Zusammenfassung
Die Diskussionen um die sog. individualisierte Medizin, ihre Chancen, Möglichkeiten und Visionen prägen die aktuellen Debatten um die Zukunft von Medizin und Gesundheitssystem. Neben der prinzipiellen Nachfrage, was eigentlich Gegenstand einer solchen individualisierten Medizin sei, gibt es immer wieder auch ethische Bedenken und Rückfragen, die gegen die sog. individualisierte Medizin ins Feld geführt werden. Diese kritischen Rückfragen wie auch Herausforderungen und Chancen der individualisierten Medizin werden aus ethischer Perspektive beleuchtet. Dabei ist zu konstatieren, dass es in der individualisierten Medizin vorrangig darum geht, die aktuellen Entwicklungen in einem ethischen Assessment zu begleiten, es aber aktuell keine ethischen Argumente gibt, die per se gegen eine weitere Forschung in diesem Bereich sprechen.
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„Individualisiert“, „personalisiert“ oder „maßgeschneidert“: Die Wahl der Um- und Beschreibungen für den (vermeintlich) neuen Ansatz in der Medizin oszilliert und weckt sowohl hoffnungsvolle Erwartungen als auch manch skeptischen Blick. Trotz immer weiterer Definitionsversuche in den unterschiedlichsten Disziplinen und erster Erfolge, vor allem in der Onkologie, konnte bisher kein Vorschlag breite Akzeptanz erreichen [1]. So bleibt oftmals unklar, was konkret mit der sog. individualisierten Medizin gemeint ist [2]Footnote 1. Vor dem Hintergrund einer solchen Deutungsunschärfe und aktuell stark divergierender Szenarien zu den Fragen, welche Auswirkungen der Ansatz einer sog. individualisierten Medizin auf den einzelnen Patienten, das Verhältnis der Patienten zu ihren Ärzten wie auch auf die Fortentwicklung des Gesundheitssystems insgesamt haben wird, ist auch die Ethik gefragt, Risiken wie Entwicklungschancen abzuwägen. Eine solche Einschätzung wird im Folgenden an sieben im Diskurs befindlichen ethischen Herausforderungen rund um die sog. individualisierte Medizin im Sinne eines „vision assessment“ [3] von neuen Technologien und biomedizinischen Trends skizziert.
Individualisierte Medizin – in den Fangnetzen der Sprachpolitik?
Will die sog. individualisierte Medizin mehr sein als die Konstatierung eines Mangels an Patientenorientierung im klinischen Alltag, muss geklärt werden, worauf sich die Individualisierung oder Personalisierung eigentlich bezieht. Dies gilt vor allem dann, wenn der Individuumsbezug über Biomarkerdifferenzierungen [2]Footnote 2 und damit primär über die naturwissenschaftlich verfeinerte, nicht aber über die verstärkt geforderte sog. sprechende Medizin aufgebaut wird. Die Okkupation des Terminus „Personalität“ für naturwissenschaftliche Differenzierungsverfahren ist zumindest missverständlich. Denn Personalität entwickelt sich nach einem breiten Strom der theologischen, philosophischen und psychologischen Tradition [4]Footnote 3 nur im sozialen Miteinander. Personalität und Kommunikation im Gegenüber zu anderen bedingen sich gegenseitig. Folglich muss besonders der Begriff „personalisierte Medizin“ als unglücklich angesehen werden, so darunter nicht eine dialogorientierte, sondern eine auf verfeinerte biomedizintechnische Verfahren setzende Medizin verstanden wird.
