattform angegebenen Lastflüssen (Cross-Border Physical Flow) verglichen (www.entsoe.net). Dabei zeigen sich erhebliche regionale Unterschiede: So sind die Kuppelstellen nach Frankreich vergleichsweise hoch ausgelastet, während die Kuppelstellen mit Polen und der Tschechischen Republik noch deutlich höhere Lastflüsse zulassen würden. Obwohl erhebliche Unsicherheiten durch die Modellannahmen vorliegen, bestätigt die Auswertung die suboptimale Nutzung und lässt auf eine Steigerungsrate von durchschnittlich 30 % durch eine optimierte Netznutzung schließen. Dies entspricht der Größenordnung des geplanten Ausbaus nach dem TYNDP bis 2020.

Die Hebung dieses Potentials wird aktuell durch die Einführung einer lastflussbasierten Marktkopplung vorangetrieben. Weiterhin ist eine bessere Kooperation der europäischen Übertragungsnetzbetreiber zu empfehlen und schließlich kann durch einen Netzausbau aufgrund der N-1-Sicherheit eine höhere Auslastung und damit Nutzung der bestehenden Trassen erfolgen.

5.2.2 Netzausbau

Neben einer besseren Nutzung der bestehenden Netze sind der notwendige Ausbau sowie die Rolle der Netze zentrale Themen im Zusammenhang mit dem EE-Ausbau.

Abbildung 4 zeigt den Zusammenhang zwischen der Abregelungsquote und dem Netzausbau für die drei Netzausbauszenarien „ohne Netzausbau (2012er Netz)“, „minimaler Netzausbau nach TYNDP“ und „maximaler Netzausbau (modellendogener Zubau)“ sowie für verschiedene Zeitpunkte mit unterschiedlichen Anteilen erneuerbarer Energien. Der im TYNDP für Deutschland festgeschriebene Netzausbau beruht dabei auf dem jährlich von der Bundesnetzagentur veröffentlichten Netzentwicklungsplan Strom, dessen Methodik unter anderem auf die zweite veröffentlichte Netzstudie der dena von 2010 zurück geht (DENA 2010).

Abb. 4
figure 4

Abregelung versus Netzausbau für verschiedene Netz- und EE-Ausbauszenarien. (eigene Darstellung, Energynautics GmbH)

Es zeigt sich, dass ohne Netzausbau eine hohe Abregelungsquote zu erwarten ist, da der erzeugte Strom von windstarken Standorten aufgrund von Netzengpässen nicht abtransportiert werden kann.

Dagegen reicht der TYNDP aus, um bei moderaten EE-Anteilen die Abregelungsquote auf akzeptable Werte von unter 5 % zu reduzieren. Erst bei Annäherung an die 100 % Quote (Szenario 2050 b) ist ein deutlicher Anstieg der Abregelungsquote zu erkennen.

Möchte man dies vermeiden, ist ein weiterer deutlicher Netzausbau über den TYNDP hinaus notwendig, der bei etwa dem Dreifachen des bis 2050 extrapolierten Ausbaus im TYNDP liegt und daher als unrealistisch hoch anzusehen ist.

Um die Rolle der Netze im Hinblick auf die Integration erneuerbarer Energien zu beurteilen, wurde eine Analyse der Lastflussberechnungen hinsichtlich deren Zusammensetzung aus konventioneller und erneuerbarer Erzeugung durchgeführt. Dabei kam als Allokationsmethode das Verfahren der „Average Participation“ (Bialek 1997) zur Anwendung. Abbildung 5 zeigt die Zusammensetzung der nach Deutschland importierten und von Deutschland exportierten elektrischen Energie in den jeweiligen Szenario-Jahren.

Abb. 5
figure 5

Exportierte und Importierte Jahresenergie aus EE und konventioneller Erzeugung in Abhängigkeit des EE-Anteils im Szenario minimaler Netzausbau. (eigene Darstellung, Energynautics GmbH)

Bis zu einem EE-Anteil in Deutschland von 75 % ist ein stetiger Anstieg des exportierten Stroms aus erneuerbaren Energien in Deutschland zu beobachten, danach tritt eine Stagnation ein. Demgegenüber steigt die importierte Strommenge aus erneuerbaren Energien in Europa erst ab 2030 an. Beide Effekte sind auf den stetigen EE-Ausbau sowie dessen unterschiedliche Geschwindigkeit in Deutschland und in Europa zurückzuführen.

Der Export konventioneller Energie wird mit der Reduktion der installierten Leistung konventioneller Stromerzeuger bis 2050 auf Null zurückgefahren, demgegenüber ist der Import nur leicht sinkend bzw. die maximale Importleistung sogar leicht ansteigend. Deutschland profitiert daher in Zeiten europaweit geringer EE-Erzeugung von ausländischen konventionellen Kraftwerken.