Der Verzicht auf das Epitheton „personalisiert“ und der alternative Rückgriff auf die Bezeichnungen „maßgeschneidert“ oder „individualisiert‘ hat aber das Problem, dass von einer echten individualisierten Medizin im Sinne einer passgenauen Medizin für jeden einzelnen Patienten unter Beachtung der biomedizinischen sowie ökonomischen Fakten aktuell nicht die Rede sein kann [5]. Biomedizinisch hat zwar die Sequenzierung und Kartierung des menschlichen Genoms einen Einstieg in die molekulare Medizin eröffnet, jedoch ist mittlerweile deutlich, wie extrem komplex die Vernetzungen innerhalb des Genoms sowie zwischen Genom, intraorganismischem Umfeld und extraorganismischer Umwelt sind. In diesem Zusammenspiel eine passgenaue Individualisierung von Diagnostik und Therapie zu erreichen, ist äußerst diffizil, zeitaufwendig und kostspielig. So müssten nicht nur die entsprechenden Abschnitte des individuellen Genoms sequenziert werden, was trotz fallender Kosten noch als zu hochpreisig gilt [6]Footnote 4, sondern auch andere Lifestylefaktoren beständig überprüft und in ihrer zeitlichen Veränderung beobachtet werden. Die Etablierung eines solchen Vorgehens in der Breite einer öffentlichen Gesundheitsversorgung erscheint aktuell ökonomisch weder vor- noch darstellbar, sodass das Versprechen einer echten Individualisierung in Bezug auf den aktuellen Forschungsstand zu vollmundig ist und letztendlich nur enttäuschen kann.
Realistischere Termini wie „stratifizierende“ Medizin sollten präferiert werden
Will man also auf entsprechende Terminologien verzichten, ohne damit die Idee einer passgenaueren Medizin mit besseren therapeutischen Effekten und geringeren Nebenwirkungen aufzugeben, bietet es sich an, auf der Sprachebene bescheidenere, aber realistischere Alternativen wie „stratifizierte“ oder „stratifizierende“ Medizin zu präferieren [7]. Für ein solches, sich weniger in den Fängen der Sprachpolitik verirrendes Vorgehen sprechen dabei auch viele Ergebnisse aus der Vertrauensforschung. So ist die Generierung von öffentlichem Vertrauen in eine neue, komplexe technologische Entwicklung dann am nachhaltigsten, wenn eine realistische Erwartungshaltung lanciert wird [8]. Bei einer solchen Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse und Vorhaben ist dabei der Komplexität der Materie Rechnung zu tragen und trotz großen finanziellen und ideellen Ressourceneinsatzes auf das Risiko möglichen Scheiterns hinzuweisen. Wenn die Vision (als realistische) gegenüber der gegenwärtigen Situation einen komparativ besseren Nutzen in Aussicht stellt, mag sich dieser Prozess trotz eines möglicherweise steinigen Weges gesellschaftlich lohnenFootnote 5. Da im Diskurs bislang der Terminus der individualisierten Medizin präferiert wird und es in diesem Artikel um die aktuellen ethischen Herausforderungen gerade dieses Phänomens geht, wird die aufgezeigte Irritation im Terminus durch den Rückgriff auf die Begrifflichkeit „sog. individualisierte Medizin“ angezeigt.
Individualisierte Medizin – eine neue Herausforderung für die Ethik?
Eingedenk einer solchen kritisch zu dekonstruierenden Sprachpolitik der sog. individualisierten Medizin ist zu eruieren, ob es in diesem Bereich überhaupt wirkliche ethische Probleme gibt bzw. ob diese ggf. gegenüber bisher diskutierten Fragen neu sind. Bringt man die in weiten Teilen der westlichen Kultur als Standard erachteten vier Kriterien der biomedizinischen Ethik – Autonomierespekt, Nichtschaden, Wohltun und Gerechtigkeit, und es sei ergänzt: Nutzen – in Anschlag [10], dann scheinen sich zumindest mit Blick auf die Zielvision der sog. individualisierten Medizin nicht nur wenige Konflikte einzustellen, sondern die Vision erscheint sogar ethisch als besonders wertvoll, sie umzusetzen geradezu als geboten. Die Kategorisierung, etwas für geboten zu erachten, ist wiederum das stärkste Proargument, das in diesem Fall vonseiten der Ethik angeboten werden kann. Für eine solch normative Befürwortung der sog. individualisierten Medizin spricht, dass zumindest alle Dimensionen ihrer idealen Zielvision – nämlich die genauere Bestimmung von Therapien, die Vermeidung unangemessener und schädlicher Behandlungen wie auch die Erkennung und Vermeidung von Gesundheitsrisiken, die sich durch Ernährung oder Expositionen ergeben – den genannten Kriterien der biomedizinischen Ethik entsprechen.