Insgesamt lässt sich auf Grundlage der Ergebnisse feststellen, dass auch bei einem europaweit hohen Anteil erneuerbarer Energien das Netz eine wichtige Rolle als räumliche Flexibilitätsoption zum Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch spielt. Zudem wird aber auch ein Bedarf für nicht-netzseitige Flexibilitätsoptionen sichtbar.

5.2.3 Rolle der nicht-netzseitigen Flexibilitätsoptionen in Deutschland

Im Projekt wurde angenommen, dass zunächst der Flexibilitätsbedarf durch den Einsatz des europäischen Netzes sowie durch eine Verstetigung der EE-Einspeisung verringert wird, und erst dann die innerdeutschen Flexibilitätsoptionen zum Zuge kommen, um den verbleibenden Flexibilitätsbedarf zu decken. Dabei geht es einerseits um Optionen, die sowohl einen Beitrag zur Reduktion der maximal fehlenden Erzeugungsleistung leisten können als auch für die Nutzung von EE-Überschüssen relevant sind. Dies betrifft vor allem Speicher, Lastmanagement und die Flexibilisierung von Biogasanlagen mittels Gasspeicherung und zusätzlicher BHKW-Kapazität.

Auf der anderen Seite stehen Optionen, die dazu dienen können, überschüssige EE-Erzeugung aufzunehmen. So leistet die Flexibilisierung von KWK-Anlagen mittels Wärmespeichern und elektrischen Wärmequellen vor allem einen Beitrag zur Minimierung der Grenzkosten im Kraftwerkspark sowie zur Systemintegration erneuerbarer Energien. Die Stromerzeugung wird dadurch ein Stück weit von der Wärmenachfrage entkoppelt und soweit möglich in Zeiten mit geringen Strompreisen reduziert und in Zeiten mit hohen Strompreisen verschoben. Im Falle eines Erzeugungsdefizits werden große KWK-Kraftwerke mit der Möglichkeit zur Kühlung überschüssiger Wärme bereits mit voller Leistung eingesetzt, so dass deren Flexibilisierung keinen Beitrag zur Deckung einer Kapazitätslücke leisten kann. Lediglich Erdgas-BHKW ohne Notkühlung können mit Hilfe eines Wärmespeichers auch einen Beitrag zur Deckung der maximal fehlenden Erzeugungsleistung leisten. Power-to-Heat und Power-to-Gas sind in erster Linie zusätzliche Stromverbraucher und stellen ebenfalls keine zusätzliche Erzeugungsleistung bereit (es sei denn, es werden parallel dazu auch entsprechende Gaskraftwerke zugebaut).

Es zeigt sich, dass einige Optionen die maximal fehlende Erzeugungsleistung in einem relevanten Ausmaß reduzieren können (Abb. 6). Dies betrifft insbesondere den Zubau an Pumpspeicherkraftwerken als auch Lastmanagement in der Industrie und im Gewerbesektor. Im Gegensatz zu Pumpspeicherkraftwerken ist das Flexibilitätspotenzial von Lastmanagementoptionen zeitabhängig und hängt von ihrem Lastprofil ab, so dass Lastmanagementoptionen meist nicht genau dann ihr gesamtes Potenzial zur Verfügung stellen können, wenn im Gesamtsystem die meiste Erzeugungsleistung fehlt.

Abb. 6
figure 6

Reduktion der maximal fehlenden Erzeugungsleistung durch ausgewählte Flexibilitätsoptionen im Szenario 2030. (eigene Darstellung, Öko-Institut e. V.)

Im Szenario 2030 können im Referenzszenario (d. h. ohne zusätzliche Flexibilitätsoptionen) rund 30 TWh des innerdeutschen EE-Angebots nicht genutzt werden. Werden Starkwindanlagen teilweise durch Schwachwindanlagen und PV-Anlagen mit Südausrichtung teilweise durch Ost-West-ausgerichtete PV-Anlagen ersetzt, so reduzieren sich die EE-Überschüsse um rund 8 TWh. Wird zusätzlich auch der Stromaustausch zwischen Deutschland und den europäischen Nachbarländern auf der Basis des heutigen Netzes zugelassen (Modellkopplung), so reduzieren sich die Überschüsse um weitere 3 TWh. Einen besonders großen Beitrag zur Nutzung der innerdeutschen EE-Überschüsse im europäischen Netzverbund in Höhe von 16 TWh leistet der Netzausbau nach dem TYNDP (Szenario 2030 mit minimalem Netzausbau). Dies ist auch eine Folge des geringeren EE-Anteils in Europa im Vergleich zum EE-Anteil in Deutschland, so dass EE-Strom aus Deutschland konventionelle Stromerzeugung im europäischen Netzverbund substituiert. Für die nicht-netzseitigen Flexibilitätsoptionen in Deutschland verbleiben damit noch rund 3 TWh EE-Überschüsse (Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

Rückgang der EE-Überschüsse durch ausgewählte Flexibilitätsoptionen im Szenario 2030. (eigene Darstellung, Öko-Institut e. V.)