Die individualisierte Medizin als Gefahr für die Arzt-Patienten-Beziehung?
Einer solchen grundlegend positiven ethischen Bewertung der sog. individualisierten Medizin werden jedoch auch einige Vorbehalte entgegengestellt. Neben den bereits erwähnten möglicherweise zu hohen Erwartungen [11], zielt die Skepsis vor allem auf die Konsequenzen für das Arzt-Patienten-Verhältnis: „Die individuelle [sic!] Medizin darf trotz aller Chancen und Möglichkeiten den Menschen nicht aus den Augen verlieren“ [11]. Dies könne u. a. dadurch geschehen, dass der Arzt, unter dem Druck, mehr und mehr naturwissenschaftlich-technisches Wissen in seine Praxis zu integrieren und sich dabei von diesen Standards sogar vorrangig bestimmen zu lassen, vergäße, primär Partner des Patienten im Ringen um dessen Gesundheit zu sein. Gegen eine solche Argumentation ist anzuführen, dass der Einsatz von medizinischer Spitzentechnologie, insbesondere wenn sie die medizinische Versorgung nachhaltig verbessert, einem partnerschaftlichen Verhältnis von Arzt und Patient im Prinzip überhaupt nicht widerspricht, sondern im Gegenteil sogar Freiräume für eine verbesserte Kommunikation in diesem Nukleus des Medizinsystems schaffen kann. Dass dies oftmals nicht umgesetzt wird, ist eine gesellschaftliche, konkret gesundheitspolitisch gewollte oder zumindest in Kauf genommene Fehlallokation von Ressourcen [12] – so man die Bedeutung der Face-to-Face-Kommunikation sowohl für die Salutogenese von Patienten als auch für die Arbeitszufriedenheit von im Gesundheitssystem Beschäftigten beachtet [13]. Aus einer solchen Beobachtung lässt sich somit nicht begründen, dass die medizinische Forschung und Technikentwicklung abzubrechen sei und per se einen tiefgreifenden Eingriff in die Arzt-Patienten-Beziehung darstelle. Stattdessen gilt es, die Ärzte einhergehend mit der Entwicklung einer neuen Technologie für deren Anwendung auszubilden und Rahmenbedingungen zu schaffen, gleichzeitig die sprechende Medizin mehr zu würdigen [14, 15].
Verstärkt die individualisierte Medizin die sozioökonomischen Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem?
Eine weitere Befürchtung ist, dass die sog. individualisierte Medizin das Potenzial besitze, „vorhandene sozioökonomische Ungleichheiten im Gesundheitssystem zu verschärfen“ [16], da sie knappe finanzielle Ressourcen von konkurrierenden Projekten abziehe und eventuell vielversprechenderen Projekten vorenthalte. Sicherlich geben mögliche Gewinnerwartungen der Pharmaindustrie, die sich mit der sog. individualisierten Medizin verbinden lassen, Anlass zu sozialethischer Diskussion – vor allem mit Blick auf das Kriterium der Gerechtigkeit. So nehmen die Fragen, ob es im Rahmen dieser biotechnologischen Entwicklung zum Einsatz der vielfach kritisierten Biopatentierungen kommt [17] oder die sog. individualisierte Medizin den Graben in der Gesundheitsversorgung – zwischen Arm und Reich innerhalb der entwickelten Länder und zwischen diesen und den (noch) in der Entwicklung befindlichen Ländern – vertieft, in einem ethischen Assessment der sog. individualisierten Medizin einen gewichten Platz ein. Zugleich gilt aber auch hier, dass fernab aller Kritik der Sprachpolitik, solche Einwände die sog. individualisierte Medizin nicht exklusiv treffen, sondern auf medizinische Spitzenversorgungen in den entwickelten Ländern überhaupt bezogen werden können. Vielmehr ist zu konstatieren, dass das lancierte Ziel der sog. individualisierten Medizin in Konvergenz mit der Forderung nach einer Beseitigung der Fehlallokationen im Gesundheitssystem, beispielsweise durch nichtstratifizierte Medikamentengabe, steht. Die notwendigen finanziellen Anstrengungen im Bereich der Ärztefortbildung zum Umgang mit den neuen Technologien, verbunden mit der Anfrage, inwieweit es durch solche Anstrengungen zu einer Mittelumverteilung im Gesundheitssystem kommt, stellen keinen grundlegenden ethischen Einwand gegen die Zielvisionen der sog. individualisierten Medizin dar, sondern müssen im Laufe der weiteren Entwicklung diskursiv begleitet werden.
Die Mär in der Rede von der „genetischen Risikoperson“
Die Kritik an einer biomarkerbasierten Medizin im Allgemeinen und einer genombasierten Medizin im Besonderen kumuliert in der These, dass der Einsatz genombasierter Diagnostik zur Geburt der sog. „genetischen Risikoperson“ führe [18]. Diese zeichne sich dadurch aus, 1) dass sich die Figur des „genetischen Schicksals“ zugunsten einer zunehmenden, dem Individuum oktroyierten Kalkulation und Kontrolle über den eigenen, mit genetischen Risiken behafteten Körper verabschiedet. Infolgedessen komme es 2) zu einer Verschiebung von einer sozioökonomischen Verhältnisprävention zu einer auf die Eigenverantwortung der Individuen setzenden Verhaltensprävention, die sich an der genetisch riskanten eigenen Körperausstattung zu orientieren habe und 3) die Menschen in einem „Niemandsland zwischen Gesundheit und Krankheit“ zurücklasse [18]. Durch eine solche Verschiebung hin zu einer zunehmenden Verantwortungsattribution auf das für seine genetische Disposition verantwortliche Individuum wird fehlende Gesundheit als selbstverschuldet gebrandmarkt, ohne dass der Einzelne die entsprechenden Ressourcen selbstverantwortlichen Entscheidens und Handelns besitze.
Durch genomisches Wissen lässt sich die eigene Gesundheit nicht selbstverantwortlich gestalten
Entscheidend ist jedoch zu fragen, ob solche Szenarien zwingend mit der Anwendung einer biomarkerbasierten Medizin verknüpft sind. Auf der Sachebene wird zum einen die mögliche Eingriffstiefe von nichtgenetischen Biomarkertests für die Lebensführung, das eigene Identitätsgefühl oder mögliche Diskriminierungen und Stigmatisierungen unterschätzt. So kann ein positiver Aidstest gravierendere Konsequenzen nach sich ziehen als ein wenig aussagekräftiger Gentest für eine multifaktorielle Erkrankung. Die aktuellen Ergebnisse der Genomforschung zeigen, dass zwischen Gen, Maß und Ausprägung genomischer Effekte intra- und extraorganismische Umwelten, Verhalten, Ernährung und Expositionen zu berücksichtigen sind. Wenn dem so ist, müssen auch die vermeintlichen Risiken, die sich aus der vermeintlich zunehmenden Relevanz genomischen Wissens nicht nur für die Medizin, sondern auch für die Lebensführungspraxis der Menschen ergeben, kontextualisiert und dies heißt im Effekt, als weniger bedeutend als früher gedacht eingestuft werden. Man kann also bestenfalls von der oftmals festzuhaltenden Besonderheit, aber keineswegs von der Exzeptionalität genetischen Wissens sprechen. Eine solche Besonderheit ist dabei lediglich angesichts der gesellschaftlichen Wahrnehmung und dem öffentlichem Umgang mit diesen Daten, nicht aber aus den biowissenschaftlichen Charakteristika dieser Daten zu konstatieren. Daraus folgt: Wenn das Wissen um die begrenzte Bedeutung des Genoms auch in den Verbreitungskanälen von Medien, Bildung, Recht, Wissenschaft und Politik stärker transportiert würde, könnte die Vorstellung, man könne durch genomisches Wissen die eigene Gesundheit durchgängig selbstverantwortlich gestalten, als Zerrbild zurückgewiesen werden. Entsprechende Aufklärung wäre ethisch sinnvoller als mit dunklen Visionen von der aufgrund genetischen Wissens drohenden Selbstverschuldung von Krankheiten einen wissenschaftlich ungedeckten genetischen Exzeptionalismus zu perpetuieren.