Diese EE-Überschüsse werden zumindest anteilig durch die einzelnen Flexibilitätsoptionen genutzt. Insbesondere die Potenziale bei Pumpspeicherkraftwerken und durch die flexible Beladung von Elektromobilen können einen Großteil des nicht genutzten EE-Angebots nutzen. Power-to-Heat und Power-to-Gas können im Szenario 2030 das nicht genutzte EE-Angebot größtenteils in Wärme oder Wasserstoff bzw. synthetisches Methan umwandeln und somit fossile Brennstoffe im Wärme- oder Gassektor ersetzen.

Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass neben einer möglichst vollständigen Nutzung der EE-Überschüsse auch die Effizienz der Nutzung relevant ist. So können beispielsweise mit Wärmepumpen als zusätzliche elektrische Wärmequelle EE-Überschüsse effizienter genutzt werden als mit elektrischen Heizstäben. Das verbleibende EE-Angebot steht dann noch für weitere Verwendungen zur Verfügung.

Auch im Szenario 2050a mit einem EE-Anteil von 75 % lässt sich feststellen, dass der europäische Netzverbund große Teile des Erzeugungsdefizits in Deutschland abdecken kann. Das verbleibende Leistungsdefizit in Höhe von 14 GW kann durch ein Bündel von nicht-netzseitigen Flexibilitätsoptionen (Lastmanagement in der Industrie und im Gewerbe, Nutzung des Potenzials für neue Pumpspeicherwerke, Flexibilisierung von Elektrofahrzeugen sowie der Zubau von Wärmespeichern bei BHKW) gedeckt werden.

Steigt der EE-Anteil auf über 90 % im Szenario 2050b an, können nicht-netzseitige Flexibilitätsoptionen das verbleibende Leistungsdefizit von 25 GW nur um maximal 10 GW reduzieren, so dass eine fehlende Erzeugungsleistung von 15 GW verbleibt. Der Grund für diesen Sockel liegt neben der potenzialseitigen Restriktion vor allem an einer zweiwöchigen Windflaute bei gleichzeitig hoher Last im Szenariojahr. Die Speicherkapazität der nicht-netzseitigen Flexibilitätsoptionen reicht in diesem Zeitraum nicht aus, um den gesamten Defizitzeitraum zu überbrücken, so dass ein Bedarf für Langzeitspeicher in dieser Größenordnung besteht. Diese Rolle können Power-to-Gas und Power-to-Heat in Kombination mit zusätzlich installierten Gaskraftwerken übernehmen.

6 Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse der Modellkopplung zeigen die bedeutende Rolle des Netzes und des überregionalen Stromaustausches auf. Schon die heute nutzbaren Kuppelkapazitäten können insbesondere bei einer optimierten Betriebsweise einen wesentlichen Beitrag leisten, um in Deutschland zeitweise fehlende Kapazität mit ausländischen Kapazitäten zu decken. Aber auch nicht nutzbare EE-Überschüsse im Inland können über das Netz im Ausland genutzt werden und konventionelle Stromerzeugung verdrängen. Weiter wird ein räumlicher Ausgleichseffekt der EE-Einspeisung durch das Netz sichtbar, welcher zu einer weiteren Reduktion des Flexibilitätsbedarfs führt. Die optimale Nutzung dieses Potenzials setzt jedoch einen gut funktionierenden europäischen Binnenmarkt voraus.

Es zeigt sich weiter, dass mit zunehmenden EE-Anteilen und stagnierendem Netzausbau eine hohe Abregelungsquote innerhalb der EU-Mitgliedstaaten zu erwarten ist. Insbesondere der erzeugte Strom von windstarken Standorten kann aufgrund von Netzengpässen nicht abtransportiert werden. Ein Netzausbau auf der Basis des TYNDP bzw. dessen Fortschreibung (Szenario minimaler Netzausbau) reicht jedoch aus, um bei EE-Anteilen bis 75 % die Abregelungsquote auf Werte von unter 5 % zu reduzieren.

Der verbleibende Flexibilitätsbedarf ist dann durch nicht-netzseitige Flexibilitätsoptionen in Deutschland zu decken. Hier bieten sich vor allem solche Optionen an, die besonders geringe Verluste aufweisen (z. B. Lastmanagement) und die EE-Überschüsse nutzen können, um Erzeugungsdefizite zu decken.

Die Koppelung des Stromsystems mit anderen Sektoren (Erdgas oder Wärme) führt zu einer weiteren Nutzung von EE-Überschüssen in einem europäischen Stromsystem mit hohen EE-Anteilen. Einen Nutzen in Bezug auf die Reduktion fehlender Erzeugungsleistung ist jedoch erst beim Bau zusätzlicher Gaskraftwerke gegeben.

Abschließend lässt sich feststellen, dass sich der europäische Netzverbund und nicht-netzseitige Flexibilitätsoptionen bei der Systemintegration erneuerbarer Energien ergänzen und in den verschiedenen Phasen der Transformation des Stromsystems einen jeweils spezifischen Beitrag leisten.