Die aktuelle Rechtslage
Neben der Frage nach dezidiert ethischen Problemstellungen der sog. individualisierten Medizin ist auch die Rechtslage in den Blick zu nehmen. So findet die Forschung der biomarkerbasierten Medizin nicht im luftleeren Raum statt, sondern kann sich – jedenfalls in Deutschland, Europa und fast allen entwickelten Ländern – auf etablierte menschen- und bürgerrechtliche Standards stützen [19]. Diskriminierungen aufgrund genetischer Merkmale werden von der UN über die europäische Antidiskriminierungsrichtlinie bis hin zum Grundgesetz und zum Antidiskriminierungsgesetz rechtlich verurteilt. Richtig ist zwar, dass man sehr genau beobachten muss, ob sich gesellschaftlich ein Geist untergründig breit macht, der diesem einhelligen und eindeutigen Normengefüge zuwiderläuft [20], und ob ggf. interveniert werden muss. Dennoch müssen und können die vorhandenen rechtlichen Schutz- und Teilhabestandards, die sicher – wie gegenwärtig die Versuche der Umsetzung der sog. UN-Behindertenrechtskonvention zeigen – noch soliderer Implementierungsstrategien bedürfen, als eine wichtige und absehbar vorerst stabile kulturelle Errungenschaft angesehen werden, die jede eilfertige und verfallsgeschichtliche Dramatisierung genetischer Diskriminierungsregime in das Reich der Fantasie verweist. Als konkrete Herausforderung, die in der weiteren Implementierung der sog. individualisierten Medizin von Bedeutung sein wird, gilt es zum einen, die bestehenden Konsensmodelle so zu modulieren, dass genomische Untersuchungen wie auch die grundsätzliche Verwendung der gesammelten Daten nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Patienten erfolgen dürfen [21]. Dabei ist auf die Kohärenz zu bestehenden prozeduralen Vorgaben im Umgang mit Patientendaten zu achtenFootnote 6. Zum anderen geht es darum, den datenschutzrechtlichen Umgang mit den in Biobanken gesammelten Personendaten, deren Aufbau und Erweiterung die Voraussetzung für den Erfolg der sog. individualisierten Medizin sein wird, mit einem kritisch-fachlichen Monitoring zu begleiten und die bestehenden Regelungen auf ihre Angemessenheit hin kontinuierlich zu untersuchen [22].
Eigenverantwortung und Solidarität
Dabei ist sehr genau zu beobachten, inwieweit in der stratifizierenden Präzisierung von Therapien wirklich der ganze Mensch als Person im Blick behalten wird. Entsprechend wird sich die ethische Bewertung der sog. individualisierten Medizin auch daran orientieren, ob dieser medizinische Ansatz in seiner weiteren Entwicklung zu einer Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten beiträgt. Eine faire Chancengleichheit bildet wiederum die Grundlage des breit konsentierten sozialtheoretischen Versprechens westlicher Freiheitslehre. Eigenverantwortung und gelebte, zur Eigenverantwortung befähigende Solidarität, sind damit unmittelbar aneinandergeknüpft und bedingen sich gegenseitig. Wo Freiheit derartig grundiert ist, sodass alle, eben auch die Schwächsten, zur realen gesellschaftlichen Teilhabe befähigt werden [23], möglicherweise eben auch durch sog. individualisierte Medizin, da ist der Ruf nach mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen nicht nur legitim, sondern ebenso notwendig. Eine solche Befähigung muss dann intensiv und extensiv nach alters-, schichten-, gender- und ethniensensiblen Differenzierungen vorbereitet und durchgeführt werden. Wo sie nur pro forma behauptet wird, da verliert auch der ansonsten legitime Ruf nach Eigenverantwortung seine ethische Berechtigung. Der Erfolg der sog. individualisierten Medizin – wie auch der Erfolg des ethischen Assessments – wird sich daran messen lassen müssen, inwieweit es gelingt, zu diesem Herzstück westlicher Kultur einen Beitrag zu leisten.
Fazit
Die sog. individualisierte Medizin wirft in ihrer ethischen Betrachtung keine gänzlich neuen Fragen auf, richtet im Zuge der weiteren Entwicklung aber noch einmal den Blick auf die Fragen, wie wir als Gesellschaft die begrenzten Ressourcen im Gesundheitssystem allozieren und priorisieren wollen, wie eine inklusive Konzeption von Eigenverantwortung und Solidarität entwickelt und gelingend gestaltet werden kann und durch welche (Ausbildungs-)Maßnahmen der Umgang mit neuen (bio-)technologischen Entwicklungen im klinischen Alltag gewinnbringend für die Arzt-Patienten-Beziehung gestaltet werden kann. Dabei bieten die aktuellen rechtlichen Regelungen im Umgang mit den Herausforderungen der biomarkerbasierten Medizin einen adäquaten Rahmen, der in ihrer fortlaufenden Entwicklung (weiter) mit Leben zu füllen ist.
Notes
Darin wird provisorisch individualisierte Medizin funktional definiert als „eine mögliche künftige Gesundheitsversorgung …, die aus dem synergistischen Zusammenwirken der drei Treiber ‚Medizinischer und gesellschaftlicher Bedarf’, ‚Wissenschaftlich-technische Entwicklungen in den Lebenswissenschaften‘ und ‚Patientenorientierung‘ entstehen könnte“.
Im Kontext der individualisierten Medizin wird insbesondere an die Genom- und Postgenomforschung, die molekulare medizinische Forschung und die zellbiologische Forschung die Erwartung gerichtet, eine Wissens- und Technologiebasis bereitzustellen, von der aus verbesserte Diagnose-, Therapie- und Präventionsmöglichkeiten entwickelt werden können.
Anders dagegen ist der Personbegriff in der angelsächsischen Tradition konnotiert, hier hat er vor allem eine Bewusstseins- und Eigentumsfokussierung. Obwohl diese Konnotationen zunehmend an Bedeutung gewinnen, behalten die genannten dialogorientierten ihre Plausibilität, die ohne Zweifel jedoch wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu heben sind.
Dabei bleibt auch abzuwarten, inwieweit die Visionen der Synthetischen Biologie, die Entwicklung der sog. individualisierten Medizin maßgeblich voranzutreiben, verwirklichbar sind.
In diese Richtung lassen sich die Zahlen des jüngsten Eurobarometers zu Einstellungen der europäischen Bevölkerung zu Biotechnologien lesen, wonach bei deutlich zu erhöhendem Kenntnisstand nahezu die Hälfte der repräsentativ befragten Europäer bereit wäre, Daten und Proben für Biobanken, die ja die Voraussetzung für eine stratifizierte Medizin darstellen, zu spenden. Vgl. [9].
Die Forderung nach einer abhängig vom jeweiligen Forschungsvorhaben stetig zu erneuernden Zustimmungspflicht vonseiten der Patienten würde zum einen de facto ein Ende der Biobankenforschung bedeuten und zum anderen hinterrücks doch wieder einen genetischen Exzeptionalismus einführen.
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Interessenkonflikt
Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Mitglied im Deutschen Ethikrat, in der European Group on Ethics sowie Vorstandsmitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.
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Dabrock, P., Braun, M. & Ried, J. Individualisierte Medizin. Forum 27, 209–213 (2012). https://doi.org/10.1007/s12312-012-0778-8
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